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Ausgabe:

1989

Spalte:

183-184

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Mathys, Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst 1989

Rezensent:

Sauer, Georg

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Seite 1

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183

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 3

184

Mathys, Hans-Peter: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen
zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe
(Lev 19,18). Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen:
Vandenhoeck& Ruprecht 1986. XII, 195 S. gr.8° = Orbis Biblicus et
Orientalis, 71. geb. DM 56,-.

Ohne Zweifel füllt das vorliegende Buch, das sich mit einem einzigen
Vers aus dem Alten Testament beschäftig, eine große Lücke. Der
Inhalt des behandelten Verses ist allerdings gewichtig genug und hätte
dem Autor auch noch bedeutend mehr Material geboten, wie dies
gelegentlich zum Ausdruck kommt. Es ist dem Vf. aber hoch anzurechnen
, daß er sich auf das Wesentliche beschränkt und damit ein
beachtliches Erstlingswerk vorgelegt hat. Es handelt sich bei dieser
Untersuchung um eine der Evangelisch-theologischen Fakultät Bern
vorgelegte Dissertation, die unter M. A. Klopfenstein im Jahre 1983
zum Abschluß gekommen war.

Es entspricht der klar vorgetragenen Arbeitsweise und dem dezi-
diert formulierten Ergebnis, wenn gleich anfangs darauf hingewiesen
wird, daß hier eine methodisch sehr geschickt aufgebaute und mit
beachtlichem Ergebnis abgeschlossene Untersuchung vorliegt.

Die Arbeit umfaßt fünf Hauptteile. Sie bauen aufeinander auf und
können sofort als in einem äußerst logischen Zusammenhang stehend
erkannt werden: I. „Die Übersetzung des Liebesgebotes" (S. 1-9).
Hier wird A. der Anschluß an die vorangehenden Gebote diskutiert,
B. die Formulierung 'hb /' anderen Versuchen gegenüber als Akkusativkonstruktion
verstanden und C. für das hebräische kamöka entgegen
anderer und beliebter Übersetzungen festgestellt: „Es spricht
also nichts gegen die traditionelle Übersetzung des Liebesgebotes, wie
sie sich auch in alten Versionen findet, aber viel gegen die von jüdischer
Seite vorgeschlagene" (S. 9).

Im zweiten Hauptteil ,, 'hb, re"c (und verwandte Begriffe), ger,
kamöka: ihre Bedeutung in Lev 19,18.34" (S. 11-55) werden die
genapnten Wörter in umsichtiger Weise in je ihrem Kontext behandelt
und ihre Bedeutung einer Klärung zugeführt. Der Vf. geht über
die in den Wörterbüchern gemachten Angaben insofern hinaus, als er
die Bedeutung der Begriffe strengauf Lev 19,18 immer wieder zurückbezieht
. Eine weitere Besonderheit im Zuge dieser Darlegungen ist der
ständige Bezug auf Aussagen im Alten Testament, die in vollem Wortlaut
, und daher stets überprüfbar zitiert werden. Hier werden gewichtige
Ergebnisse gewonnen, die sich darin zeigen, daß dem Vf der überzeugende
Nachweis gelingt, das Liebesgebot als politischen terminus
technicus im Alten Orient zu finden. Nicht nur in den Armarna-
Texten, sondern auch in assyrischen Vasallenverträgen begegnen diesbezügliche
Formulierungen: „Ihr schwört, daß ihr Assurbanipal, den
Kronprinz, den Sohn des Asarhaddon, den König von Assyrien, euern
Herrn, lieben werdet, wie (ihr) euer (eigenes) Leben (liebt)" (S. 26).
Nach differenzierten Untersuchungen kommt der Vf. bezüglich der
Bedeutung des Wortes re"c zu dem Resultat: „Das Gebot der
Nächstenliebe bezieht sich im jetzigen Zusammenhang auf den Volksgenossen
" (S. 39).

Nach dieser Klärung des Textes und der Wortbedeutung von
Lev 19,18 kommt der Vf. in seinem dritten Teil zu literarkritischen
Überlegungen: „Das Liebesgebot als Teil von Lev 19,11-18, Lev 19
und des Heiligkeitsgesetzes" (S. 57-117). Hier wird die Sonderstellung
der beiden Verse 17 und 18 innerhalb des Kontextes 11-18
und sodann der komplizierte Aufbau des ganzen Kapitels 19 erschöpfend
dargestellt. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die im späteren
Verlauf der Darlegung noch eine große Rolle spielen wird, wird
auf S. 79 mit Jagersma gewonnen: „Lev 19 bildet das Programm der
spätexilischen Gemeinde; das Kapitel enthält alles, was sie als Tür ihr
Zusammenleben in der Diaspora und ihr zukünftiges Leben in Israel
grundsätzlich ansah." Auch die Behandlung des Heiligkeitsgesetzes
(Lev 17-26) zeugt von der umsichtigen Arbeitsweise des Vf. und
schließt diese Deduktionen mit einer Behandlung der Bedeutung
„heilig" für Volk und Land ab. „Die Heiligkeit bildet das bestimmende
theologische Konzept von Lev 17-26. Die ganze Israel betreffende
Wirklichkeit wird - und das ist theologisch neu im Heiligkeitsgesetz
- mit Hilfe dieser Kategorie erfaßt. Die Beziehungen zwischen
Gott, Israeliten, Priestern und Kultsphäre werden praktisch alle mit
der Wurzel qds umschrieben" (S. 104).

