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Ausgabe:

1989

Spalte:

224-225

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Neu anfangen - Christen laden ein zum Gespräch 1989

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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223

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 3

224

Kirchenlied hervortritt (Kap. 5). Das Buch wird mit einer zusammenfassenden
, kritischen Würdigung abgeschlossen.

Die Darstellung ist in jedem Kapitel logisch aufgebaut. Zuerst wird
über den Inhalt Bericht erstattet, danach folgt eine kritische Untersuchung
nach einem gemeinsamen Muster: Gibt es eine besondere
christliche Ethik? Wie wird das Situationsbezogene der Ethik wahrgenommen
? Welche Rolle spielt der Heilige Geist?

Im ersten Kapitel wird also die Ethik der Katechismen Martin
Luthers behandelt. Die Katechismen behalten nämlich immerfort
ihren Wert als das umfassende protestantische Lehrmittel der Ethik.
Das Programm wird aber insofern einseitig durchgeführt, als der
Dekalog hauptsächlich, obgleich nicht ausschließlich, in den Vordergrund
tritt. Er macht den Rahmen der Ethik aus, da es, mit Luthers
Worten, außerhalb der zehn Gebote keine guten Werke gibt. Bei dem
ausführlichen Durchgang der zehn Gebote von den aufgestellten
Beurteilungsgründen her treten die Schwächen der Dekalogauslegung
der Katechismen hervor. Nur wenige Gebote enthalten in der Auslegung
ein besonderes christliches proprium; dem Heiligen Geist wird
eine sehr bescheidene Rolle zugeteilt, und der Raum der speziellen
Situation ist begrenzt. Der Situationsbezug sollte durch die von den
sch. lastischen Theologen (z. B. Thomas von Aquin) übernommene
Ethik der Standesordnungen wahrgenommen werden. Im Vergleich
mit Thomas bedeutet doch Luthers Standes-Ethik eine Verhärtung.

Luthers Grundthese von der exklusiven Identität der christlichen
Ethik mit den zehn Geboten sei zu einseitig. Die Ethik müßte in
Beziehung zur ganzen Heiligen Schrift gesetzt werden und dadurch
dem spezifisch Christlichen einen größeren Platz liefern. Sie sollte
auch stärker die Rolle des Heiligep Geistes betonen. Das Programm
der Ethik sollte nämlich nicht Gesetz oder Geist, sondern, wie der
Titel des Buches, Gesetz und Geist sein.

Ein ähnliches, obgleich modifiziertes Bild tritt im Augsburger
Bekenntnis und in der Apologie hervor. In den zwei Kapiteln darüber
(die umfangreichsten des Buches) wird hervorgehoben, wie der Dekalog
auch hier die Richtschnur guter Werke darstellt. Der Inhalt der
Gebote ist im doppelten Liebesgebot zusammengefaßt und wird
grundlegend in irdischen Berufen und in der Ehe verwirklicht. Der
Beruf ist das Differentialprinzip der reformatorischen Ethik, das Mittel
der Individualisierung und Personalisierung des Guten. Der Autor
bejaht die Anlage, kritisiert sie aber für ihr mangelndes Verständnis
der neuschaffenden Wirksamkeit des Geistes. Die Anschuldigung
gegen Melanchthon, er habe den Geist ausgeklammert und mit seiner
ausschließlichen Betonung des Dekalogs den Weg zu einer Vergesetzlichung
der Ethik bereitet, gilt der ganzen Reformation.

Mit der Verdrängung des Geistes hängen die Schwierigkeiten zusammen
, das christliche proprium zu behaupten. Da der Dekalog
naturrechtlich verstanden und ausgelegt wird, tritt das Christliche in
den Hintergrund, obwohl es bei Melanchthon besser als bei Luther
vertreten ist. Um nicht zu einer Gesetzes- und Pflightlehre entstellt zu
werden, braucht die protestantische Ethik ein erneutes Nachdenken
über den Heiligen Geist und das christliche Liebesgebot. Die Liebe
wahrt das Neuschaffende und das Situationsbezogene. Sie ist stets im
Einvernehmen mit den Geboten, aber nicht identisch mit dem Gesetz.
Das Programm Gesetz und Geist müßte behauptet werden. Die Ethik
der Bekenntnisschriften ist darum nicht als obere Grenze zu betrachten
, sondern als Basis, Fundament und Ansatzpunkt. In der Ethik
muß es Raum für die missionarischen, katechetischen, seelsorgerlichen
und diakonischen Aufgaben der Gemeinde geben.

