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Ausgabe:

1989

Spalte:

292-293

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

Was sollen wir tun? 1989

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theotogische Literaturzeitung 1 14. Jahrgang 1989 Nr. 4

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Zweimal gebraucht Hans-Joachim Birkner, international renommierter
Schleiermacherforschcr und Hauptherausgeber der KGA, im
Vorwort zu diesem Buch das Wort Glücksfall. ErsterGlücksfall: Kein
Geringerer als D. F. Strauß ist es gewesen, der Schleiermachers Vorlesung
über theologische Enzyklopädie vom Wintersemester 1831 /32
aufgezeichnet hat. Strauß war für seine Aufgabe bestens gerüstet. Er
besaß nicht nur exzellente Qualitäten als Nachschreiber, er verfügte
auch über die notwendige Kompetenz, dem gedanklichen und rhetorischen
Höhenflug des Vortragenden mühelos zu folgen. Denn Strauß
war nicht unvorbereitet in Schleiermachers Vorlesung gekommen.
Zweiter Glücksfall: „die Entzifferung des extrem schwierigen Manuskripts
". Sie habe nur gelingen können, „weil der Herausgeber, dem
wir sie verdanken, in jahrelanger Beschäftigung mit dem Strauß-
Nachlaß aufs intimste mit dessen Handschrift und dessen Abkürzungsgewohnheiten
vertraut war" (X).

Schleiermacher kam mit seiner Vorlesung nicht ganz zu Ende. Das
Semester schloß, als der Vortragende gerade bei der Einleitung zur
Praktischen Theologie und beim Abschnitt über den Kirchendienst
angelangt war. Das fallt dem doppelten Glücksfall gegenüber kaum
ins Gewicht. Ohne den Verdacht der Euphorie zu scheuen, sollte man
ruhig noch von einem dritten Glückfall sprechen. Die nunmehr veröffentliche
Nachschrift von Strauß ist die bislang einzig bekannte zu
Schlciermachers Enzyklopädie-Vorlesung auf der Basis der zweiten
Ausgabe der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" von
1830.

Die Aufzeichnungen von Strauß sind, auch wenn man die damals
unvergleichlich höhere Qualität von Vorlesungsnachschriften ins
Kalkül zieht, ein reifes Dokument geglückter Kommunikation zwischen
Vortragendem und Hörer. Strauß hat die Aufgabe, Schleiermachers
Vortrag aufs Papier zu bannen, mit der Bemühung eines
Fotografen verglichen, der einen Tänzer „in voller Bewegung" festzuhalten
hat (XXXIX). Bei der Bearbeitung des Manuskripts hat der
Hg. sein Augenmerk darauf gerichtet, dessen philologische Authentizität
zu erhalten. „Die Bearbeitung erfolgte nach der Maxime, den
Charakter der unter solchen Bedingungen entstandenen Nachschrift
insoweit zu bewahren, als es, ohne lästiger Mikrologie zu verfallen,
möglich war" (ebd.). Nicht enthalten in der Edition ist der Text der
„Kurzen Darstellung" selbst. Schlcicrmacher setzte ihn bei seinen
Hörern voraus. Man muß also beim Studium der Strauß-Nachschrift
eine Ausgabe der „Kurzen Darstellung" von 1830 neben sich liegen
haben. Die Erläuterungen des Hg. zum Text gelten überwiegend philologischen
Aspekten. Sacherläuterungen bleiben gemäß dem Prinzip
, den Text nicht vorab zu manipulieren, nahezu gänzlich beiseite.
Soweit sich die Erläuterungen auf Personen beziehen - z. B. Abälard
(214), Tertullian (196), Wegscheidcr (184), Heinrich VIII. (175),
Bahrdt, H. E. G. Paulus (140) -, sind sie ein wenig dem Stil eines
populären Lexikons angeglichen.

Bekanntermaßen stellt die zweite Ausgabe der „Kurzen Darstellung
" eine erweiterte Fassung der extrem kondensierten Enzyklopädie
von 1811 dar. Daß die Erstfassung „sehr schwer verständlich"sei, hat
Schleiermacher von sich aus gern zugegeben. Aber auch die zweite
Ausgabe hält mit ihren knappen 145 Seiten noch genügend Verständi-
gungsproblcme und Nachfragen offen. Die von Strauß aufgezeichnete
Vorlesung begleitet und vertieft das Gedruckte. Zwei Folgewirkungen
für die Schleiermacherforschung lassen sich schon jetzt absehen. Zum
einen werden die bislang vorliegenden Interpretationen der „Kurzen
Darstellung" neu auf den Prüfstand gebracht. Zum anderen stellt die
Edition einen forderlichen Impuls dar, auf erweiterter Textbasis deren
Auslegung neuerlich zu beleben.

Eigens hingewiesen sei auf die Einleitung von Walter Sachs: „David
Friedrich Strauß im Winter 1831/32 in Berlin. Die Auseinandersetzung
mit Hegel und Schleiermacher" (XI1I-XXXVII). Sachs zeichnet
in diesem forschungsrelevanten Beitrag die Haltung des jungen Strauß
im theologischen wie philosophischen Pro und Kontra zwischen
Schleiermacher und Hegel nach. Er bezieht in den Zirkel seiner Betrachtungen
auch die zweite große Vorlesung ein, die Strauß bei

Schleiermacher hörte: Einleitung in das Neue Testament. Ob bei
Gelegenheit der Edition von Schleicrmachers neutestamentlichen
Vorlesungen auch diese Nachschrift ans Licht der Öffentlichkeit treten
kann?'

