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Ausgabe:

1988

Spalte:

143-145

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Willi, Jürg

Titel/Untertitel:

Koevolution 1988

Rezensent:

Ziemer, Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 2

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fahrung der unausweichlichen Güterabwägung ausgingen. Beide Ansätze
haben laut Vf. ihre Berechtigung und ihre Schwierigkeiten. Die
Lösung sieht er in einer Vermittlung des neuscholastischen Ansatzes
mit demjenigen der neueren Autoren: Dem Menschsein entsprechende
Handlungen könnten nicht ohne Abschätzung der Handlungsfolgen
beurteilt werden, und umgekehrt setze eine Folgenabwägung
ein Grundverständnis der menschlichen Existenz voraus (vgl. 300).

Wer von der vorliegenden Arbeit wirklich weiterführende Über-,
legungen erwartet, wird nach der Lektüre der 365 Seiten etwas enttäuscht
sein. Die Lösungsvorschläge des Vf. vermögen in verschiedener
Hinsicht nicht recht zu überzeugen. Wollte man die neueren
Ansätze erfolgversprechend weitertreiben, so wäre wohl nebst der
Konfrontation mit der neuscholastischen Tradition eine Auseinandersetzung
mit zeitgenössischen philosophisch-ethischen Konzepten
(außerhalb der Wertethik) unumgänglich. Nun war es aber
weniger die Absicht des Vf., weiterführende Überlegungen zum
Thema anzustellen, als vielmehr die einschlägigen neuscholastischen
Aussagen und neueren moraltheologischen Ansätze darzustellen. Wer
- also eine Übersicht über die neuscholastische Lehre zu den Quellen
der Moralität sucht, wird diese Studie dankbar zur Kenntnis
nehmen.

Fribourg Adrian Holderegger

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Willi, Jürg: Koevolution. Die Kunst gemeinsamen Wachsens. Reinbek
: Rowohlt 1985.317 S.8'.

Der bekannte Zürcher Psychotherapeut wendet sich nach „Die
Zweierbeziehung" (Reinbek 1975) und „Therapie der Zweierbeziehung
" (Reinbek 1978) in seinem neuen Buch allgemeineren Aspekten
der menschlichen Beziehung zu. In gewisser Weise steht das Buch in
einer Linie mit E. Fromms „Haben oder Sein" (Stuttgart 1976) und
H. E. Richters „Der Gotteskomplex" (Reinbek 1979), obwohl W.
beide überraschenderweise nicht erwähnt. Das Gemeinsame der genannten
Bücher ist der Versuch einer philosophisch-anthropologischen
Gesamtschau auf dem Hintergrund konkreter psychotherapeutischer
Erfahrungen. W. sieht unsere Zeit als „Zeitalter des
Narzißmus und des Zerfalls menschlicher Ökosysteme" (15), d. h.,
ihre wesentliche Signatur ist die Isolation des Einzelnen, der sich nicht
mehr als Teil eines Ganzen, eines „Systems" zu begreifen und zu erleben
vermag. Mit dem etwas modisch wirkenden Begriff des „Ökologischen
" will W. genau das Gegenteil einer isolationistischen Lebensweise
kennzeichnen: Leben ist nur im dauernden Austausch mit der
menschlichen und natürlichen Umwelt möglich - eben in „Koevolution
".

Von diesem Ansatz her ist das Buch zu einem guten Teil die Auseinandersetzung
des Autors mit der klassischen Psychoanalyse, vor
allem Freudscher Prägung. Zwar ist W.s Konzept der „Paartherapie"
ohne den psychoanalytischen Hintergrund gar nicht denkbar, aber die
korrigierenden Weichenstellungen sind unübersehbar. Für W. ist in
der psychotherapeutischen Bemühung nicht primär die „Persönlichkeitsstruktur
" maßgeblich, sondern die „Beziehungsstruktur" (86);
und er sieht das Ziel einer Therapie nicht in der Veränderung der
Persönlichkeit, sondern in deren Befähigung zum Handeln trotz Angst
und neurotischer Disposition (95). Der Blick geht nicht auf das Individuum
, sondern auf die „Person", die W. als „In-Beziehung-Stehen-
des" (82) definiert. Hier wird deutlich, in wie starkem Maße sich der
Autor an der Begegnungsphilosophie, speziell an M. Buber, orientiert
(64ff). Eine andere wichtige Komponente der Gedanken W.s stellt die
„Systemtheorie" dar: So wird die „linearkausale Betrachtungsweise"
(wie sie der individuumzentrierten Psychoanalyse eigen ist) durch eine
„zirkuläre ersetzt, durch eine Betrachtungsweise der Gegenseitigkeit,
des wechselseitigen Sichbedingens und Bedingtseins" (79). Die Einzelperson
also wird als Teil eines übergreifenden „Systems" verstanden,
was sich praktisch in der Hinwendung zur Paar- und Familientherapie
realisiert.

