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Ausgabe:

1989

Spalte:

384-385

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wolbert, Werner

Titel/Untertitel:

Der Mensch als Mittel und Zweck 1989

Rezensent:

Wiebering, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 5

384

ethischen „Vernunft" (Kant) vermöge Moral rational zu begründen
(61-70). Mithin: Die neuzeitliche Krise der Moral geht auf den Verlust
der klassischen, v. a. aristotelischen Auffassung von Moral sowie
auf das Scheitern der eigenen Moralbegründungen der Neuzeit zurück
: Dieses Begründungsdefizit führe in der Gegenwart zum Intuitionismus
und Emotivismus, also zur völligen Beliebigkeit der Moral.

Aus der Sicht theologischer Ethik verdient es besondere Beachtung,
daß auf diese Weise, mit Hilfe einer prägnanten Kritik des Emotivismus
, das Problem der philosophischen wie theologischen Begründung
von Moral neu beleuchtet wird. Denn es greift in der Tat zu
kurz, Begründungsfragen der Ethik z. B. strukturalistisch als „intellektuelles
Spiel" zu diskreditieren oder im Sinn des Kritischen Rationalismus
durch eine pragmatische Sozialtechnologie zu überspielen.
Erst durch vertiefende Wertbegründungen bzw., mit Maclntyre formuliert
, durch die philosophische „Rechtfertigung" von Moral wird
ethischen Aussagen überhaupt Überzeugungskraft verliehen und wird
der Beliebigkeit, Manipulierbarkeit und Funktionalisierung von
Moral gewehrt. Zur Reflexion einer Begründung ethischer Aussagen
ist gerade die Theologie herausgefordert. Maclntyres Buch weist in
dieser Hinsicht auf ein Desiderat hin.

3. Fraglich erscheint indes, wie weit Maclntyre's eigene Position
trägt, die den angeblich ausnahmslos „gescheiterten" Ethikansätzen
der Neuzeit mit einer Rehabilitation des aristotelischen Tugendbegriffs
zu begegnen sucht (159f, 341 ff). Geistesgeschichtlich instruktiv
ist allerdings seine Entfaltung der unterschiedlichen Tugendverständnisse
von den heroischen Gesellschaften bis zum Mittelalter
(163-241). Hierbei werden z. B. die Bindung des klassischen Tugendbegriffs
an die Idee kosmischer Ordnung und an eine harmonische
Lebenswelt (191) sowie an die politische Gestaltungsform der polis
(209, 218) sichtbar, ebenso wie die „metaphysische Biologie" (200),
d. h. das teleologische Verständnis der menschlichen Natur, als
gedanklicher Rahmen der Tugendlehre Aristoteles' deutlich wird.
Maclntyre's eigene, Aristoteles modifiziert aufgreifende Position definiert
die menschlichen „Tugenden" dann im Bezug auf das „Telos
eines ganzen, als Einheit begriffenen Menschenlebens" (270): Dem
einzelnen Menschen können die Tugenden dazu dienen, zum „guten
Leben", zur persönlichen Identität des „Selbst" und zur Suche nach
dem Telos des „eigenen Lebens" beizutragen (273-300).

Diese Deutung bekräftigt erneut die schon in älteren Tugendethiken
hervortretende, spezifisch individualethische Dimension des
Tugendbegriffs. Doch zugleich ergibt sich hieraussdie Aporie der von
Maclntyre vertretenen Moralphilosophie, die den u. a. durch die
Bürokratie bedingten Niedergang von Kultur und Gesellschaft beklagt
, dieses sozialethische Thema dann jedoch nur mit HHfe der
individualethischen Kategorie des Tugendbegriffs zu erörtern weiß:
Mit dieser Perspektive kann tatsächlich nur noch resignativ empfohlen
werden, den Verfall der Gesellschaft und das angebrochene „finstere
Zeitalter" in „lokale(n) Formen von Gemeinschaft" zu überdauern
(350), in denen sich die individuellen Tugenden kultivieren
lassen. Angesichts dieses wenig wegweisenden, quietistischen Fazits
vermag der programmatisch betonte Rückgriff auf die aristotelische
Tugendlehre schwerlich zu überzeugen. Die Tugendethik muß die
Eigendynamik kultureller Degeneration faktisch akzeptieren. Jedoch
hat im Kern schon F. Schleiermacher konzeptionell zwischen der
ethischen Tugend- und der Güterlehre unterschieden. Die erneut bei
Maclntyre zutage tretende Grenze einer individualethischen Tugendlehre
unterstreicht nur um so dringlicher die Aufgabenstellung einer
kulturphilosophisch orientierten Güterethik: Diese wäre jedenfalls im
Blick auf eine pluralistische, von keiner einheitlichen Moral mehr getragene
Gesellschaft, von der Maclntyre's (freilich recht einseitige)
Verfalls-Theorie, neuzeitlicher Moral und Kultur ja ausgeht - als
sozialethischer Denkansatz zu entfalten, der gesellschaftliche Möglichkeiten
des normativen ethischen Diskurses und des Wertkonsenses
herausarbeitet.

