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Ausgabe:

1988

Spalte:

130-131

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Religion, Moral und Politik 1988

Rezensent:

Greschat, Martin

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Theologische Literaturzeitung I 13. Jahrgang 1988 Nr. 2

130

München Friedrich Wilhelm Gral'

Im III. Kap. „Protestantismus und soziale Frage im wilhelmi- sozialgcschichtliche Analyse von Trägerschichten grundlegend sein

nischen Reich" skizziert K. zunächst den „Sozialismus der Gebilde- dürften (vgl. VI und 120 mit 227). Seeberg ordnet er dem Kultur-

ten" in der Zeit des „Neuen Kurses" nach 1890 sowie die Früh- Protestantismus zu (112). um dann gegen Brakelmanns Analysen von

geschichte des Evangelisch-sozialen Kongresses. Dabei übernimmt er Seebergs „ULricgJtheologU" die Unabhängigkeit von politischer Posi-

- auch in zahlreichen nicht als Zitat ausgewiesenen Formulierungen! tion und theologischem Programm zu behaupten (178). Zu den

- primär Ergebnisse umfangreicher Studien zur Gclehrtenpolitik zwanziger Jahren heißt es gar: „Zu einer Überprüfung theologischer
1890-1914. die R. vom Bruch seit 1979 publiziert hat. Verflcch- Positionen hat der erste Weltkrieg im deutschen Protestantismus
tungen zwischen dem Verein für Sozialpolitik, der Gesellschart für nicht geführt" (179).

soziale Reform und dem ESK, protestantische Kulturzeitschriften wie Waren für die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen im

Rades „Christliche Welt" und Naumanns „Hilfe" sowie ein intensiver „sozialen Protestantismus" (47) nicht auch die jeweiligen Theologien

Austausch zwischen Theologie und ethischer Nationalökonomie be- von eigenem Gewicht? Mit K.s allzu undifferenzierter sozialhisto-

legten, daß die in den neunziger Jahren sozial engagierten Univer- rischcr Kategorialität lassen sich diese Konflikte jedenfalls nicht zu-

sitätstheologcn und Pfarrer auf einen bildungsbürgerlichen Normen- reichend begreifen. Orthodoxe Lutheraner gelten ihm genausogut als

und Wertekanon fixiert geblieben seien. Ihre enge Einbindung in das Repräsentanten eines bildungsbürgerlichen Sozialmilieus wie ihre

-•sozialmoralische Milieu" (M. R. Lepsius) des zunehmend kultur- libcralprotestantischcn Gegenspieler. Wie erklärt sich ihr tiefgreifen-

Pessimistischeren Bildungsbürgertums habe die ursprünglich ange- der theologischer, kirchenpolitischer und politisch-kultureller Dis-

strebte Öffnung gegenüber dem Proletariat verhindert und dazu ge- sens, wenn sie alle sozialkonservativ denkende Bildungsbürger waren?

fuhrt, daß man sich mit Ausnahme Naumanns vom parteipolitischen Gab es „das bildungsbürgerlich geprägte Sozialmilieu evangelischer

Kampf um Parlamentarisierung der Reichsverfassung und demo- Sozialrcform" (208) überhaupt? Damit ist die Leistungskraft von

kratische Partizipation der politisch ausgegrenzten Arbeiterbewegung Lepsius' Sozialmilieu-Konzcpt nicht bestritten. Aber für den Prote-

ferngehalten habe. Eine kritische Sicht prägt auch K.s Darstellung der stantismus des späten 19. und frühen 20, Jh. wird man konkur-

hjtherisehcn Sozialkonscrvativen um Stöcker. die 1895/96 den ESK rierende „sozialmoralische Milieus" unterscheiden müssen, die auf

^erließen und unter Führung R. Scebergs die „Freie kirchlich-soziale die Krisen gesellschaftlicher Modernisierung religiös wie politisch-

Konferenz" bzw. den „Kirchlich-sozialen Bund" gründeten. Zwar sei kulturell gegensätzlich reagierten. Sonst wird das Sozialmilieu zum

der lutherisch-konfessionelle Protestantismus sozialreformcrisch viel Sumpf, in dem man keinen Boden unter die Füße bekommt, und das

erfolgreicher als der liberale Protestantismus gewesen: Über Arbeiter- „Bezichungsgeflecht Kirche in Staat und Gesellschaft" (207) zum un-

vereine. Kurse für Sozialsekrctärc, ihre „Kirchlich-sozialen Blätter" durchdringlichen Dickicht,
"nd seit 1921 auch durch die Evangelisch-soziale Schule (Bethel-
'Berlin-Spandau) hätten die Orthodoxen immerhin zu Teilen der
organisierten Arbeiterschaft einen Zugang gefunden. Aber nach 1914

hatten sie anders als die Mehrheit der protestantischen Liberalen eine Ka(k- Martin: Ausgewählte Schriften. 2: Religion. Moral und Politik,

annexionistische Kricgsziclpolitik vertreten und damit indirekt der Mit einer Einleitung hg. von C. Schwöbcl. Gütersloh: Gütersloher

vrin .. . , L , .. , ,,, i Verlagshaus Gerd Mohn 1986.203 S. 8". Kart. DM 64,-.
u»n ihnen bekämpften parlamentarischen Demokratie den Weg be-

re"et. Mit diesem Themenband setzt Schwöbcl seine verdienstvolle

Ausführlich resümiert K. im IV. Kap. „Revolution und staatliche Edition von Schriften des seinerzeit sehr angesehenen und einfluß-

