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Ausgabe:

1988

Spalte:

132-133

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich

Titel/Untertitel:

Dialektik 1988

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 2

132

Die beiden Höhepunkte des Bandes bilden die Untersuchung über
„Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter" von
1898 (55-114) sowie die Abhandlung „Unsere Pflicht zur Politik" aus
dem Jahre 1913 (144-180). Die Bedeutung des erstgenannten Textes
liegt nicht nur darin, daß es sich dabei um eine der ersten empirischen
Untersuchungen zum Thema handelt, sondern daß neben unkirchlichen
Arbeitern auch kirchlich gebundene zu Worte kommen. Dadurch
werden, trotz wichtiger Unterschiede, doch auch interessante
Gemeinsamkeiten im Urteil erkennbar: die Vorbehalte gegenüber der
Staatskirche und insbesondere ihren Dienern, den Pfarrern; die Hochschätzung
der Persönlichkeit Jesu und die kritische Einstellunggegenüber
Luther; die Faszination, die vom Entwicklungsgedanken ausging
; die hohe Wertschätzung der Familie und des Familienlebens;
schließlich die schroffe Ablehnung der christlichen Wohltätigkeit, die
ein entschieden kirchlicher Arbeiter in die Worte faßte: „Wir
Industriearbeiter wollen auch nicht Wohltaten, sondern unser
Recht." (104) Der andere Text, Rades Werben um das politische
Engagement der Christen, ist deshalb so wichtig, weil er einen Gegenentwurf
zu den Vorstellungen und Zielsetzungen der Alldeutschen
darstellt. Heinrich Claß hatte 1912 unter dem Pseudonym Frymann
das Buch „Wenn ich der Kaiser war'" veröffentlicht, das sogleich ein
großer Erfolg wurde. Während der Führer der Alldeutschen die Diktatur
forderte, setzte sich Rade für die politische Arbeit in den bestehenden
Parteien ein. Auch er kritisierte scharf die Zustände am Hof
(163). Aber die Unterdrückung der nationalen Minderheiten im Reich
lehnte er ebenso ab (164) wie die Wahlmanipulationen der Konservativen
im Osten (164-166) und die brutale Interessenpolitik in allen
Lagern (166-168). Gegen die hemmungslose Machlpolitik setzte
Rade den Willen zur Verständigung (169-173) und plädierte für eine
„moralische Entrüstung" gegen diesen Kurs (177-179). „Denn unsere
Zukunft hängt davon ab, ob wir endlich ein politisches Volk werden
, d. h., ob wir noch moralisch hineinwachsen in das Eine neue
Reich, das uns spät genug in der Geschichte unserer Völkergruppe beschert
worden ist." (I79f) Gerade weil ein so großer Teil des deutschen
Protestantismus sich zu den Alldeutschen hingezogen fühlte
und dann im Ersten Weltkrieg im Lager der Vaterlandspartei stand, ist
die Erinnerung an diese auf Parlamentarisierung und Demokratie
zielende Tradition so wichtig. Auch deshalb möchte man diesem anregenden
Quellenband möglichst viele interessierte Leser wünschen
.

Gießen/Münster Martin Grcschat

Dogmen- und Theologiegeschichte

Groß, Karl: Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum
. Aus dem Nachlaß hg. von W. Speyer. Stuttgart: Hiersemann
1985. XXIX, 537 S. m. 18Abb.aufTaf.gr. 8'. Lw. DM 180,-.

Als F. J. Dölger einst einen Satz Tertullians kommentieren wollte,
in dem der „Ichthys" vorkam, war ein fünfbändiges Werk über den
Fisch in Antike und Christentum das Ergebnis. In ähnlicher Weise ist
K. Groß, dem 1980 verstorbenen Abt des Klosters Ettal, der Stoff
unter den Händen gewachsen, als er sich daran machte, für das von
F. J. Dölger begründete „Reallexikon für Antike und Christentum"
die Artikel „Hand" und „Handauflcgung" zu schreiben. Es war ihm
nicht mehr gegeben, das Erarbeitete zu Lexikonarlikeln zusammenzufassen
und diese den anderen von ihm verfaßten Artikeln dieses Lexikons
(u. a. „Finger") zuzugesellen. Die einschlägigen Artikel haben
inzwischen L. Kötzsche, C. Vogel, D. Korol und B. Kötting verfaßt
.