Wachtberg-Niederbachem Hartmut Kreß

Wolbert, Werner: Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der
Menschenwürde in normativer Ethik und Metaethik. Münster/W.:
Aschendorff 1987. V, 157 S. gr. 8° = Münsterische Beiträge zur
Theologie, 53. Kart. DM 44,-.

Nicht um die Menschenrechte in ihrer speziellen Ausformung, sondern
um die ihnen zugrunde liegende Menschenwürde geht es in dieser
knappen und gut lesbaren Monographie, die als Habilitationsschrift
von B. Schüller betreut worden ist. Der Vf. fragt, ob von der
Menschenwürde so selbstverständlich ausgegangen werden könne,
wie das allgemein üblich geworden ist. Ist das Bekenntnis zur
Menschenwürde „eine gemeinsame Plattform für Theisten

und

Atheisten bzw. Agnostiker, für Glaubende und Nichtglaubende" oder
setzt es ein Bekenntni's zu Gott dem Schöpfer voraus? Wieso wird dem
Menschen ein Vorrang vor den übrigen Lebewesen zugesprochen und
die Gleichrangigkeit aller Menschen behauptet? Diese Fragen sucht
der Vf. im Rückgriff auf Untersuchungen Kants und in Auseinandersetzung
mit metaethischen Argumentationsgängen z. B. bei
R. M. Hare und G. E. Moore zu beantworten.

Nach Kant beruht die Menschenwürde auf der Fähigkeit zur Sittlichkeit
, dem „sittlichen Wert der Tugend, der sittlichen Gesinnung,
dessen also, was die Moralität des Menschen ausmacht" (19). Sie ist
deswegen ein unbedingter Wert, unabhängig davon, ob sie faktisch anerkannt
wird oder nicht. An der Rede vom Menschen als Mittel und
Zweck läßt sich der Unterschied von bedingtem und unbedingtem
Wert, von nichtsittlichen und sittlichen Fähigkeiten erläutern. 'n'
sofern kann durchaus auch vom Menschen als Mittel gesprochen werden
, wenn diese Differenzierung beachtet wird. Der Schluß auf das
sittlich Richtige ist aber mit der Behauptung der Menschenwürde als
unbedingtem sittlichem Wert noch nicht vorgegeben. Am Beispiel der
aktiven und passiven Euthanasie wird erläutert, wie wenig die Berufung
auf die Menschenwürde für eine Normierung der Handlungen im
einzelnen austrägt. Wohl aber ergibt sich aus der Menschenwürde der
Anspruch auf Religionsfreiheit und auf Nichtbehinderung durch
obrigkeitliche Bevormundung. Hier läßt sich der Vf. auch auf die
schwierige Frage der Differenzierung von innerer und äußerer Freiheit
ein und plädiert für das Auseinanderhalten der Ebenen von Moral
und Recht. Wichtiger wäre aber wohl, wie weit etwa die Idee der Menschenwürde
beide Ebenen miteinander verbinden kann. Das vermisse
ich auch bei den Ausführungen über die Folter, die ebenfalls nicht
vom Anspruch der Menschenwürde, sondern wegen ihrer Illegalität
abgelehnt wird. Der Vf. verficht hier allzu eng die These, „daß d<e
Berufung auf die Menschenwürde in Fragen normativer Ethik normalerweise
nichts austrägt" (108).

Als metaethische Theorien diskutiert der Vf. die universalistische
Theorie Hares und den Intuitionismus Moores. Von besonderem
Interesse sind die Überlegungen zu der Aussage, die Welt sei „um des
Menschen willen" oder „auf den Menschen hin" geschaffen. Diese aus
der biblisch-christlichen Tradition vertraute Aussage steht heute
unter dem Verdacht, die übrigen Lebewesen zum bloßen Mittel fürdie
Zwecke des Menschen zu erniedrigen. In einer sorgfältigen Analyse
des Begriffes „gut an sich" und des grundsätzlichen Charakters von
Wertaussagen kommt der Vf. dahin, daß etwas in sich gut ist im Hinblick
auf den Menschen und damit eine Empfehlung für das Handeln
ausgesprochen wird. So verweist die Aussage, „die Dinge der We'1
seien zum Wohle des Menschen geschaffen, auf die grundlegendere

**

Aussage, die Welt sei auf den Menschen als sittliches Wesen bezogen
(138). Insofern ist die Welt bezogen auf den Menschen als Endzweck,
ohne deswegen des Menschen Einheit mit der übrigen Schöpfung zu
leugnen, denn „er ist ja nicht nur Zweck, sondern zugleich Zweck und
Mittel" (144).

Dem Vf. ist eine flüssig geschriebene und in sich stimmige Studie
gelungen. Ob die Argumentation den Leser überzeugt, ist allerding5
davon abhängig, daß die von Kant her entwickelte Exklusivität des
Sittlichen akzeptiert wird. Die rechtlichen und politischen Aspekte
der Menschenwürde als eines neuzeitlichen Phänomens bleiben ausgeblendet
. Der theologische Hintergrund um die Komplexe der Gott-