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Ausgabe:

1989

Spalte:

255-259

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Eco, Umberto

Titel/Untertitel:

Apokalyptiker und Integrierte 1989

Rezensent:

Engemann, Wilfried

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 4

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lauf eingreift. Freilich führt Machiavelli Inspirationen bedeutender
religiöser Gestalten (Moses) und andererseits Naturkatastrophen auf
göttliches Einwirken zurück. Trotz seiner nicht seltenen Bezugnahme
auf Christus und das Christentum kennt Machiavelli keinen persönlichen
christlichen Gott. Es fällt ihm deshalb auch leicht, das Christentum
zu relativieren und in eine - anscheinend unabsehbare - Reihe
bereits historischer oder noch zu erwartender Religionen einzureihen
(Disc. 11,5).

„Unterhalb" Gottes gibt es nur einzelne bedeutende Religionsslifter
wie Moses oder Christus. Es hat Erneuerungsversuche des Christentums
durch Männer wie Franziskus und Dominikus gegeben, weshalb
es sich trotz der Unzüchtigkeit der Päpste und Prälaten, trotz der
häufigen Verfälschung seiner Wahrheit hat halten können. Machia-
vellis Urteil wird bei solchen Erörterungen immer wieder ambivalent.
Das Antikuriale und Antiklerikale bleibt stets vorhanden, im übrigen
werden für die genannten Ordensgründer Armut und christusähnlicher
Lebenswandel gelobt (Disc. 111,1), während im übrigen Weitabgewandtheit
, Askese und Kontemplation geringgeschätzt werden -
vor allem, weil sie die Menschen zu untüchtigen Bürgern machen. Die
Argumentation dreht sich - vor allem bei der Erörterung der Demut -
zuweilen im Kreise. Offenbar wünscht Machiavelli - was er natürlich
nirgends ausspricht - eine Art Mischung aus positiven Elementen der
heidnisch-römischen und der christlichen Religion, damit die Menschen
seiner Zeit, speziell in Italien, auf opferbereiten Patriotismus
hingeführt werden. Jedenfalls muß Religion die übrigen den Staat
tragenden Säulen - also Verfassung, Gesetze, Erziehung, Moral und
Militärwesen - ergänzen: Dabei hat sie - um es scharf zuzuspitzen -
den wilden oder unkultivierten Menschen gehorsam und gläubig,
gegenüber dem Kult und den Gesetzen geradezu ängstlich zu machen.
Den Überfeinerten oder zur Weltflucht Neigenden hingegen hat sie in
dem Sinne tapfer und widerstandsfähig zu machen, daß er sich für das
Vaterland aufzuopfern bereit ist. Das Postulat ist schwerlich genauer
zu fassen und weist in mancher Hinsicht auf die Spätphase Rousseaus
hin, mit dem Machiavelli den „Deismus" wie manche utopische Vorstellung
teilt.

Als stark verinnerlicht und religiös ergriffen wird man Machiavelli
nicht bezeichnen können, so daß seine Achtung vor Männern wie
Moses, Franziskus, Dominikus und Savonarola eo ipso auf manchen
Mißverständnissen autbaut. Das Heilige oder Numinose ergreift ihn
selbst wohl kaum je - aber doch die dahinterstfhende Machtäußerung
. Man ist versucht, hier auf moderne Termini der Religionswissenschaft
wie Mana, Tabu und Magie zuzukommen,12 die er
nicht kannte und doch von der Sache oder von der Situation her ins
Spiel bringt. Gott oder auch die Fortuna sind supranaturale Kräfte,
die er - unter Anerkennung des freien menschlichen Willens - achtet.
Und nicht selten erweckt erden Eindruck, daß er vor den übernatürlichen
Kräften eher kapituliert als vor den immerhin berechenbaren
irdischen Mächten.

Jedoch - in solchen Zusammenhängen bezieht Machiavelli zuweilen
Positionen, die an Nietzsche und seinen Nihilismus erinnern
. Gott ist zwar noch nicht tot, aber fast alles geschieht ohne ihn
und in einer Art Kreislauf der ewigen Wiederkunft (K. Löwith), durch
eine quasi blinde und willkürliche Fortuna, die sich der machtvollen

Menschen, atich derer, die eine gewisse Virtü ausstrahlen, bedient.
Dies steht keineswegs wörtlich bei Machiavelli, wird jedoch deutlich,
wenn man sein häufiges Schwanken zwischen einer optimistischen
und einer pessimistischen Sicht der Welt und des Menschen ins Auge
faßt. Als Motto zum Vergleich beider Männer könnte Nietzsches
Bemerkung dienen: „Der Machiavellismus ist übermenschlich, göttlich
, transzendent"."

Abh ürzungen im Text:
II Principe = Princ.

Discorsi sopra la prima deca die Tito Livio = Disc.
Istorie Fiorentine = Ist. Fior.

1 Vgl. jetzt den Artikel von Christof Gestrich (TRE VIII, S. 392-406). - Zu
Christus als „datorc" der christlichen Lehre (ohne wesentliche Zusätze) s.
Disc. 1,12. Von einer Christologie oder Sotcriologie ist natürlich nirgends die
Rede.