Neuordnung" Ergebnisse der neueren kirchengcschichtlichcn reichen liberalen Marburger Theologen fort. Zum Abdruck kommen

Weimar-Forschung (J. R. C. Wright, K. Nowak), um in einem knap- sechs Beiträge aus den Jahren 1898 bis 1922. In einer ausführlichen

Pen Ausblick zum Weimarer sozialen Protestantismus (198-203) Einleitung (9-41) werden die Ausführungen Rades in den theo-

noch einmal seine Grundthese zuzuspitzen: Auch nach 1918/19 seien logischen Kontext seiner Zeit eingeordnet. Vf. unterstreicht zu Recht,

'■bcralcr wie orthodoxer Protestantismus der Illusion eines dritten daß Rade kein geschlossenes System entwickelt hat und vorträgt, wes-

Weges zwischen marxistisch geprägtem Sozialismus und Kapitalis- halb Spannungen und Aporien in seinen Aussagen ebenso zu finden

TOus verhaftet geblieben. Selbst die Religiösen Sozialisten seien bei sind wie ein immer neues, engagiertes Mühen um die Selbständigkeit

'hren Bemühungen um eine Öffnung gegenüber der Arbeiterbe- der Religion und des Christentums einerseits und andererseits ihrer

Wcgung noch durch ihre bürgerliche Herkunft und den bildungs- notwendigen ethischen Konkretion im Sinne der Bergpredigt, d. h.

hürgerlichen Glauben an eine politisch-kulturelle Führungsrolle der politisch vor allem im Blick auf Versöhnung und Verständigung im

Gebildeten geprägt worden. Innern Deutschlands und nach außen. Freilich tritt die Aufhellung

Je genauer man K.s materialreichc Studie liest, desto zwiespältiger der historischen politischen Situation, auf die Rades Veröffcntlichun-

dürftc das Urteil ausfallen. K. verfolgt ein wichtiges Ziel: Die evan- gen doch zielen und die sie beeinflussen möchten, in dieser Einleitung

Wisch-soziale Bewegung soll in der Perspektive der neueren sozial- allzusehr zurück. So kann der Eindruck entstehen - dem die Texte

historischen Kontroversen um Modcrnisierungspotcntiale und/oder eindeutig widersprechen als sei es Rade vornehmlich um eine

strukturelle Immobilität von Staat und Gesellschaft des Kaiser- wissenschaftliche Auseinandersetzung im Rahmen der akademischen

""eiches erschlossen werden. Auch informiert er über manches, was Theologie zu tun gewesen.

bisher unbekannt war: Er teilt aus A. Seebergs unveröffentlichtem Das Gewicht der abgedruckten Beiträge ist recht unterschiedlieh.
••Lebensbild R. Sccbergs" Neues zu dessen Harnack-Kritik mit Zweimal wird das Thema „Religion und Moral" gebracht, zu dem
"430, zitiert breit aus ungedruckten Harnack-Briefen zum Bibel- sich Rade 1898 und 1910 geäußert hat (42-54; 132-143). Der erste
^abel-Streit sowie zu den Beziehungen zwischen Bülow und Harnack Vortrag mit seinem Drängen auf die ethische Ausformung des
"6711") und ediert im Anhang eine neue Quelle zur Frühgeschichte Christentums wirkt lebendiger und unmittelbarer; der spätere ist vor
v°n Naumanns „nationalsozialem Verein" (21 5fT). Aber dies alles hat allem an der Herausarbeitung der Unterscheidung von Religion und
Wcn'g mit seinem Thema zu tun und vermag die Grundschwäche Moral interessiert. Weniger überzeugend erscheint die Wiedergabc
,n*f Darstellung nur zum Teil zu kompensieren: Sein „Resume" eines Lexikonartikcls über „Sitte, Sittlichkeit. Sittengesetz" von 1906
'207) des Forschungsstandes läßt über weite Strecken eine eigen- (I I 5-131). zumal Rade hier nur begrenzt eigene Akzente setzte. Als
standigc Erschließung der Primärquellcn und das Bemühen vermis- einziger Beitrag aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg begegnet ein
Scn. die theologische Dimension der sozial- und kulturpolitischen Vortrag aus dem Jahre 1922 über „Christentum und Frieden"
Auseinandersetzungen im wilhelminischen Protestantismus ernst zu (181 -202). der dafür wirbt, dem Machtdenken den Abschied zu geben
nchmcn. K. hat nicht einmal die gedruckten Protokolle des ESK aus- und statt dessen einer umfassenden Friedenspolitik zur Macht zu verteuertet
, die Teilnehmerverzeichnisse enthalten und deshalb für eine helfen.