Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1989

Spalte:

208-210

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Taube, Roselies

Titel/Untertitel:

Gott und das Ich 1989

Rezensent:

Mau, Rudolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

207

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 3

208

das gleiche Publikum (oft nur formaler Christen) ist, das heidnischen
Rhetoren wie christlichen Predigern lauscht. Im 4. Jh. erwies sich die
Kirche als ein „die Affinität beider erweisender" „Konvergenzpunkt
antiker und christlicher Tradition", die ihre humanisierende Wirkung
angesichts der Klassengegensätze etc. freilich nur in den Mönchsgemeinden
realisieren konnte: „Als Bischof und Prediger hat Chryso-
stomos versucht, diese humanisierende Wirkung auf die Stadtgemeinden
zu übertragen. Er wollte keine Klöster. Es ist ihm, für uns erkennbar
, nicht gelungen", das ist Stötzels Resümee (220).

Die Kirche - auch Chrysostomos - hörte (wir können nur sagen
fatalerweise) nicht auf die (ansatz weise etwa durch Gregor von Nyssa
verfochtene) prinzipielle Ablehnung der Sklaverei und Klassengesellschaft
. So bleibt auch Chrysostomos der philosophischen Gesellschaftskritik
mit ihrer reichen Bildersprache - aber auch ihren (auch
von ihm nicht überwundenen, sondern eher verstärkten) individual-
ethischen Engführungen treu: Der Reiche muß als der Allerärmste
erkannt werden, da ihm sein Reichtum doch nur schlaflose Nächte,
Sorgen und Un-Tugend bringt (61). So wird - auch durch die Übernahme
der Adiaphora-Lehre - besonders eindrucksvoll der Reiche zu
Werken der Barmherzigkeit, zur Homotimia (die sich in der wechselseitigen
Mitknechtschaft der christlichen Herren und christlichen
Sklaven äußern soll, 130ff), zu einer neuen inneren Haltung des
Dienens (im Rahmen der Kirche) aufgerufen: Aber wirklich radikale
Forderungen (die es von Seiten heidnisch-philosophischer Betonung
der natürlichen Gleichheit wie monastischer Kreise gab) - etwa nach
Abschaffung der Sklaverei-werden von Chrysostomos nicht erhoben.
Er fordert überaus eindrucksvoll eine Humanisierung der bestehenden
Verhältnisse, nicht mehr. Hier freilich kommt es zu einer entscheidenden
Wertungsdifferenz zwischen Autor und Rez. Stötzel
meint, daß Chrysostomos die Eigengesetzlichkeit des Christlichen,
Staatlichen, Gesellschaftlichen jedenfalls für seine Zeit richtig berücksichtigt
habe, daß er nur zu den Christen Antiochias und Konstantinopels
habe sprechen, nicht aber einen Auftrag gegenüber der
Gesamtgesellschaft habe wahrnehmen dürfen. Aber zu einer Zeit, in
der - für Chrysostomos bereits selbstverständlich - das Christentum
orthodoxer Prägung Staatsreligion war, hätte ein Aufruf an die Christen
, ihre Sklaven freizulassen und nicht nur, ihnen brüderlich in
Homotimia zu dienen, legitimerweise erfolgen können. Stötzels Folgerung
(127): „Eine mit Berufung auf das Christentum geforderte
Emanzipation der Sklaven würde eine unzulässige Übertragung des
Christlichen auf die Gesamtgesellschaft bedeuten - eine Zumutung,
die die nichtchristliche Gesellschaft nicht anders denn als Aufruhr
und Revolution, als Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung
verstehen könnte", kann ich so nicht sehen. Aber es könnte
auch sein, daß ein evangelischer Kirchenhistoriker des ausgehenden
20. Jh. Begriffen wie „Eigengesetzlichkeit" gegenüber besonders kritisch
eingestellt ist. Der Schlußfolgerung der schönen und instruktiven
Studie Stötzels (205) muß zugestimmt werden: „Es gibt keine Möglichkeit
nachzuprüfen, inwieweit sich das Leben der Christen von
Antiochien und Konstantinopel durch die Predigten des Chrysostomos
verändert hat. Als einzige, wenn auch subjektive Quelle stehen
wiederum nur die Homilien des Chrysostomos zur Verfügung. In
ihnen finden sich zahlreiche Belege, die als Reflexion der nicht geschehenen
Veränderung verstanden werden können."

In der moralischen Tradition der heidnischen Antike stehend, das
Christentum in monastischer Engführung interpretierend, sucht
Chrysostomos die Kirche als Ort der Humanisierung der Gesellschaft
seinen Predigthörern - deren Lebensstil durch das „Christentum in
der Gestalt der Volks- und Staatskirche" kaum tangiert wurde (218)-
nahezubringen. Daß Chrysostomos - die wohl respektabelste Gestalt
unter den Kirchenvätern um 400 - letztlich der Individualethik verhaftet
blieb, daß er - bei aller (ambivalenten) Wertung des Mönch-
tums - die heidnische Lebensphilosophie unter christlichem Vorzeichen
„als Vorbild und Maß des christlich Möglichen" (219) ansah,
wird in dieser lesenswerten Studie sehr überzeugend nachgewiesen.
Wien Peter F. Barton

Taube, Roselies: Gott und das Ich. Erörtert in einer Auseinandersetzung
mit Luthers Lehre über Glaube und Liebe in seinem Galater-
Kommentar (1531/35). Frankfurt/M.-Bern-New York: Lang
1986. 612 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII:
Theologie, 259. geb. sFr 84.-.