Bei Calvin wird die Stellung des Dekalogs noch mehr verstärkt. Calvin
entdeckt im Dekalog ein zuverlässiges Abbild der vollkommenen,
wenn auch verborgenen Gerechtigkeit Gottes. In der reformierten
Tradition spielt zwar der Beruf dieselbe Rolle wie im Luthertum die
Differentialethik, die Reformierten haben aber ein besseres Verständnis
für die Bedeutung des Heiligen Geistes. Auch das christliche
proprium ist durch die Betonung der Ehre Gottes stärker akzentuiert.
Die Hervorhebung der Heiligen Schrift ist ein Merkmal der reformierten
Tradition. Calvin war sich jedoch der Notwendigkeit einer reflektierten
Schriftauslegung bewußt. Seine Lehre von der Kraft des Geistes
als Motivation christlichen Handelns ist „ein kostbares Gegenmittel
gegen die im Protestantismus des 20. Jahrhunderts so oft anzutreffende
Verkündigung der christlichen Kraft- und Werklosigkeit"
(S. 436). Dennoch, das ist der Schlußsatz des Autors, besteht kein entscheidender
Unterschied im Inhalt der Differentialethik zwischen der
von Luther und Calvin beeinflußten Ethik.

Durch ihre Lehre vom terlius usus legis verstärkt die Konkordien-
formel den Zug der Gesetzlichkeit, und das evangelische Lied betont
einseitig den Vorsehungsglauben und den Beruf. Auch hier müßte das
Erbe mit dem Programm Gesetz und Evangelium korrigiert werden.

Diese Beurteilungen hängen mit der Auffassung zusammen, was die
Ethik im allgemeinen und die christliche Ethik im besonderen ist. Die
Fragestellung wird zu Beginn der Darstellung angedeutet, aber nie
ausführlich beleuchtet. Anstatt der unnötig langen Berichte zum
Inhalt der Bekenntnistexte wäre eine solche Prinzipiendiskussion von
größtem Interesse gewesen. Sie würde auch dem Leser, besser als das
jetzt der Fall ist, dazu geholfen haben, sich in der Frage des protestantischen
Erbes zu orientieren. Die heutige ethische Reflexion fordert
eine Stellungnahme zu Fragen der Übervölkerung, Energie, Umwelt
und Medizin. Die Texte des 16. Jh. beantworten natürlicherweise
nicht solche Fragen; können sie aber durch ihre Methode eine Anleitung
geben? Die Perspektive des Autors ist doch eine ganz andere.
Seiner Meinung nach ist es der Mangel der protestantischen Ethik,
daß sie Fragen der Mission, Diakonie und Seelsorge nicht behandelt
hat.

Die Diskussion über Prinzipien und Methoden, wozu die Bekenntnisschriften
Anlaß hätten geben können, wird also nicht geführt.
Schon in der Hochscholastik machte man sich Gedanken über das
Verhältnis zwischen dem natürlichen Gesetz und dem Dekalog. Sie
wird in den lutherischen Bekenntnisschriften weitergeführt. Bedeutet
Calvins Verschärfung der Stellung des Dekalogs in der reformierten
Kirche auch eine methodische Veränderung? Da der Autor solche
Fragen nicht beleuchtet, bedeutet das auch eine sehr summarische
Diskussion mit der älteren Forschung.

Jede christliche Reflexion, einschließlich der ethischen, steht in
einem Verhältnis zur Bibel. Da ihre Aussagen nicht nur wiederholt,
sondern erklärt werden müssen, treten die Auslegungsproblemc in
den Vordergrund. Obwohl der Vf. sich dieses Sachverhaltes bewußt
ist, wird er doch sparsam behandelt. Zwei Auslegungsprinzipien,
Synekdoche und Beruf, werden genannt. Wenn man von den zeitlichen
Begrenzungen dieser Auslegungen absieht, bleibt die Frage der
Methode bestehen. Mit welchem Recht, von welchen Gründen her
werden die biblischen Texte und der Dekalog ausgelegt? Wären Fragen
dieser Art gestellt worden, hätte der Leser deutlicher die Tragweite
des protestantischen Erbes sehen können.

Uppsala Holsten Fagcrberg

Praktische Theologie: Allgemeines

Dien, Otto, Jakob, Ben, u. Gerhard Köhnlein [Hg.]: Neu anfangen -
Christen laden ein zum Gespräch. Ein missionarisches Projekt öffnet
Türen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1988-
110S. 8' = Priestcrtum aller Gläubigen aktuell, 3. Kart.
DM 12,80.

Hier wird eine überzeugende neue Form der Evangelisation vorgestellt
, die Beachtung seitens der Praktischen Theologen verdient.
Die vom Gemeindeausschuß der VELKD entwickelte „missionarische
Doppeistrategie" ist manchen Kritikern zu wenig offen, anderen
dagegen nicht verbindlich genug. Das Projekt „Neu anfangen", dem
in der Schweiz die Aktion „Neues Leben" voranging, setzt die
„missionarische Doppelstrategie" in die Praxis um und beweist den
abstrakten Charakter der an ihr geübten Kritik. 1984 begannen sechs
lutherische und zwei katholische Gemeinden in Hamburg-Nord ein