In den beiden folgenden Teilen werden historische und theologische
Folgerungen gezogen, so in IV. „Die historische Verortung des Liebesgebotes
" (S. 119-142). Eingangs wird auf die Schriften von Qumran
hingewiesen, sodann auf die Lage während des Exils und schließlich
auf die vor- und nachexilische Zeit. Im Zuge dieser Ausführungen
werden auch die grundlegenden Arbeiten von Antoine Causse und
Max Weber erwähnt, die sich mit dem Wandel vom politischen zum
konfessionellen Verband des Volkes Israel beschäftigen. Der Vf. weiß
sehr wohl um die Schwierigkeit, einen historischen Ort für das Liebesgebot
zu finden. Er versteht es aber, eine große Wahrscheinlichkeit
aufzuweisen für die Ansetzung in der schon früher erwähnten spät-
exilischen Zeit.

Den Höhepunkt der Arbeit bildet zweifellos das V. Kapitel „Der
systematische Ort des Liebesgebotes" (S. 143-173). Neben dem Hinweis
auf andere Gebote innerhalb des Pentateuchs kommt der Vf. sehr
rasch auf das Gebot deY Gottesliebe im deuteronomisch-deuterono-
mistischen Bereich zu sprechen und kann hier erneut auf die Forderung
des Liebesgebotes in den assyrischen Vasallenverträgen hinweisen
(mit Moran auf S. 149). Diese Sätze geben dann auch die Basis ab,
um auf das Phänomen des Doppelgebotes der Liebe, soweit e» bereits
im Alten Testament potentiell angelegt ist, einzugehen. Das Resultat
findet sich auf S. 154: „Die Zusammenfassung von Dtn 6,5 und
Lev 19,18 zum Doppelgebot der Liebe ist im Alten Testament
angelegt. Es weist die gleiche Struktur wie der Dekalog auf: In seinem
ersten Teil regelt es das Verhalten gegenüber Gott (mit Betonung des
Ausschließlichkeitsanspruchs), im zweiten gegenüber dem Nächsten,
ohne die beiden explizit in eine innere Beziehung zueinander zu bringen
." Den Beschluß machen einige Ausführungen über Grundzüge
einer alttestamentlichen Ethik, von der mit Recht gesagt wird, daß sie
erst ansatzweise geschrieben worden ist (S. 155).

Fragen zu der Behandlung des angegebenen Themas ergeben sich
da, wo der Vf. Ausführungen zum historischen Ort und zur theologischen
Auswertung macht und dabei in einer überraschenden Wendung
auch immer wieder ausführlich wissenschaftstheoretische und
wissenschaftsgeschichtliche Angaben macht. Daß er nach der Behandlung
der Qumranschriftcn auf Causse und Weber eingeht und
danach auf die christliche Literatur und wiederum danach auf die
exilische und vor- bzw. nachexilische Situation hinweist, ist nicht
ohne Schwierigkeit einsichtig zu machen. Wäre es nicht folgerichtiger
gewesen, die wissenschaftsgeschichtlichen Erörterungen an den Anfang
zu stellen, um danach die den Texten entnommenen Angaben
von der vorexilischen Zeit beginnend bis hin zu Augustin zu behandeln
? Ob dadurch nicht auch eine eindeutigere systematisch-theologische
Aussage hätte gemacht werden können?

Im Hinblick auf kleinere Probleme möchte der Rez. bemerken, daß
auch bei Maleachi und Sach 7f (trotz der Angaben auf S. 167) auch
ethische und nicht nur kultische Forderungen erhoben werden
(S. 140). Ferner hätte auf die Problematik der Übersetzung aus Ben
Sira 34,15 (G) hingewiesen werden können: Es ist sicher bessert'/'zU
lesen als r'h. Dadurch läßt sich auch die Übersetzung der Septuagintä
besser rechtfertigen (S. 47).

Schließlich noch eine drucktechnische Bemerkung: Da ein hebräischer
Satz offensichtlich durchaus möglich ist (siehe S. 161), hätte
davon sicher auch bei der Zitation der vielen alttestamentlichen
Zusammenhänge Gebrauch gemacht werden können. Die etwas komplizierte
Umschrift im Inneren des Textes wirkt leicht verwirrend.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 175-188) und ein Bibelstellenregister
(S. 189-195) beschließen die gewichtige und begrüßenswerte
Arbeit.

Wien Cicorg Sauer