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Ausgabe:

1989

Spalte:

371-373

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Titel/Untertitel:

Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte 1989

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 1 14. Jahrgang 1989 Nr. 5

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turgien" ein gewisser Ekletizismus gewesen sei. Für einen bewußt
gestalteten persönlichen Glauben an Christus hätten bei den Indianern
lange Zeit die Voraussetzungen gefehlt, so daß man von einer erst
beginnenden Evangelisierung aus vorwiegend objektiven Gründen
sprechen müsse.

Vf. deckt das Ausmaß der Krise der Kirche angesichts des Endes der
spanischen (und portugiesischen) Kolonialherrschaft und der Machtübernahme
durch eine kreolische Führungsschicht auf und kennzeichnet
detailliert ihre Orientierungslosigkeit und fehlende Kraft zu
überzeugender Öffnung für die neue Situation, verhält sich aber auch
hier differenzierend, indem er auch erste Zeichen der Erneuerung
kenntlich macht. Die Situation in den einzelnen Staaten, die sich
zuweilen rasch wandelte, wird ebenso wie die Lage in den einzelnen
Jahrzehnten des 20. Jh. mit einer reichen Faktenfülle kenntlich
gemacht. Naturgemäß kann man über manche theologische und politische
Urteile des Vf. streiten, doch insgesamt wird man ihm gern
zustimmen und ist erfreut über die Umsicht und Sachlichkeit seiner
Urteile. Die Rolle des Klerus in der Unabhängigkeitsbewegung wird
in Abhebung von der ambivalenten Haltung der Episkopate und der
Kurie überzeugend gewürdigt. Gut katholisch urteilt Vf., über den
Volkskatholizismus dürfe man nicht aus der Position der aristokratischen
Elite oder einer europäisierenden Aufklärung die Nase
rümpfen, doch mußte auch er sich einer prophetischen Kritik unterziehen
, um sich in Richtung auf eine neue Menschlichkeit bewegen zu
können.

Viel Aufschlußreiches erfährt der Leser zu der 1930 einsetzenden
Etappe. Negativ merkt Vf. an, daß hier noch der Glaube bewahrt, verteidigt
und geschützt statt aktiv verbreitet werden sollte, daß also noch
eine narzißtische Selbstbezogenheit vorherrschte, was sich auch in der
politischen Grundhaltung, vermischt mit einem gewissen Triumphalismus
, ausdrückte. Andererseits begann man bereits mit der Freisetzung
vieler neuer Kräfte und erwachte so aus der langen Lethargie.
Die Bündnisse mit dem Populismus, das Entstehen christdemokratischer
Parteien, das Wirken der Katholischen Aktion und zahlreicher
anderer konfessioneller Organisationen, Massenkongresse und Wallfahren
, die Gründung katholischer Universitäten, Zentren und Zeitschriften
werden mit Recht in sauberer Abwägung bewertet, während
die Schaffung nationaler und kontinentaler Zusammenschlüsse volle
Zustimmung erfährt. Zur geistlichen Erneuerung als Öffnung für die
Armen und Mitwirkung an der Befreiung des Volkes mit starken politischen
Elementen nimmt Vf. eine erfreulich positive Haltung ein,
was das kritische Sachgespräch mit einzelnen Positionen nicht ausschließt
, und der Leser wird über Ausmaß und Vielgestaltigkeit dieser
praktizierten Neubesinnung, aber auch über die harten Widerstände
und Rückschläge bis hin zu zahlreichen Martyrien mit einer überreichen
Faktenfülle, länderspezifisch gegliedert, ausgezeichnet informiert
.

Rostock Gert Wendelborn

1 Vgl. meine Rez. in ThLZ 101, 1976, 221-26; 104, 1979. 270-73: 108.
1983,53-56; DLZ 109,1988,433-36.

Wirth, Günter [Hg.]: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte. Berlin:
Union Verlag 1987. 382 S. 8°. Kart. M 19,80.

Im ersten Aufsatz „Die Entwicklung Berlins bis zur Reformation"
erinnert Hans-Joachim Beeskow an Walter Wendlands Standardwerk
„700 Jahre Kirchengeschichte Berlins" (1930), über das er hinausführt
durch Einarbeitung neuer archäologischer Forschungen sowie
eine Interpretation des Bildes „Berliner Totentanz" von 1483 (17).
Hans-Ulrich Delius informiert über „Die Reformation in Berlin" bis
zum Visitationsabschied für die Nicolai-, Marien- und Petrikirchc
von 1540 (23-43). Michael Beintker berichtet „Vom Konfessionswechsel
Johann Sigismunds bis zum Edikt von Potsdam". Im Jahre

