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Ausgabe:

1989

Spalte:

203-304

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ris, Georg

Titel/Untertitel:

Der "kirchliche Konstitutionalismus" 1989

Rezensent:

Brändle, Werner

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203

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 3

204

das Mainzer Domkapitel und der Erzbischof Geld von ihm liehen"
(106). Sein Nachfolger'Caspar von Westhausen wird von ihm abgehoben
: „Engelbrecht Erckel war 33 Jahre lang Propst von St. Marien
in Erfurt. Nie hatte er Erfurt betreten. In einer wichtigen Zeit für das
Kollegiatstift St. Marien hatte sich der erste Repräsentant des Kapitels
nicht darum gekümmert, welchen Nöten und äußeren Zwängen das
Kapitel ausgesetzt war. Westhausen dagegen kannte Erfurt schon aus
seiner Studienzeit. Desgleichen war er über die Situation in Erfurt
durch seine Funktionen als Siegler und Kanzler bestens informiert
und hatte oft genug die Bitten des Marienstifts und des Erfurter Rates
dem Mainzer Domkapitel vorgetragen" (III). Beeindruckend ausführlich
sind auch die Kapitel über die anderen Prälaten: Die Dekane
(137-186), die Scholaster (187-236) und die Kantoren (237-272).
Ein Personen- und Ortsregister beschließen den informationsreichen
Band. Das Buch ist aufschlußreich lür die Geschichte Erfurts, denn
das Marienstift war eine der wichtigsten Einrichtungen in der Stadt
durch mehr als sieben Jahrhunderte (1117-1837!). Zudem schildert
die Untersuchung indirekt den Übergang vom späten Mittelalter zur
Reformationszeit; und diese Epoche wird immer wieder Interesse
wecken.

Rostock Gert Haendler

Kirchengeschichte: Neuzeit

Ris, Georg: Der „kirchliche Konstitutionalismus". Hauptlinicn der
Verfassungsbildung in der evangelisch-lutherischen Kirche
Deutschlands im 19. Jahrhundert. Tübingen: Mohr 1988. X.239 S.
gr.8" = JusEcclesiasticum, 33. Lw. DM 58,-.

Die Fragen danach, was Kirche und wie ihre Sozialstruktur zu
bestimmen sei, schieben sich - gerade auch im ökumenischen
Gespräch - verstärkt in den Vordergrund. In der gegenwärtigen ekkle-
siologischen Debatte wird freilich die Konstitutionsfrage mehr in dogmatischer
Weise dahingehend beantwortet, daß von CA VII aus auf
die Konstitutionsbedingungen aufmerksam gemacht wird. Weil es
jedoch in der Kirche - vom Evangelium her - immer auch um das
Recht und die Freiheit des einzelnen geht, darf bei aller theologischen
Konzentration die institutionelle Perspektive keineswegs fehlen. Die
institutionelle Verfaßtheit der Kirche muß mitbedacht werden, wenn
die ekklesiologischen Bemühungen nicht nur einen dogmatischen
Binnenraum pflegen wollen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß mit
der vorliegenden Tübinger Dissertation von G. Ris von kirchenrechtlicher
Seite ein Beitrag zu einer „gegenwartsadäquaten Ekklesiologie"
geliefert wird.

Doch um es vorweg zu sagen: Ris löst die Erwartungen, die man
z. B. von systematisch-theologischer Seite an eine solche Untersuchung
heranträgt, nicht ein. Er kann und will sie insofern auch nicht
einlösen, weil er sich zum Ziel gesetzt hat, die Entwicklung des
„kirchl. Konstitutionalismus" im 19. Jh. nicht unter theologischen
oder rechtsphilosophischen Gesichtspunkten zu diskutieren, sondern
sie historisch darzustellen und die vielfaltige Quellenlage sorgfältig zu
belegen.

Diese Beschränkung ist also nicht nur als Kritik zu verstehen, sondern
macht letztlich die Stärke des Buches aus. Denn mit nüchternem
Fleiß und in äußerster Konzentration auf das Wesentliche beschreibt
Ris die Ordnungsmodelle in den evang. Landeskirchen von der Reformation
bis zur Preußischen Generalsynode von 1875. Wenngleich die
„Objektivität" der Darstellung, des Quellenmaterials und der zusammenfassenden
Urteile auf den ersten Blick bestechen, so gewinnt der
Leser bei fortlaufender Lektüre doch immer mehr den Eindruck, daß
hier Geschichtsschreibung in juristischer Perspektive sich als Wiedergabe
bzw. Paraphrase von Protokollsätzcn und Aktenvermerken verstehen
will. So hätte man an vielen Stellen gerne mehr über die politischen
und geistesgeschichtlichen Hintergründe der vorgeführten Stellungnahmen
der Kirchenmänner erfahren. Auch eine breiter angelegte
Reflexion auf die Methode der Darstellung und die leitenden

