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Ausgabe:

1989

Spalte:

528-531

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Fälschungen im Mittelalter 1989

Rezensent:

Haendler, Gert

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527

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 7

528

Diese Arbeit stellt sich selbst in den Zusammenhang der Diskussionen
um die christliche Mission unter Juden, die in den letzten Jahren
erneut in Gang gekommen sind. Sie bezeichnet das Verhältnis von
historischer Objektivität und theologischer Bewertung als „besonders
heikle Gratwanderung" (S. 3), denn auch eine historische Arbeit setzt
sich in der mehrfach belasteten Diskussion um den Anteil der Christenheit
am Schicksal der Juden in Europa schnell dem Verdacht aus,
Argumente für die eine oder die andere Seite zu liefern. F. stellt fest:
„Gerade wenn wir Christen uns der eigenen Tradition gegenüber
kritisch entgegenstellen wollen, muß diese zuerst klar herausgearbeitet
werden, damit man dann abwägen kann, welche Traditionen überwunden
'werden müssen und an welche - vielleicht verschüttete, erst
wieder freizulegende - heute neu angeknüpft werden kann" (S. 4).

Methodisch stellt sich die Arbeit in strenger Weise diesem Anspruch
. Sie legt ihr Schwergewicht auf die möglichst weiträumige und
genaue Untersuchung von Texten. Ausgangspunkt ist die in der Forschung
mehrfach vertretene These, daß mit Philipp Jakob Spener und
dem Pietismus eine neue Wertung des Verhältnisses zu den Juden eingesetzt
habe. Diese These gehört zu den wichtigsten von F. überprüften
Standpunkten. Die Zeit bis zum Dreißigjährigen Krieg erhält
auch deshalb in der Untersuchung besonderes Gewicht, wie überhaupt
F. chronologisch vorgeht und die Zeit vor dem Dreißigjährigen
Krieg, die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Zeit nach dem Krieg
(bis ca. 1680) nacheinander darstellt (Kap. 2-4) und je ein Kapitel
über Esdras Edzard und Philipp Jakob Spener sowie einen Ausblick
(Spätorthodoxie, das Ehepaar Petersen und Johann Christoph Wagenseil
) folgen läßt (Kap. 5-7). Die Kapitel 2 bis 6 untersuchen - in
unterschiedlicher Differenzierung - einen festen Themenbestand:
Hoffnung auf die Bekehrung der Juden, Auseinandersetzung mit dem
Judentum, die Judentaufe, Stellung (und Selbstverständnis) der Konvertiten
. Die Stellung der Juden in der Gesellschaft ist immer wieder
im Blick (vgl. z. B. S. 146), wird aber nirgendwo eigens thematisiert.

Die Arbeit kommt zu einer Reihe von bemerkenswerten Ergebnissen
, von denen einige wichtige genannt werden sollen: 1. Obwohl es
bis hin zu Esdras Edzard in Hamburg (1629-1708) kaum Formen
planmäßiger Judenmission gab, war in der (lutherischen) Theologie
vom Anfang des 17. Jh. an die Hoffnung auf Bekehrung der Juden
unumstritten. 2. Diese Hoffnung geriet an verschiedenen Stellen deutlich
in Konflikt mit volkstümlicher Judenfeindschaft. 3. Bereits sehr
früh (Elias Schadäus [1592] u. a.) gab es theoretische Ansätze zu einer
dialogorientierten Judenmission, während die Gesamttendenzen der
Theologie im Rahmen der Überzeugung von der selbstverschuldeten
Verstockung der Juden als Gesamtheit verblieb und darum bekehrte
Juden die Ausnahme blieben. 4. Es ist zunehmend eine Gegenbewegung
zwischen einer Verstärkung der Hoffnung auf eine endzeitliche
Bekehrung Israels und der Verstärkung einer apologetisch-skeptischen
Tendenz festzustellen. 5. „Speners Neuansatz im Verhältnis zu
den Juden ist... bisher überschätzt worden" (S. 139). Die Verbindung
der Bekehrung der Juden mit der Hoffnung besserer Zeiten für
die Kirche findet sich bereits vor ihm, und seine Haltung den Juden
gegenüber ist durchaus nicht freundlicher als die des 17. Jh. vor
ihm.

Hinzu kommen eine Reihe von wichtigen Einzelerkenntnissen, die
F. vorlegt. Zu ihnen gehören die Bedeutung Georg Calixts auch für die
Wandlung der Stellung der Theologie zu den Juden (S. 650, die Erforschung
der Sonderrolle Esdras Edzards für die Judenmission (S. 113 ff)
und der Hinweis auf die „Musterkatechese" des Christoph Crisenius
(1616) (S. 370 und auf die Rolle Luthers (S. 50, 148), aber auch der
Hinweis auf eine Forschungslegende (das Institutum Judaicum in
Straßburg scheint nie bestanden zu haben, S. 96) und auf nach wie vor
bestehende Forschungslücken (die christliche Hebraistik des
16./17. Jh., S. 67, die Entwicklung des Chiliasmus auf dem europäischen
Festland, S. 57).