1614 wurde „zum ersten Mal in einem größeren deutschen Territorium
der Grundsatz des Augsburger Religionsfricdens, nach dem sich
die Untertanen dem Bekenntnis des Landesherrn zu fügen hatten
(cujus regio, ejus religio), durchbrochen" (48). Um 1700 dürfte etwa
jeder vierte Einwohner Berlins französischer Herkunft gewesen sein.
Käte Gaede beschreibt „Einflüsse des Pietismus unter den Könige11
Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I." (63-86). Spener zählte auch
Samuel Pufendorf zu seinen Predigthörern, setzte sich für Gottfried
Arnolds Anstellung in Brandenburg ein, kümmerte sich um die
Armenfürsorge und um die Theologische Fakultät der neuen Universität
Halle. 1693 gab es in Berlin acht Kirchen für 20000 Protestanten,
1739 waren es 20 evangelische Kirchen für 85000 Einwohner.
Wolfgang Gericke zieht eine Linie „Von Friedrich II. zu Wöllner ■
Friedrich legte Wert auf die Toleranz seiner Vorfahren, die auch
Katholiken nicht verfolgt hätten. 1770 hatte Berlin unter 133 520 Einwohnern
etwa 10000 Katholiken (90). Christoph Friedrich Nicolai
wird liebevoll gewürdigt; Lessings Einsatz für die Menschenrechte
zeigte sich „auch in seiner Haltung gegenüber den Juden" (95). D'e
Theologen Sack, Spalding und Teller öffneten sich der Aufklärung-
der Minister Wöllner versuchte sie 1788 einzudämmen (108 f)-

Ilse Bcrtinetti überschreibt ihren Beitrag: Der „preußische" Re'1'
gionsphilosoph Immanuel Kant und die Berliner Theologen der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (106-128). Kants Philosophie
hatte theologische Relevanz, die sich u. a. auf Schleicrmacher.
Marheineke, de Wette und Neandcr auswirkte. Diese Wirkungslime
wird durchgezogen ins 20. Jh. zu Julius Kaftan, „der als rein religi"nS'
wissenschaftlich orientierter Dogmatiker methodisch an Kant anknüpfte
, und schließlich Rudolf Hermann, ein in seinem Denken an
Kant geschulter Lutheraner, der sich jedoch in seiner Ethik kritisch
mit dem Formalismus des kategorischen Imperativs auseinandersetzte
.. ." (124). Klaus Wappler formuliert die Überschrift „Auf dem
Weg der Erneuerung im Zeitalter der Befreiungskriege: Die Steif'
sehen Reformen und die Kirchenunion von 1817". Er stellt die BeWe'
gungen nacheinander dar, zwischen denen er Gemeinsamkeiten sieht-
Große Ziele konnten nur teilweise verwirklicht werden (151). Hans-
Jürgen Gabriel untersucht Hengstenbergs Evangelische Kirchenzeitung
von 1830-1849 unter der Überschrift „Im Namen des Evangeliums
gegen den Fortschritt". Sein Ergebnis lautet: „In der Taktik
flexibel, in der Grundausrichtung des unversön liehen Kampfes gegen
jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt keiner Wandlung fähig- ■ ■
(1730- Bernt Satlow erörtert „Die Revolution von 1848. Die Kirche
und die soziale Frage" (177-196). Die preußische Verfassung v°n
1850 war „immerhin ein Fortschritt im Vergleich zu den bisherigen
Gegebenheiten" (183). Nach 1871 gab es „für die Innenpolitik eine
liberale Phase" (189), die auch eine Kirchgemeinde- und Synodalordnung
brachte. Es gab „viel treue Arbeit im einzelnen" (194), aber
keine grundlegende geistliche Erneuerung. Carl-Jürgen

Kaltenborn5

Beitrag „Kontroverstheologie zur Weltgestaltung. Adolf von Haf'
nacks Berliner Wirksamkeit" läßt in erfreulicher Ausführlichkeit
Harnack selbst zu Wort kommen (197-216). Joachim Rohdes „Stre»'
lichter aus der Berliner Kirchengeschichte von 1900 bis 1918" nenn'
u. a. erschreckende Zahlen über den kümmerlichen Gottesdienst
besuch (220); in der Kirche stritten sich Positive und Liberale. D1
Kriegszeit wird beleuchtet bis zur Einweihung des umstrittene"
Kriegerdenkmals durch Reinhold Sceberg mit seinem Nachspiel
(2360- Kurt Nowaks Skizze „Das evangelische Berlin 1918 bis 1932^
berichtet u. a. von Otto Dibelius und Ludwig Wessel, Troeltsch un_
Harnack, Sicgmund-Schultze und Rittelmeycr, Paul Tillich und Her
mann Kapler sowie schließlich von der Formierung der

Deutsch^1

C hristen und Dietrich Bonhocffcrs Wirken in Berlin 1931-1933.
Hartmut Ludwig schildert „Die Entstehung der

Bekennenden

Kirche in Berlin". Neben den bekannten Persönlichkeiten werden d>e
Gemeinden Dahlem und Pankow hervorgehoben (273-275). Z^e'
Zahlen seien übernommen: „Im Laufe der Jahre 1934 bis 1941 ha'
Albertz ungefähr 450 Kandidaten von der Meldung zum ersten theo
logischen Examen bis zur Einführung in ihr neues Amt betreut • • •