Da die Hand bei den meisten Tätigkeiten des Menschen beteiligt ist.
ergibt sich schon aus diesem Grund eine Fülle des Materials und der
Gesichtspunkte, die unmöglich hier auch nur annähernd referiert
werden kann. Umfaßt doch bereits das Inhaltsverzeichnis zwölf Seiten
. Daran wird auch ein fragwürdiger Aspekt des gesamten Unternehmens
„Antike und Christentum" deutlich. Der Gedanke, die alte
Kirche im Kontext der antiken Religions- und Kulturgeschichte zu
betrachten, war ein höchst notwendiger und fruchtbarer. Die dabei
eingebrachte immense Gelehrsamkeit aber verschob die Akzente. Es
wurden Jahrtausende unterschiedlicher Kulturen aufgeboten, um die
im ganzen relativ einheitliche Entwicklung weniger Jahrhundertc zu
erklären, d. h. das „Christentum" erhielt leicht den Charakter eines
Anhanges zur „Antike". Auch im vorliegenden Werk ist sehr Heterogenes
aus den verschiedenen Kulturen des Vorderen Orients und
Europas seit der Altsteinzeit aufgearbeitet und dargestellt, während
die organische Weiterentwicklung des Altkirchlichen in die spätere
Kirchengeschichte nur gelegentlich angedeutet ist, im allgemeinen
aber die Darstellung abgebrochen wird. Das ändert natürlich nichts
daran, daß K. Groß eine eigene kleine, an einem Thema demonstrierte
Kulturgeschichte vorgelegt hat, und daß die enzyklopädische
Fülle des hier gebotenen Materials seine Arbeit zu einem wichtigen
Nachschlagewerk macht.

Den größten Teil nehmen die Ausführungen über die Hand des
Menschen und die Hand der Gottheit ein. Mehr anhangsweise erscheinen
die Hände der bösen und guten Geister und der Goltcs-
freunde. Von besonderer Bedeutung erscheinen mirdie Ausführungen
über Gebets-, Opfer-, Segens-, Fluch- und andere Gesten. Der Reinheit
und dem Verhüllen der Hände sind eigene Abschnitte gewidmet,
die Hand im sakralen Recht u. a. m. ist breit behandelt. Von den
Ausführungen über die Gotteshand ist besonders die Darstellung des
biblischen Sprachgebrauchs zu nennen.

An Einzelheiten fiel mir auf: Sehr schön ist S. 151-157 anhand
reicher Belege die Begründung des ethischen Wertes der Arbeit im
(Judentum und) Christentum vorgeführt, den die Antike in dieser
Weise nicht kannte. S. 428-432 ist die Deutung der beiden Hände
Gottes als göttliche Hypostasen, besonders bei Irenaus, dargestellt.
Stärker betont werden müßte, daß das durch eine Hand dargestellte
Eingreifen Gottes das engste verbindende Element zwischen den
Malereien in der Synagoge von Dura Europos und der frühen christlichen
Kunst ist (S. 354-357. 434-443, vgl. S. 4001"). S. 290 ist nicht
gesehen, daß Lazaruserweckung, Quellwunder u.a. Szenen in der
frühchristlichen Kunst regelmäßig mit einem Stab wiedergegeben
werden.

Greifswald Hans Georg Thunum.-]

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Dialektik (1811), hg. von
A. Arndt. Hamburg: Meiner 1986. LXXXIV, I 15 S. 8' = Philosophische
Bibliothek, 386. Kart. DM 36,-.

Mit dem Druck des ersten Dialektik-Entwurfs von 181 1 nebst zwei
Beilagen wird in der traditionsreichen „Philosophischen Bibliothek"
die Präsentation Schleiermacherscher Texte fortgesetzt. Der Hg. ist
Mitarbeiter der Schleiermachcrforschungsstellc in Berlin (West). Der
hier anzuzeigende Band kann und will die der Kritischen Gesamtausgabe
(KGA, 1980ff) vorbehaltene Edition nicht erübrigen, sondern
dem Studium ein Instrument an die Hand geben, welches gewiß auch
noch dann seinen Dienst tun wird, wenn die KGA-Edition der
Materialien zur Dialektik vorliegt.

Schleiermachers Manuskripte zur Dialektik sind durch die Ausgaben
von L.Jonas (1839), I. Halpern (1903) und R. Odebrecht
(1942), zu denen die Ergänzungen durch B. Weiß (1878) hinzutreten,
bekannt. Allerdings sind diese Drucke wegen der ihnen eigentümlichen
editorischen Strategien entweder schwer benutzbar (Jonas)
oder generell problematisch (Halpern, Odebrecht). Jenseits der Versuchung
, die disparaten Materialien in eine künstliche Ordnung zu
zwingen und dabei die Entwicklungsstufen von Schleiermachers Denken
zu verwischen, ist es dem Hg. um eine klare Ausbreitung des
Übcrlicferungsbestandes zu tun. Ihn vollständig darzubieten kann
nicht Sache einer Studienausgabe sein. Die Zielstellung des Hg., der
sich von einem zweckentsprechend modifizierten Vorschlag G. Weh-
rungs aus dem Jahre 1920 angeregt weiß, besteht darin, „die Darstel-