W. setzt im ersten der drei Kapitel ein mit Ausführungen zur „ökologischen
Sicht der Selbstverwirklichung" (7). W. nennt und analysiert
drei Stufen von „Selbstverwirklichung":

a) „abgrenzende Selbstverwirklichung" (39ff): Darin wird der
authentische, umweltunabhängige, seiner selbst gewisse Einzelne
erstrebt. W. setzt sich hier kritisch mit der „humanistischen Psychologie
", besonders mit C. Rogers, auseinander: Die „abgrenzende"
Selbstverwirklichung berge in sich die Gefahr radikaler egoistischer
Selbstbehauptung, wenn Bedürfnisbefriedigung unbedenklich als Ziel
angesehen werde. Wo das „Böse" nur außen gesehen werde, nicht als
der zum Selbst gehörende „Schatten" (Jung), ist eine wirkliche Liebesgemeinschaft
nicht möglich (49). Das Vertrauen darauf, daß das sich
abgrenzende, selbstbehauptende Individuum aus sich heraus stets das
Gute auch für den andern und die Umwelt wirke, bleibt illusionär.

b) „transzendentale Selbstverwirklichung" (53IT): Hier geht es um
„Entgrenzung" statt „Abgrenzung". Treffend erinnert W. daran, daß
in den siebziger Jahren die „Zauberwörtchen" „Ich" und „Nein" dem
Trend von „Ganz" und „Trans" weichen mußten. Das hier Gemeinte
stellt sich für W. besonders dar in C. G. Jungs Begriff des „Selbst", das
etwas „viel Umfassenderes und Ganzheitlicheres ist als das bewußte
Ich", nämlich die „Gesamtpersönlichkeit", die „transzendente
Wesenheit", die wir erstreben, aber nie ganz erfassen können (54).

c) „ökologische Selbstverwirklichung" (61 ff): Sie versteht W. als
Synthese aus den ersten beiden Stufen. Es geht um die persönliche
Selbstverwirklichung, die aber nur im Bezug zur realen, geschichtlichen
Umwelt möglich ist. Diese Weise der Selbstverwirklichung
kann auch als „dialogische" verstanden werden (70). W. hält zumindest
die Möglichkeit offen, dieses Verständnis der Selbstvcrwirk-
lichung mit dem christlichen Glauben an einen persönlichen Gott zu
verknüpfen (71). Jedenfalls erscheint mir die von W. dargelegte „ökologische
" Sicht der Selbstverwirklichung geeignet, traditionelle theologische
Vorbehalte "gegen über einem Selbstverwirklichungsstreben
des Menschen zu überdenken.

Im 2. Kapitel geht es nun um die „Koevolution der Person mit ihren
Beziehungssystemen". Im Blickpunkt steht darin die „Kunst gemeinsamen
Wachsens in Partnerschaft" (123 ff). W. betont gegen einen
vorherrschenden Trend die „wachstumsfördernden Möglichkeiten
dauerhafter Lebensgemeinschaften" (124) mit ihren „systemeigenen
Gesetzmäßigkeiten" (129). Er äußert sich skeptisch gegenüber einem
zu frühen Trennungsrat bei unbefriedigender Persönlichkeits- und
Beziehungsentwicklung („Ehescheidung als .Leistungsnachweis' für
Emanzipation"! 124); denn Trennung ist „Zerstörung nicht nur der
Beziehung, sondern des eigenen Selbst" (129). Koevolution zielt nun
allerdings auf ein Gemeinschaftserleben, bei dem stets auch Grenzen
bewußt und fühlbar werden: Grenzen für eigene Glückserfüllung und
Grenzen gegenseitigen Verstehens. W. warnt vor überzogener Glückserwartung
an die Lebensgemeinschaft, die dann als unerträglicher
Druck auf ihr lastet. Er hilft so zu einem realistischen Verständnis der
Ehe, in der auch Spannungen und Widerstände notwendig und gegeben
sind. „Die Partner müssen hinreichend zueinander passen, ohne
sich gegenseitig völlig zu entsprechen." (131)

Die persönlichkeitsfördernden Aspekte der Lebensgemeinschaft
werden besonders beleuchtet durch die Fallgeschichten von fünf Neu-
rotikerehen (150ff). In allen Fällen hat W. durch die Ehe eine deutliche
Besserung der teilweise beträchtlichen Symptome beobachtet.
W. setzt sich in diesem Zusammenhang mit der vor allem von Psychoanalytikern
gestützten Prämisse auseinander, wonach die Beziehungsfähigkeit
einer Person die eigene Unabhängigkeit und Stabilität zur
Voraussetzung habe. Die angeführten Beispiele lassen erkennen, wie
Persönlichkeitsreifung und seelische Heilung gerade in der Koevolution
mit dem Partner möglich werden können. Freilich muß hier vor
Trugschlüssen gewarnt werden: Bei den fünf Paaren handelt es sich
um ehemalige Patienten einer Psychotherapiestation, die ihre Part-