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Ausgabe:

1989

Spalte:

368-369

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Der Holocaust und die Protestanten 1989

Rezensent:

Heinonen, Reijo E.

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367

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 5

368

Leitung des Deutschen Evangelischen Institutes für Altertumswissenschaft
des Heiligen Landes zu übernehmen.

Für die Bestimmung von Dalmans damaliger theologischer Position
kann Vfn. lediglich einen Vortrag aus dem Jahre 1896 „Das Alte
Testament. Ein Wort Gottes" heranziehen. Dalman greift damit in
den durch die historisch-kritische Forschung bedingten Streit um die
autoritative Stellung der Heiligen Schrift und des Alten Testamentes
in ihr ein.

Im zweiten großen Hauptteil ihrer Arbeit widmet sich Vfn. „Gustaf
Dalmans wissenschaftliche(r) Leistung auf dem Gebiet des Judentums
und der Judenmission" (71-135), und bis zum Ende seiner Leipziger
Tätigkeit ist damit in der Tat das Hauptthema dieser Zeit im Leben
Dalmans angegeben.

Ein erster Abschnitt erklärt die zeitgeschichtlichen Hintergründe
und weist besonders auf den im letzten Drittel des 19. Jh. sich ausbreitenden
Antisemitismus und damit zusammenhängend die Entwicklung
des zionistischen Gedankens hin.

Im zweiten Abschnitt referiert Vfn. Dalmans Schriften zur Judenmission
, die Zeugnis geben von den vielfältigen Aufgaben und Verpflichtungen
seiner Leipziger Zeit. Dalman hat, das führt die Vfn. sehr
anschaulich vor, in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Judenmission
zumindest theoretisch all die schwierigen Fragen gestellt und
zu beantworten versucht, die bis heute in der Diskussion bestimmend
sind. Manchmal wünschte man sich daher, daß Vfn. nicht so zurückhaltend
wäre, die Linien bis in die Gegenwart auszuziehen. Auch in
bezug auf die erschreckenden damaligen antisemitischen Äußerungen
, die mitgeholfen haben, den Weg für die Vernichtungspolitik der
Nationalsozialisten zu ebnen, wäre dies wichtig. Unvermittelt kommt
es jedoch auch zu überraschenden Urteilen der Vfn., so, wenn sie über
den Zionismus schreibt, er sei nur eine Utopie mit wenig Chancen zur
Realisierung und habe sich „in erschreckender Weise in sein Gegenteil
verkehrt: aus den einst Verfolgten sind Verfolger geworden, die in
grausamer Weise an Unschuldigen rächen, was andere ihnen und
ihrem Volk angetan haben". (91) So einfach ist es nun auch wieder
nicht.

Im folgenden dritten Abschnitt gibt Vfn. Einblick in die Auseinandersetzungen
um den Antisemitismus einerseits und die jüdischen
Angriffe auf das Christentum andererseits. Dalman hatte sich mit beiden
auseinanderzusetzen. Leider schließt dieser Unterabschnitt ohne
eine Bewertung durch Vfn. Eine solche findet sich am ehesten in
Anm. 179 auf S. 110, wo Vfn. die „wenig eindeutige(n) Position
Dalmans in der Frage des Antisemitismus" feststellt.

Im letzten großen Abschnitt des 2. Hauptteils referiert Vfn.
Dalmans „Schriften zur jüdischen Messiasvorstelluhg" (115-135). Es
sind dies seine Arbeiten „Messias ben David, der .leidende' Messias
der Rabbinen" (Diss. Leipzig 1887) und „Jesaja 53 - Das Prophetenwort
vom Sühneleiden des Heilsmittlers" (1890, 2. umgearbeitete
Aufl. 1914).

Mit den abschließenden wenigen Seiten (137-143) resümiert Vfn.
Dabei tritt die Persönlichkeit Gustaf Dalmans deutlich hervor. Exaktheit
, Sammelleidenschaft, Fleiß, Akribie und eine große Sprachbegabung
zeichneten ihn aus. Wissenschaftliche Arbeit war für ihn nicht
Selbstzweck, seine Beschäftigung mit dem Judentum Voraussetzung
für die Judenmissionsarbeit, die er als Aufgabe der ganzen Kirche versteht
. Sie hat den Vorrang vor den späteren landes- und volkskundlichen
Interessen. Freilich war Dalman 1902 beruflich ohne große
Perspektive, die neue Aufgabe am Deutschen Evangelischen Institut
für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes kam wie gerufen.
Dalman widmet sich fortan der Palästinawissenschaft; das Thema
Judenmission taucht bei ihm nach 1902 nicht mehr auf. Daß diese
freilich im 20. Jh. überhaupt kein Thema mehr sein soll, darin vermag
man Vfn. nicht zuzustimmen. Richtig ist jedoch, daß Dalman sich der
Mühe unterzogen hat, „mit seinen Arbeiten der Kirche ein Stück
rabbinische Theologie vorzuführen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede
aufzuzeigen und so zu einem differenzierteren Bild vom
Judentum beizutragen" (143). Die Interessen der Vfn. liegen wohl

nicht auf dem Gebiet des jüdisch-christlichen Dialogs. Man darf aber
gespannt sein auf die baldige Fortsetzung der gelungenen Dalman-
Biographie.

