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Ausgabe:

1989

Spalte:

352-354

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Martin, Ralph P.

Titel/Untertitel:

The spirit and the congregation 1989

Rezensent:

Reinmuth, Eckart

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 5

352

tationsanalytischer Fragestellungen für die Exegese aufzeigen. In
einem knappen Uberblick „Zur Forschungsgeschichte" (S. 5-15)
weist er darauf hin, daß dieser Gesichtspunkt in älterer Exegese (z. B.
wird Melanchthon häufig zitiert) beachtet wurde, dann aber ziemlich
verlorengegangen war; erst in neuester Zeit beginnt sich, besonders in
den USA, das Interesse daran wieder zu melden, nicht ohne den
Vorlauf einer außertheologischen Rhetorikforschung und -theorie-
bildung. Daß S. cten zu exegesierenden Text nicht durch methodische
Formalisierung aus seiner eigenen geschichtlichen Situation herausnehmen
will (um ihn sozusagen als „Text an sich" zu behandeln),
zeigt sich schon an der Zielangabe, „diejenige Fähigkeit des Lesens zu
erwerben, die Paulus bei seinen Adressaten voraussetzt" (S. 1). Das
bedeutet konkret: in der Exegese nicht von modernen Argumentationsweisen
auszugehen (und darum Paulus oft als „ in sich widersprüchlich
" oder „nicht überzeugend" zu empfinden), sondern zunächst
die zur Zeit des Paulus üblichen, ihm und seinen Lesern
vertrauten Argumentationsweisen aufzuzeigen. S. tut das, indem er
sich eng an eine moderne Arbeit zur Argumentationsforschung (C.
Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, Traite de l'argumentation, 1958
bzw. 1970) anlehnt und zu (fast) allen in 105 Paragraphen aufgeführten
Argumentationsmustern Beispiele aus der Septuaginta gibt
(S. 23-84). Damit orientiert er sich an einem Textkorpus, dessen
Kenntnis man bei Paulus - und bei jüdisch gebildeten Lesern unter
seinen Adressaten - zweifellos voraussetzen kann. So entsteht ein langer
Katalog von Argumentationsweisen, die Paulus jedenfalls geläufig
gewesen sein dürften - ohne daß man voraussetzen möchte, er habe
die LXX unter diesem Gesichtspunkt studiert (wie S. andererseits
natürlich auch nicht ausschließen will, daß Paulus in Tarsus oder
anderswo auch nichtbiblische Rhetorik kennengelernt hat). Die Anordnung
der Argumentationstopoi in den 105 §§ ist nicht immer ganz
einleuchtend (vgl. S. selbst, S. 84); auch das eine oder andere der aus
der LXX dazu zitierten Beispiele scheint mir nicht unbedingt zu dem
jeweiligen Paragraphen zu passen. Aber insgesamt legt S. eine sehr
nützliche Materialsammlung vor.

In Kap. 2 (S. 85-107) weist S. auf die „methodischen Anleihen aus
Nachbarwissenschaften" hin: aus Philosophie und Logik, aus Rhetorik
und Kommunikationswissenschaft, aus der Linguistik und aus
Semiotik (bzw. Pragmatik) und Sprechakttheorie. So wird nochmals
klar, daß S. nicht bei einer ahistorischen, abstrakten Textanalyse
enden wird; sein Kommunikationsmodell lautet „Gesellschaft -
Sprecher - Rede - Hörer" (S. 108, vgl. S. 92). Dementsprechend setzt
auch Kap. 3 (S. 108-180) die „Analyse von Rom 9-11" ganz bewußt
mit den historischen „Einleitungsfragen" ein, um dann eine „Gliederung
des Römerbriefes" (S. 112-119) zu versuchen, die sich vor allem
auf Rom 1-11 und insbesondere auf Rom 9-11 bezieht. Seine Gliederung
geht vor allem von der Beachtung der „Gliederungssignale" aus,
und S. kommt zu dem Ergebnis, daß die wichtigsten Einschnitte
innerhalb Rom 9-11 tatsächlich mit 10,1 und 11,1, also der überlieferten
Kapiteleinteilung entsprechend, gegeben seien. So urteilen
andere auch; die meisten Exegeten teilen freilich anders ein, etwa:
9,1-5; 9,6-29; 9,30-11,10; 11,11-32; 11,33-36. Immerhin leuchtet
die Abschnittsbildung hinter (statt vor) 9,30-33 ein (S. 140-144).
Aber bei 11,1 muß man doch fragen, ob S. seiner Analyse, die vorrangig
der Argumentationsweise gilt, nichf doch zu viel zutraut (das
Gliederungssignal lego de ist in 11,11 dasselbe wie in 11,1!). Er gibt
sich bzw. dem Leser am Ende der Analyse des jeweiligen Kapitels
keine Rechenschaft, bei welcher Stufe der Beantwortung der Grundfrage
von Rom 9-11 Paulus jeweils angekommen ist, sieht vielmehr
offenbar alles als einen Gedankengang. Die formale Analyse dominiert
hier deutlich über die des Gedankengangs1, womit natürlich eine
methodische Grundsatzfrage angesprochen ist: Kann man die Gliederung
eines Textes lediglich auf Grund der Gliederungssignale festlegen
(S. 118f), ohne die Sachexegese vollzogen zu haben? Aber man sollte
an die Lektüre von Siegerts Kap. 3 eben nicht mit der Frage nach den
inhaltlichen Aussagen von Rom 9-11 herangehen - dazu fallen nur
(beachtenswerte!) Randbemerkungen an; das Hauptinteresse gilt eben

der Analyse der argumentativen Technik des Paulus, und hier zeigt S.,
daß sich Paulus in Bahnen bewegt, die dem spätantiken Leser geläufig
sind, also verständlich sein müssen.