Interessen wäre nötig. Ris gibt lediglich an: „Auf der Grundlage der
älteren Kirchenverfassungstheorien wird die - überwiegend preußische
- kirchenreebtliche Literatur der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts
an den in die Öffentlichkeit gelangten Ergebnissen einiger
verfassungsberatender Synoden gespiegelt. (...) Zum Vergleich werden
einige Synodalberatungen in der evang. Kirche Bayerns, dem
katholischen Staat, in dem sich die evang. Kirchen z. T. recht früh
haben verselbständigen können, und Württembergs, das im Gegensatz
zu Preußen zu den ersten konstitutionell-ständisch verfaßten Staaten
gehörte, herangezogen." (8)

Um die Dringlichkeit der konstitutionellen Bemühungen der Landeskirchen
im 19. Jh. - also die Fragen nach „Wesen, Aufgabe, Ordnung
und Bindung, nach Bezügen und Wurzeln" (6) zu verstehen -,
stellt Ris in einem 1. Teil die Ordnung der luth. Kirchen bis ins 18. Jh.
in groben Linien dar. Dabei werden die Defizite der reformatorischen
Ekklesiologie nicht verschwiegen, denn die „Rechtsschwäche der
lutherischen Kirchenlehre schwächte die lutherische Kirche auch in
ihren geistlichen Bezügen". (19) Daß bei diesem Ansatz differenzierte
Urteile nicht immer möglich sind, versteht sich; merkwürdig ist nur,
daß der Vf. die Umstrittenheit seiner Urteile - besonders im Blick auf
Luthers Kirchenvorstellung - nicht kenntlich macht. Mit Recht stellt
Ris dagegen das Naturrecht als Legitimation für das Territorialsystem
des 17. und 18. Jh. heraus; er versäumt jedoch, dessen Funktion im
Konstitutionalismus des 19. Jh. zu verfolgen und aufzuarbeiten.

Im 2. Teil seiner Erörterung gibt Ris einen zeitgeschichtlichen
Überblick über die erste Hälfte des 19. Jh. und geht kurz auf die politischen
Rahmenbedingungen seiner Thematik ein. Er benützt diesen
Teil auch, um sein Ergebnis zu formulieren: Die Rheinisch-Westfälische
Kirchenordnung von 1835 (eine Kombination von presbyte-
rialer und synodaler Form) hat die Verfassungsbemühungen der
Landeskirchen mehr oder weniger direkt bestimmt. Das heißt, am
landesherrlichen Kirchenregiment wurde äußerlich festgehalten,
„innerlich aber mit Ausbildung kircheneigener Organe die Trennung
von Staat und Kirche vorbereitet". (85) Die Frage, ob die kirchlichen
Verfassungsordnungen „kirchlich", d. h. theologisch begründet wurden
, beantwortet Ris so, daß er - aufgrund des aufkommenden Nationalstaatsdenkens
- den Einfluß staatsrechtlicher Modelle geltend
macht. „Die evang. Kirche hatte somit gar keine Gelegenheit, Kriterien
für eine spezifisch kirchliche Ordnung zu entwerfen. Mitten im
Strudel der weltlichen Verfassungsbildung konzentrierten sich die an
der kirchlichen Verfassungsbildung Beteiligten darauf, das Wie der
Verfassung kirchlich zu prägen und ließen die Grundsatzfrage beiseite
." (87)

Dieses Ergebnis wird in einem 3. Teil stofflich untermauert, indem
die kirchenrechtlichen Positionen der einflußreichsten Persönlichkeiten
und Vertreter der jeweiligen Landeskirchen zu Worte kommen-
Diese im einzelnen auch theologisch weit auseinandergehenden Stimmen
bündelt der Vf. in seinem letzten (4.) Teil dadurch, daß er hier die
synodalen Verfassungsdiskussionen der einzelnen Landeskirchen vorführt
. Der Gipfel und das „Brcnnglas" ist die außerordentliche Generalsynode
Preußens von 1875. Ihr ging es darum, „das landesherrliche
Kirchenregiment beizubehalten, die Frontstellung von Kirchenregiment
und Synode aufzulösen und eine einvernehmliche Regelung
zwischen Staatsregierung, Parlament, Synode und Kirchenvcrwaltung
über eine neue Kirchenvcrfassungzu erreichen". (205) Und diese Verfassung
war zwar durch Bibel und Bekenntnisschriften ..überwölbt
und vom landesherrlichen Kirchenregiment relativiert, aber in positivem
Recht normiert". (215)

Die Untersuchung von Ris schließt mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis
und einem sehr kargen Namen- und Sachregister.
Trotz der vorgebrachten kritischen Einwände ist diese Arbeit eine
wertvolle Hilfe für alle diejenigen, die bei der gegenwärtigen Debatte
um eine Sozialstruktur der evangelischen Kirche sachgemäß theologisch
, kirchenrechtlich und geschichtlich argumentieren wollen.

Loccum Werner Brändlc