Hannover Michael Trcnsky

Kaiser, Jochen-Christoph, u. Martin Greschat [Hg.]: Der Holocaust
und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung. Frankfurt/M-
Athenäum 1988. XIII, 282 S. 8" = Konfession und Gesellschaft.
1. Kart. DM 38,-.

Es ist das Ziel der von J.-C. Kaiser und M. Greschat herausgegebenen
Aufsatzsammlung „Der Holocaust und die Protestanten i
die Geschichte der Judenverfolgung in einem breiteren zeitgeschichtlichen
Rahmen zu beleuchten. Das Novum dieser Untersuchung ließ'
in der radikalen Aktualisierung des Holocaust-Problems. In dem einleitenden
Essay weist Eberhard Bethge daraufhin, wie „aus der vermeintlichen
,Judenfrage' der Väter schon lange die .Christusfrage
geworden war und ist". Bethge zeigt die Stufen der Bewußtseinsveränderung
innerhalb der ev. Kirche von „Weissensee 1950" bis „Bad
Neuenahr 1980". „Für den Protestantismus in Deutschland bedurfte
es mehr als eines Menschenalters, bis die Schoah nicht mehr verschwiegen
wurde und wenigstens ihre Thematisierung erreichte.
Dies läßt sich auch aus dem Literaturbericht von Kurt Meier herauslesen
. Bethge macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, wie leicht
die Schulderklärungen der Kirchen zum „billigen Alibi" gemacht
werden können, wenn das entscheidende, nämlich die Veränderung
des theologischen Bewußtseins fehlt. Bethge versteht „Holocaust als
Wendepunkt" und baut darauf ein umfangreiches Programm auf-
„Theologie nach Auschwitz".

Der Leser des ausgesprochen anregenden Bandes fragt sich nun, wie
weit die anderen Beiträge diese Herausforderung durch historischsystematische
Analysen unterstützen.

In ihrem Aufsatz „Protestantismus und AntisemitisfflW
1930-1933" erklärt Marikje Smiä u. a. die zentralen Begriffe „Antisemitismus
", „Antijudaismus" und „Judenfeindschaft". Die um 1879
auftauchende Wortschöpfung „Antisemitismus" verdankt sich ursprünglich
„dem Bedürfnis, die rassisch-ideologische Judenfeindschaft
gerade unter Verzicht auf die herkömmlichen religiösen Vorbehalte
gegen das Judentum bezeichnen zu können".

Zwei Aspekte der Holocaust-Untersuchung kommen hier klar zum
Ausdruck: das Schweigen der Kirchen als kirchenpolitisch-historisches
Problem und die Entwicklung des Antijudaismus als theologisch
-ideengeschichtliche Frage.

Nach Smid übte ein im Auftrag des EOK- und Kirchenpräsidenten
Hermann Kapler Anfang April 1933 entstandenes anonymes Arbeitspapier
einen zentralen Einfluß aus bei der Entscheidung der pr°'
testantischen Kirchenführer, über die beginnende Entrechtung und
Verfolgung der Juden zu schweigen. In seinem zusammenfassenden
Artikel behandelt auch Hans-Ulrich Thamer das vermutlich von
Walter Künneth verfaßte Papier aus theologisch-sozialethischer Pos1'
tion heraus. Als theologische Begründung für das „schiedlich'
friedliche Nebeneinander von Staat und Kirche" galt für die protestantischen
Kirchenführer die lutherische Zwei-Reiche-Lehre. Seit
Anfang April 1933 bemühte sich die ev. Kirche um eine Sonderstellung
für ihre sog. .nichtarischen' Mitglieder zu besorgen. „Nur fuf
die Judenchristen sei die Kirche verantwortlich, die übrigen Juden
fielen in die Verantwortung des Staates", faßt Thamer diese Stratege
zusammen.

Wie weitspannend die negative Einstellung zu Juden auch in V*
Kirche war, kommt zum Ausdruck in der Forderung dieses Papiers*
den jüdischen Einfluß aus dem deutschen Volksleben auszuschalten-
Verwirklicht wurde diese Forderung erst später von den Deutschen
Christen durch die Gründung der „Bremer Bibelschule" (1937) und
des „Instituts zur'Erfdrschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses
auf das deutsche kirchliche Leben" (1939). Leider wird dieser