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Ausgabe:

1988

Spalte:

153-155

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Titel/Untertitel:

Religion des Bürgers 1988

Rezensent:

Langer, Jens

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153

Theologische Literaturzeitung 1 13. Jahrgang 1988 Nr. 2

Nadig [1874-1957]: Sozialistin - Feministin - Pazifistin" (113-121)
nimmt innerhalb dieses Bandes eine Sonderstellung ein. Sie tritt
engagiert für die Einheit von „Friedensbewegung, ,Dritte-Welt'-
Bewegung und Ökologiebewegung" (120) ein.

Das Leitmotiv dieses ganzen Bandes erfährt im Beitrag von
Wolf-Eckart Failing seine entscheidende Akzentuierung, indem er
unter den Begriffen „Reich Gottes und Nachfolge" (165-172) gleichsam
die Klammer für die einzelnen Beiträge parat hält. Was Failing
von Ragaz her dazu im einzelnen ausführt, entfaltet er unter den
Stichpunkten „Glaube und Sache" (1650, „Prophetische Nachfolge"
(166-169), „Kämpferische Spiritualität" (1690 und „Lebensreform -
sozialistischer Lebensstil- Nachfolge" (1700-

Eine weitere Teilauflagc ist allerdings nur dann zu empfehlen, wenn
die zahlreichen Fehler (Druckfehler, Titel- und Litcraturangaben,
Zitate!) erfaßt, korrigiert und auch die fehlerhaften Korrekturen in
den „Berichtigungen" getilgt sind. Eine Bibliographie der wesentlichen
Schriften von Ragaz und Hinweise auf Sekundärliteratur beschließen
diesen Band.

Leipzig Dittmar Rostig

Kleger, Heinz, u. Alois Müller [Hg.]: Religion des Bürgers. Zivilreligion
in Amerika und Europa. München: Kaiser 1986. 280 S. 8' =
Religion-Wissen-Kultur, 3. Kart. DM 48,-.

Mit zwei Sätzen pointiert der Züricher Professor für Philosophie
und Politische Theorie Hermann Lübbe das Problem: „Das Stichwort
•Zivilreligion' kennzeichnet gegenwärtig bekanntlich in erster Linie
den Gegenstand einer spezialisierten Forschungsrichtung innerhalb
der Religionssoziologie in den USA. (...) Die pflichtschuldige europäische
Rezeption der amerikanischen Neuigkeit darf inzwischen,
voran durch Niklas Luhmann. als besorgt gelten." (195) Die Souvcrä-
n'tät, mit der Lübbe anschließend die Sachfragen erklärt, wird gespeist
von der Luzidität seiner Analyse, die wohl bis* zur Ironie gehen
kann und damit auch die Theologie keinesfalls verschont, aber immer
7-ur Höhe eines dem Gegenstand adäquaten Urteils führt, das durch
glänzende Einfachheit besticht. Angesichts eines vordergründig so
hausbacken erscheinenden Problems sei dessen Interesse entfachende
Behandlung ausdrücklich hervorgehoben, wobei die so gestaltete
innere Durchdringung des Themas dem Leser Erkenntniszuwachs
hohen Grades schenkt. Inscinem hier abgedruckten Aufsatz von 1981
wendet Lübbe sich jenen Beständen religiöser Kultur speziell in der
BRD zu, „die in das politische System integriert sind, die somit auch
den Religionsgemeinschaften nicht als ihre interne Angelegenheit
uberlassen bleiben, in dieser Charakteristik Bürger auch in ihrer reli-
8'ösen Existenz an das politische Gemeinwesen binden und dieses
Gemeinwesen selbst in seinen Institutionen und Repräsentanten als in
'etzter Instanz religiös legitimiert sichtbar machen". (196) Damit liegt
e'n schier unerschöpfliches Fallbeispiel für Zivilreligion vor. Handelt
es sich um den Mißbrauch von Religion? Nein, um eine historische
Entwicklung, die durchschaubar gemacht werden muß. Zivilreligion
8'bt es im Ergebnis der Aufklärung. Wie auch andere Autoren des
Bandes verweist L. auf Rousseau (Ouvres completes III, Paris 1964,
S. 460-469; dazu K. D. Erdmann, Das Verhältnis von Staat und Religion
nach der Sozialphilosophie Rousseaus. Der Begriff der«religion
civile» [= Historische Studien 271], Berlin 1935).