2 S. H.-J. Diesner, Niccolö Machiavelli - Mensch. Macht, Politik und Staat
im 16. Jahrhundert, Bochum 1988, S. 136. - Eine entsprechende Einstellung
betont Machiavelli auch bei manch anderen Florentiner Bürgern, I
Ist. Fior 111,7.

' Zum Umfang und zur semantischen Bandbreite des machiavellischcn
Virtü-Begrifi'cs vgl. H.-J. Diesner. Die Virtü der, Principi bei Machiavelli
(Zeitschr. f. Hist. Forschung 12,1985, 385-428).

'* Obwohl er die „Sache" genau fixiert, verwendet Machiavelli den Begriff
,,Staatsräson" noch nicht, der jedoch bei seinem Landsmann und Zeitgenossen
Francesco Guicciardini schon auftaucht (s. dessen Dialog „Del Rcggimcnto d1
Firenze" von 1523; dazu R. de Mattei. II Problema della „Ragion di Stato"
nell'ctä della Controriforma, Milano/Napoli 1979; vgl. H.-J. Diesner, Fineals
Staatszweck/Staatsräson bei Machiavelli, in: Antike und Abendland, Bd. 33.
1987, S. 163).

4 Ausschlaggebende Stellen hierzu etwa: Princ. 1: 6IT; Disc. I, 2IT; 9tT; I
Proemioet passim; Ist. Fior. I, IIT.

5 Aus dem rein politischen Bereich wäre Michele die Lando, der ,,Volksheld
" des Ciompi-Aufstandes von 1378. hinzuzuzählen, s. Ist. Fior. III. IM

22.

Und damit natürlich auch seiner Religion! Vgl. den oben Anm. 3 genannten
Aufsatz, S. 394 et passim.

' Zu Giovanni Pagolo (Gjampaolo) Baglioni: G. de Caro (Dizionario
Biograficodegli Italiani, Bd. 5, 1963, S. 217-220).

* Hier liegt ein neuer „Anwendungsbereich" der vom „Principe" her g6'
gebenen Anthropologie, die es dem Fürsten nahegelegt, je nach der Situation
wechselweise Fuchs oder Löwe zu sein (Princ. 18).

* S. H.-J. Diesner (oben Anm. 2), S. 19.

10 ZuNum 16,32; 17.5;26,IOs.bes. Disc. 111,30.

" S. etwa L. Huovincn, Das Bild vom Menschen im politischen Denke"
Machiavellis, Helsinki 1951. - J. Macek. Machiavelli e il Machiavellismo.
Firenze 1980. -G. Sasso, Niccolö Machiavelli, Storia del suo pensicro polilic0,
Bologna 1980. bes. Kap. 6; ders., Machiavelli e gli Antichi e Altri Saggi, Bd. I
Milano/Napoli 1987.

12 Vgl. zu diesen Termini etwa : G. Widengren. Religionsphänomenologic'
ausd. Schwcd. v. R. Eignowski, Berlin (West) 1969. - J. Waardenburg. Religio*
nen und Religion, Berlin (Wcst)/New York 1986.

" In: Der Wille zur Macht (Kröners Taschenausgabe, Bd. 78, S. 214). In.de'
neuen kritischen Gesamtausgabe von Nictzschen Werken, hg. v. G. Colli u""
M. Montinari, 8. Abt., III. Bd., Berlin (West) New York-1972, die mir nur für
kurze Zeit zur Verfügung stand, konnte ich dasm. E. unzweifelhaft authentische
Zitat nicht aullinden.

Allgemeines, Festschriften

Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik
der Massenkultur. Aus dem Ital. von M. Looser. Frankfurt (M.):
Fischer Taschenbuch Verlag 1987. 312 S. m. Abb. 8" = Fischer
Wissenschaft, 1480. [im Text 1]

-: Über Gott und die Weif. Essays und Glossen. Deutsch von B.
Krocber. München: Deutscher Taschenbuchverlag (Lizenzausgabe
des Hanser Verlages, München) 2. Aufl. 1988. 305 S. m. 1 Abb. 8°.
=dtv, 10825. Kart. DM 12,80. [im Text 2]

Was geht in einer Kultur eigentlich vor, fragt Eco, wenn das, was
eben noch zu ihrer Entwicklung gehörte - angefangen bei den Ereig'
nissen, die die Kultur ausmachen, bis hin zu konkreten geistigen und
materiellen Produkten - in der „Massenkommunikation" zu zirkulic
ren beginnt? Welche Konstellationen zwischen dem Produzent*!
eines Werkes, dessen Medium, Botschaft und Empfänger bilden sich,
wenn z. B. ein Autor die fortsetzungsweise Veröffentlichung eine5
Zeitungsromans startet (vgl. I, 233-271), wenn Oral Roberts, ei»
amerikanischer „Heilsprophet", per Fernsehprogramm seine "hea-
ling power" suggeriert, wenn die zumindest medienwirksame Ma5'