Die Arbeit F.s bietet viele Anregungen zu weiteren Fragen und
Studien. So ist zu vermuten, daß auslegungsgeschichtlich die Deutung
von Gen 49,10 und anderer im Zusammenhang der Frage nach dem

Schicksal Israels oft herangezogener alttestamentlicher Belege einen
breiten Rahmen hat, da diese Stelle zusammen mit weiteren alttesta-
mentlichen Zitaten zum Belegekanon der Weihnachtspredigt im 16.
und 17. Jh. gehört hat.

Besonders wertvoll für die weitere Forschung sind mehrere Exkurse
bzw. Anhänge. Sie betreffen eine Übersicht über Judentaufen zwischen
1590 und 1710, obrigkeitliche Bekehrungsmaßnahmen (Juden-
[zwangsjpredigten, Disputationen, die Bekehrung von Gefangenen
und zum Tode Verurteilten, das Problem der Zwangstaufe) und ein
umfangreiches Quellenverzeichnis. Ein Nachtrag befaßt sich mit dem
während der Drucklegung erschienenen Werk von Paul Gerhard
Aring: Christen und Juden heute - und die „Judenmission"?, Frankfurt
/Main 1987.

Einige Zitate mögen die Ergebnisse des Buches festhalten: „Daher
wird man die Haltung von Orthodoxie und Pietismus zum Judentum
auch nicht kurzschlüssig als durch und durch antijudaistisch verdammen
können, sondern muß anerkennen, wie die Hoffnung auf eine
Bekehrung der Juden schon in der Orthodoxie partiell zu größerem
Interesse am Judentum und zu eingeschränkter Toleranzbereitschaft
führte. Zum Antisemitismus des 19./20. Jh., der nicht von einem
theologischen Gegensatz ausging, sondern vor allem mit wirtschaftlichen
und rassischen Gesichtspunkten arbeitete, gibt es m. E. von den
orthodoxen und pietistischen Theologen keine geradlinige Verbindung
. Besonders charakteristisch scheint mir, daß zwar ab und zu
mittelalterliche Vorwürfe aufgegriffen werden; bis hin zur bei Protestanten
unerwarteten Beschuldigung des Hostienfrevels; dagegen
spielt der angebliche christliche Standardvorwurf des Christusmordes
gar keine Rolle... Der moderne Antisemitismus arbeitete so mit
einer Beschuldigung, durch die alle Juden kollektiv zu treffen waren;
die orthodoxen und pietistischen Theologen hatten dagegen nur das
aktuelle jüdische Verhalten der Ablehnung des Christentums verdammt
, den umkehrwilligen Juden aber gefördert - eine Haltung, die
nicht mehr die unsere sein kann, der aber dennoch ein gewisser
Respekt nicht ganz verwehrt werden kann"(S. 148 f.).

Leipzig Ernst Koch

Kirchengeschichte: Mittelalter

Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monu-
menta Germaniae Historica München, 16.-19. September 1986.':
Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung. 780 S.
m. 10 Abb.; II: Gefälschte Rechtstexte. Der bestrafte Fälscher.
748 S. m. 2 Abb.; III: Diplomatische Fälschungen (I). 726 S. m.
5 Abb.; IV: Diplomatische Fälschungen (II). 724 S. m. 18 Abb.; V:
Fingierte Briefe. Frömmigkeit und Fälschung. Realienfälschungen.
752 S. Hannover: Hahnsche Buchhandlung Verlag 1988. gr.8* =
Monumente Germaniae Historica. Schriften. Bd. 33, I-V. Lw.
DM je 98,-.

Im Vorwort spricht Horst Fuhrmann vom „Risiko der Uferlosig-
keit" des Themas. Die mehr als 150 Beiträge unterstreichen die Vielfalt
der Möglichkeiten. Aber Fälschungen sind tatsächlich „ein durch
alle Quellengattungen gehendes und durch seine Buntheit und Verschiedenartigkeit
anziehendes Phänomen", so daß die Themenwahl
bestens begründet ist. Viele Beiträge bemühen sich auch um eine
Grundtendenz, die vorgegeben war, nämlich „auf Bewußtseinsinhalte
zu achten" (5). In seinem Festvortrag „Von der Wahrheit der Fälscher
" nannte Horst Fuhrmann ein subjektives Rechtsgefühl als Voraussetzung
dafür, daß man das empfundene Recht durch ein von
eigener Hand gefertigtes Dokument sichern wollte (84). Fuhrmann
wählte seine Beispiele aus der Kirchengeschichte. Er setzt ein mit der
Frage: „Was zählt zum biblischen Kanon - Was ist echt?" (85) D'e
Spätschriften des NT „ordnen sich, verschiedene Aussagen ergänzend
, dem neutestamentlichen Kern zu und mögen ihren Ursprung in
dem Wunsch der Glaubensorientierung und Glaubensstabilisierung