Die die Arbeit leitende Frage, „wie das ,Ich' im Glauben zu sich
selbst findet", wird von der Vfn. in einer langen Folge von Einzeldialogen
mit Texten aus Luthers Großem Galaterkommentar behandelt
, und zwar so, daß zu dem breit und mit häufigen Wiederholungen
thematisierten Erfahrungs- und Empfindungskontext heutiger Menschen
(„wir", „wir heute", „man") Aussagen Luthers als Denkanstöße
und mögliche Hilfen zitiert und erörtert werden. Die Betrachtungen
, Erlebnisschilderungen und Reflexionen sind oft spürbar persönlich
gefärbt und sollen es auch sein: „Zunächst gilt diese Klärung
mir selbst.. .-Aber doch nicht nur: denn" was T. im Dialog mit
Luther erfährt, habe ,ja nicht nur mit mir, sondern auch ,etwas' mit
Luther und mit dem zeitgenössischen, gegenwärtigen Wahrheitsbewußtsein
zu tun" (13). Auf eine theoretische Klärung des letzteren
wird bewußt verzichtet, da alle „Wahrheitstheorien" hinsichtlich
ihrer Akzeptanz doch auf ein Evidenzmoment angewiesen seien, „das
durch keine Denkanstrengung hinwegzuarbeiten ist" (14). So erspart
T. denn auch sich und dem Leser dieser „systematischen" (15) Arbeit
die Bezugnahme auf diverse thematisch einschlägige Literatur (wie
etwa W. Joest: Ontologie der Person bei Luther; W. Pannenberg:
Anthropologie in theologischer Perspektive; psychoanalytische Stan-
dardliteratur). Statt dessen will T. „dem Leseransinnen, den Reflexionen
des empirischen Ich, derjenigen, die schreibt, allgemeine Relevanz
zuzubilligen". Möglich werde dies um den Preis „der zuweilen
vielleicht recht umständlich wirkenden .Beleuchtung' eines Gedankens
von den verschiedenen Seiten her" (16). Sofern der Leser zu dem
von T. „eingeworbenen" Einverständnis gelangt, nimmt dieser teil an
einem Verhältnis von „Nähe und Fremdheit" zu Luther, an einem
Prozeß, der „von den Spannungspolen Betroffenheit und Distanz
geprägt ist" (14).

Nach einleitenden „Grundüberlegungen zur Rechtfertigung'
(21-39), in denen Luthers Verständnis von Liebe und Glauben sowie
seine Übernahme der provokanten Paulus-These „Die Welt ist mir
gekreuzigt" behandelt werden, entfaltet T. in zwei großflächige1
Teilen die Themen „Das Ich im Glauben" (41-254) und „Die Näch-,
stenliebe" (255-429). Anschließend legt T. ihre Sicht von Luthers
Gottesverständnis („Der dunkle Gott"; 431-503) dar, um dann m
einem nach allem Vorangehenden wohltuend konzis gefaßten Schlußteil
zu resümieren: „Die letzte Fremdheit zwischen Gott und Mensch
in Luthers Denken als Problem für die Ich-Findung und die Liebe
(505-514).

Die Vfn. hat Luthers Art des Sprechens und Denkens vielfach m'1
Staunen, nicht ohne innere Bewegtheit, aber dann vor allem doch mit
sich verstärkender Abwehr zur Kenntnis genommen. Luther - das
bedeutet hier: Galaterkommentar nach der „einzig in Frage kommen-
de(n) Walchschen Ausgabe" (2. Aufl. 1893; WA-Texte werden in den
Anmerkungen zititert) sowie, unter „Sekundärliteratur" zwischen
Luthardt und Marcuse genannt, wenn auch nirgends erkennbar verwertet
: Luthers Sermon „Von den guten Werken" und „Von der Freiheit
eines Christenmenschen" (nach Clemen, nicht „Clemens"-
Werke in Auswahl, nicht „Werke").

Argumentationsbasis der Vfn. ist der unbeschwert von erkenntnistheoretischer
oder anthropologischer Problemerhellung gebildete
Begriff „Ich an sich", dem gegenüber Luthers biblisch begründete (i"
dieser Hinsicht aber nirgends von T. erörterte) Bezeichnung des
Menschen als „Fleisch" von vornherein ins Unrecht gerät, insofern
Luther das Fleisch „so vehement, so vernichtend verurteilen kann'
(41). Mit manchem gewinnt Luther das Einverständnis von T.,soz. B-
mit seiner Absage an eine nie zur Ruhe kommende Werkgcrcchtig'
keit, in der modernes Leistungsdenken seine Entsprechung findet-
Aber zentrale Topoi seiner Theologie provozieren Widerspruch-