Dem Rcz. bleibt im Blick auf die vorliegende Edition nur übrig, die
Feststellung Birkners zu unterstreichen: „ein Dokument, das für die
Schleiermacherforschung und für das Schleiermacherstudium höchst
bedeutsam und reizvoll ist" (VII).

Leipzig Kurt Nowak

Schweitzer, Albert: Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische
Probleme. Aus dem Nachlaß hg. von M. Strege t u. L. Stiehm. 2..
verb. u. erg. Aufl. Heidelberg: Schneider 1986. 207 S. 8" = lambert
Schneider taschenbücher. Pb. DM 19,80.

Erst nach seinem Tode wurde Albert Schweitzer einer breiteren
Öffentlichkeit als Prediger bekannt, durch die von Ulrich Neuen-
schwander herausgegebenen „Straßburger Predigten", 1966. 21986.
die Predigten aus den Jahren 1900 bis 1919 umfassen, und durch den
von Martin Strege und Lothar Stiehm herausgegebenen Band, dessen
zweite, verbesserte und ergänzte Auflage von 1986 hier zu besprechen
ist; die erste Auflage erschien 1974. Es handelt sich um einen
geschlossenen Predigtzyklus, aus dem Zeitraum vom Februar bis
August 1919. Diese in der Straßburger Nicolai-Kirche gehaltenen
Predigten sind in doppelter Hinsicht von allergrößtem Interesse.

Zunächst einmal entfaltet Albert Schweitzer in ihnen die später in
seiner Kulturethik ausgeführte Lehre von der „Ehrfurcht vor dem
Leben" erstmals vor der Öffentlichkeit. Gemäß seinem Predigtstil ist
manches noch konkreter, lebendiger, damit freilich auch ungeschützter
dargelegt als später dann im Druck. Es hat einen eigentümlichen
Reiz, in diese Phase der ersten öffentlichen Entfaltung von Schweitzers
Gedanken hineinsehen zu können. Man spürt, daß er mit stärkstem
Engagement für ihn zentrale, ja für ihn schlechthin entscheidende
Gedanken vor der Straßburger Nicolai-Gemeinde ausbreitet:

„Es gilt um eure Seele. Wenn ich in diesen Worten, in denen ich das
Innerste meiner Gedanken preisgebe, euch, die ihr jetzt hier seid,
zwingen könnte, daß ihr den Trug, mit dem uns die Welt einschläfern
will, zerreißt, daß keiner von euch mehr gedankenlos sein kann, daß
ihr nicht mehr davor erschauert, die Ehrfurcht vor dem Leben und das
große Miterleben kennenlernen zu müssen, euch darin zu verlieren:
dann wäre ich zufrieden und würde meine Tätigkeit als gesegnet ansehen
, auch wenn ich wüßte, daß mir morgen das Predigen verboten
wird oder daß ich mit meinem Predigen bisher nichts ausgerichtet und
hinfort nichts anderes mehr ausrichten könnte. Ich, der ich sonst Wie
einer Angst habe. Einfluß auf Menschen auszuüben, wegen der Verantwortung
, die man dabei übernimmt, möchte Gewalt besitzen. euCB
zu verzaubern, daß ihr mitfühlend werdet, bis jeder von euch den
Schmerz erlebt, von dem man nicht mehr loskommt, wissend werde'
im Mitleiden; denn ich dürfte mir dann sagen, daß ihr auf dem Wegc
zum Guten seid und ihn nicht mehr verlieren könnt. Unser keiner lebt
sich selber: Möge uns das Wort verfolgen und nicht zur Ruhe kommen
lassen, bis man uns ins Grab bettet". So beschwört Albert
Schweitzer am Ende seiner zweiten Predigt über die Ehrfurcht vor
dem Leben seine Gemeinde (38). Predigttext ist Rom 14,7.

Zugleich lassen uns diese Predigten nicht nur in eine entscheidende
Phase der Ausformung seiner Kulturphilosophie hineinsehen, sondern
sie verraten uns auch, wie gerne und mit welcher Leidenschaft
Albert Schweitzer Prediger war. Weil es mit einem Verzicht auf d>e
Predigttätigkeit verbunden gewesen wäre, hat Schweitzer ja auf d*
ihm nahegelegte Habilitation als Philosoph verzichtet, obwohl er
doch andererseits Philosophie und Theologie bzw. Religion so eng
miteinander verflochten sieht, wie kaum ein anderer Theologe unseres
Jahrhunderts. Auch dafür sind diese Predigten ein eindrucksvolles
Dokument. Vernunft und Herz stimmen für ihn im Letzten übcR'"1-
„Vernunft und Herz müssen miteinander wirken" (21). „Das letzte
Ergebnis des Erkennens ist also dasselbe im Grunde, was-das Gebot