Kap. 4 stellt dieses Ergebnis auf eine breitere Basis (S. 181-247),
indem S. zu den einzelnen Argumentationsfiguren weitere Beispiele
aus den paulinischen Briefen und auch aus anderen neutestament-
lichen Texten bzw. aus der Jesustradition aufführt. Um der gebotenen
Kürze willen kann auf dieses interessante Kapitel (mit aufschlußreichen
Differenzierungen zwischen Paulus und Deuteropaulinen)
nur hingewiesen werden; es lohnt sich, das Bibelstellenregister (S. 284
bis 297) zur Erschließung zu nutzen.

Fünf Exkurse gehen auf die Veränderungen hinsichtlich des kollektiv
Geltenden, also argumentativ Ansprechenden von damals zu
heute an wichtigen Einzelpunkten nach. In Exkurs II (Zum paulinischen
Schriftargument, S. 157-164)2 stellt S. heraus, daß Paulus mit
„der Schrift" nicht nach einer Sondermethode umgeht, sondern so,
wie auch andere (jüdisch-)hellenistische Zeitgenossen mit einem Gesetzeskorpus
(!) umgehen. Besonders die beiden pseudo-philonischen
Predigten De Jona und De Sampsone (s. oben!) bieten hier manches
Verwandte. Im Exkurs III (Argumentationsanalyse und Hermeneutik,
S. 176-180) fragt S. danach, wie sich die aus der Veränderung des
Interpretationsuniversums von damals zu heute leicht ergebenden
Mißverständnisse von Paulustexten vermeiden lassen.

In Kap. 5 zieht S. unter dem Motto „Esprit und Pneuma" Bilanz
(S. 248-254). Die Anstößigkeit des Christusevangeliums für Juden
stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Argumentationsformen dar
als „Verletzungen des jüdischen Interpretationsuniversums" (S. 244),
also dessen, was alle Juden als gültig und verbindlich ansehen. Das
Gleiche könnte mutatis mutandis auch im Blick auf heidnische Leser
gesagt werden (vgl. 1 Kor 1,23). Das besagt aber gerade nicht, daß sich
Paulus in einer dem spätantiken Menschen fremden Weise des Argu'
mentierens bewegt; im Gegenteil! Was uns heute bei Paulus' Argumentation
befremdlich erscheint, ist durch unsere veränderte kulturelle
Situation bedingt (S. 245). Glaube ist kein sacriticium intellectus.
Das gilt trotz der von S. keineswegs übersehenen „Rhetorik gegen die
Rhetorik" bei Paulus (S. 248; dazu dann S. 250). „Glauben und Verstehen
" könnte auch Siegerts Losung sein (vgl. S. 2520- In der Sache
zielt S. also auf das Konzept eines „kritischen Glaubens", d. h. eines
argumentierenden und Argumenten zugänglichen Glaubens (S. 247)-
Es geht um die Überzeugungskraft des „auch in der Paradoxic En1'
sichtigen", des Evangeliums (S. 254).

Das mit einer enormen Kenntnis der Literatur - zumal auch älterer,
sonst vergessener - geschriebene Buch ist so etwas wie ein

Handbuch

der neutestamentlichen Rhetorik diskursiver (nicht narrativer) Texte
geworden, das durch Register der Bibelstellen, der Namen' und vor
allem der rhetorischen u. a. Stichworte (S. 284-320) erschlossen wir''
und dem man nur wünschen kann, daß es nicht nur um der Kapite'
Rom 9-11 willen zur Hand genommen wird.

Jena/Naumburg (Saale) Nikolaus Walter

' Die meisten Exegeten sehen eine Beantwortung in drei Stufen, vgl. z. B.
Lüdemann, Paulus und das Judentum, München 1983.31-34. Soweit ich sehen
kann, geht S. auf diese Frage gar nicht ein.

2 Dazu vgl. inzwischen auch H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum

Schrift'

gebrauch des Paulus in Römer 9-11. Göttingen 1984.

' Eigenartig berührt es, wenn mitten unterden Namen zitierter Autoren auch
..Gott" begegnet. - Etwas beschwerlich sind die „Zusätzlichen Anmerkungen •
die als Kap. 6 angehängt sind (S. 255-262), da die jeweilige Bczugsstclle i1"
Buch nicht angegeben wird, sondern nur mühsam oder durch Zufall aufgeh"1'
den werden kann.

Martin, Ralph P.: The Spirit and the Congregation. Studies i"
1 Corinthians 12-15. Grand Rapids: Eerdmans 1984. VlU.
168 S. 8°.

Dem Vf. geht es darum, zur gegenwärtigen Situation und zum Weg
der Kirchen heute einen Beitrag aus paulinischer Sicht zu bieten. Ef