Bei allen Unterschieden seitdem ist es bei der Minimalisicrung der
bekenntnismäßig ausformulierten Gehalte geblieben. Aber bei der
Anrufung Gottes in verfaßter Liberalität, bei offiziellen Anlässen
'nklusive kirchlicher Repräsentanz und sogar in medial potenter
Kirchlichkeit geht es nicht um diese Minimalisicrung und eine dahinterstehende
Privatisierung, vielmehr handelt es sich bei solchep
Bekundungen in den entsprechenden Gesellschaften um den Ausdruck
des Bewußtseins, daß solche religiösen Orientierungen
konsensuell „gemeinswohlerheblich" sind. Zivilreligion ist nicht mit
kirchlichen Institutionen identisch und verfügt über keine eigenen. Sie

kann im übrigen nicht vitaler sein als die empirisch vorhandenen religiösen
Gemeinschaften. Bei aller Eigenständigkeit der Zivilreligion
gibt es also auch Bedingtheiten. Ausdifferenzierung der Systeme bedeutet
eben nicht Auflösung des religiösen Systems, sondern Entfaltung
seiner Eigenart. Zivilrcligion bedeutet ausführlich zusammengefaßt
demnach in der bürgerlichen Demokratie westlicher Couleur:
„Zivilreligion ist das Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur,
die in das politische System faktisch oder sogar formlich institutionell,
wie im religiösen Staatsrecht, integriert sind, die somit auch den Religionsgemeinschaften
nicht als ihre efgene interne Angelegenheit überlassen
sind, die unbeschadet gewährleisteter Freiheit der Religion die
Bürger unabhängig von ihren konfessionellen Zugehörigkeitsverhältnissen
auch in ihrer religiösen Existenz an das Gemeinwesen binden
und dieses Gemeinwesen selbst in seinen Institutionen und Repräsentanten
als in letzter Instanz religiös legitimiert, das heißt auch aus
religiösen Gründen anerkennungsfähig darstellt." (206)

Gegen die mit alledem verbundene Neutralisierung der Religion
und die Aufhebung des spezifisch Christlichen in ein allgemein konsensfähiges
Religiöses wendet sich die Politische Theologie. Sie beansprucht
den Glauben als Widerstand und Zukunftsvision für konkrete
gesellschaftliche Anliegen. Wenn es sich bei diesem Engagement nicht
um „Protuberanzen von Fusions- und Konfusionsprozessen in Theologischen
Seminaren handelte, sondern um Signale, auf die auch bei
uns wieder die Völker zu hören begännen", dann würde es auch mit
der Religion wieder ganz ernst. (209) Lübbe hält diese Vorstellung jedoch
für „politromantisch". (210) Wie gelebt werden soll, ist für ihn
„Sache der politischen Urteilskraft", (ebd.) Richtig ist daran, daß
diese religiöse Haltung gegen jeden Absolutheitsanspruch immunisiert
. Insofern wird der liberale Staat von Garantien getragen, die nicht
er selbst geschaffen hat. Also scheint die Religion nach der Aufklärung
„selbst zu den kulturellen Bedingungen der politischen Erhaltungsfähigkeit
ihrer Errungenschaften zu gehören". (212) Wenn Lübbe die
Wertorientierung in den sozialistischen Staaten als „Antizivilreli-
gion" (ebd.) charakterisiert, wird für diesen Zusammenhang deutlich,
daß auch er mit einem bedeutenden Aufsatz aus dem Jahre 1981 sich
vermutlich prinzipiell nicht und keinesfalls aktuell in einem innovatorischen
Erkenntnishorizont bewegt. Denn bewußte Selektion und
Rezeption auch des christlichen Erbes enthält doch wohl die Option
für dessen bewahrende Kraft für die Existenz in einer nachaufklärerischen
Gesellschaft. Diese Aussage wenigstens soll mit Dank für die
Anregungen Lübbes gewagt werden, wie anders und kompliziert im
einzelnen auch der Rezeptionsprozeß christlicher Tradition in sozialistischen
Gesellschaften verlaufen mag.

Lübbes Arbeit bedeutet eine stillschweigende Auseinandersetzung
und Situationalisation von Robert N. Bellah, Zivilreligion in Amerika
(19-41). Dieser Aufsatz von 1967 leitete den Rückimport und die
Neuakzentuierung der Thematik ein. Eine elf Jahre jüngere Untersuchung
des amerikanischen Soziologen (42-63) führt bis zur
kritischen Auseinandersetzung mit der jüngeren amerikanischen Geschichte
(„Die Religion und die Legitimation der amerikanischen
Republik"). Leo Layendecker äußert sich über niederländische
Aspekte (64-84). Gustavo Guizzardi beschreibt den Theismus der
komplexen italienischen Gesellschaft mit seinen öffentlichen Funktionen
(85-103), Edward Bailey Zivilreligion in Großbritannien
(104-120) und Jean-Paul Willaime dieselbe nach „französischem
Muster" (147-174). Adalbert Saurma entwickelt das Thema anhand
von „Schweizer Treu und Glaube" (121 -146).

Gerade diese ökumenische Vielfalt der Beiträge ermöglicht die Einschätzung
der Rolle, die das verhandelte Phänomen in den verschiedenen
Gesellschaften spielt, wenn sie bedauerlicherweise auch nicht
mehr im einzelnen gewürdigt werden können. Dazu gehört die Abhandlung
von Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion (175-194, aus:
ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, 293-308), die sich
desselben Kontextes annimmt wie Lübbe.

Die verdienstvollen Hgg. helfen einleitend dem Leser, sich in der
schon von Bellah in seinem zweiten Aufsatz beklagten Begriffsvielfalt