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Ausgabe:

1988

Spalte:

128-130

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kouri, Erkki I.

Titel/Untertitel:

Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870 - 1919 1988

Rezensent:

Graf, Friedrich Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung I 13. .lahrgang 1988 Nr. 2

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dringender, nachdem die Amtstagebücher (nach einer ersten Ausgabe
im 18. Jh.) zwischen 1942 und 1958 durch Tappert und Doberstein
(leicht gekürzt) in englischer Übersetzung erschienen sind: War sich
doch Mühlenberg bereits bei ihrer Abfassung der Publikationsabsicht
bewußt, und selbstverständlich erfolgte in Deutschland vor dem
Druck eine weitere Redigierung der Tagebuchtexte, so daß nunmehr
die Briefe, meist sehr umfangreich (,,eigentlich ausführliche Denkschriften
", II S. IX), in ihrer Originalität und ungeschminkten Berichterstattung
von unschätzbarem Wert sind. Das Erfassen der tatsächlichen
Vorgänge kann nur durch Kombination von Tagebüchern
und Briefwechsel geschehen; alle weitere Bearbeitung dieses Feldes ist
ohne die vorliegende Ausgabe der Briefe von und an Mühlenberg
nicht mehr denkbar.

Vorwort und Verzeichnis der Archivalien in Band I (S. XI-XX und
549-556) geben darüber Auskunft, welche Materialien zusätzlich zu
dem - den Bearbeitern überwiegend in Fotokopie zugänglichen -
Halleschen Hauptanteil berücksichtigt und eingearbeitet worden sind.
Darunter befinden sich besonders:

- Mikrofilme Hallescher Materialien in der Library of Congress in
Washington (zitiert nach den bei der Fotoaktion vor dem zweiten
Weltkrieg in Halle verwendeten Pauschalsignaturen; das Auffinden
der Originale in Halle nach den jetzigen, spezifizierten Signaturen ist
nicht unmöglich);

- Archivalien des Lutheran ArchivcsCenter in Philadelphia;

- die durch Ereignisse des zweiten Weltkrieges in die Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz Berlin (West) gelangten Halleschen Materialien
u. a. m.

Bedauerlicherweise mußten die Leiter der Archive von SPCK und
SPG in London dem Hg. mitteilen, daß ihre Bestände - gemeint sind
offenbar die z. Z. katalogisierten - keinerlei Mühlcnberg-Materialien
enthalten. Bei der Bearbeitung dessen, was zur Verfügung stand,
stellte sich bald heraus, daß zur gründlichen Erschließung der Korrespondenz
unbedingt auch das umfangreiche, in Halle vorhandene
„Beglcitmaterial" einbezogen werden mußte. Es wurde dem Hg. und
seiner Mitarbeitermannschaft erst kürzlich zugänglich, so daß auch
dies nunmehr in die Edition einfließen kann.

Für die Verteilung des zu veröffentlichenden Materials auf die bisher
vorliegenden beiden Bände boten sieh sachliche Zäsuren in den
Ereignissen in Pennsylvania an (II S. X): „Die im ersten Band abgedruckten
Briefe spiegeln die überaus mühsamen Anfange der Arbeil
Mühlcnbergs und der Bildung der .Vereinigten Gemeinden'. I 752 ist
ein gewisser Abschluß erreicht"; „Die Briefe des zweiten Bandes
schildern die an die Epoche der Konstituierung anschließende des
Ausbaus - und der Konflikte." Diese letzteren, äußerst komplizierten
und durch die Verwobenheit der Quellen schwer zu erfassenden Vorgänge
werden dankenswerterweise durch den Hg. im Vorwort zu Band
II in einem für die Lektüre der Briefe hilfreichen Überblick dargestellt
einschließlich eines Referats der „Kirchenordnung" für Philadelphia
von 1762, mit dem der inhaltliche Abschluß des 2. Bandes gegeben ist.
Die - wie Stichproben ergeben haben: in der Tat - „diplomatisch getreue
" Wiedergabe der Brieftexte zeugt von einem geradezu immensen
Fleiß und einer bewundernswerten Sorgfalt erfahrener Mitarbeiter
, von denen eine große Anzahl an der jahrzehntelangen Erstellung
des Gesamtmanuskripts beteiligt gewesen ist; sie sind in den
Vorworten namentlich genannt. Innerhalb von jeweils 100 Druckseiten
sind durchschnittlieh 15 Seiten Anmerkungen und Erläuterungen
im Kleindruck enthalten, die gleichfalls die aufgewandte Mühe
und Exaktheit, das Interesse und die Kenntnis der Bearbeiter bezeugen
. Einzelne Dopplungen sind beim Umfang dieses Unternehmens
und den unterschiedlichen Bearbeitern unvermeidlich; einige kleine
sachliche Errata (Unschärfen, Verwechselungen) wurden dem Hg.
vom Rez. zugesandt. Die Entscheidung, erschlossene, erwähnte oder
nur im Exzerpt vorliegende Briefe nicht in die laufende Zählung aufzunehmen
, ist zweifellos richtig. .Jeder Band schließt mit einem Briefregister
nach Verfasser (Abfassungsort) und Empfänger (Bestimmungsort
) sowie einem Personen- und Ortsregisler.

Auf ein Versehen sei hingewiesen: Der' frühcre Leiter des Archivs
der Franckcschcn Stiftungen war nicht Delbrück (1 S. XIV). sondern
Dr. Alexander Delhaes. Und wenn schon nicht in der Veröffentlichung
selbst, so sei wenigstens hier der seit 1955 amtierende Direktor
dieses Archivs, Jürgen Storz, genannt, der die (ebd. im Vorwort erwähnten
) grundlegenden Repertorien und Namenskarteien der Briefabsender
und -empfänger selbst angefertigt hat. dessen Votum zur
„Freigabe der in Halle gesammelten Unterlagen" (ebd.) wesentlich
beigetragen hat und der 1987 nach über dreißigjähriger Tätigkeit in
dieser Position seinen 60. Geburtstag beging.

Mit der vorliegenden Ausgabe, deren weiteren Bänden die Interessenten
gern entgegensehen, ist nunmehr dank dem umsichtigen und
energischen Einsatz des Hg. das Material bereitgestellt für zahlreiche
zu erwartende Einzeluntcrsuchungcn und nicht zuletzt für die
dringend erforderliche wissenschaftliche Biographie des „Patriarchen
des amerikanischen Luthertums". Eine Übersetzung dieser Edition
ins Englische dürfte nicht lange auf sich warten lassen.

Karl-Marx-Stadt Hermann Winde

Kouri, E. I.: Der Deutsche Protestantismus und die soziale Frage
1870-1919. Zur Sozialpolitik im Bildungsbürgertum. Berlin (West)
-New York: de Gruyter 1984. X, 256 S. gr. 8" = Arbeiten zur Kir-
chengeschiehtc.55. Lw. DM 108,-.

K. will erstens eine „Zwischenbilanz" (207) der neueren Forschung
zur evangelisch-sozialen Bewegung (G. Brakelmann,
D. Düding. F. Karrenberg, K.-E. Pollmann, M.Schick. W.Simons,
T. Strohm, W. R. Ward u. a.) vorlegen. Dabei sollen die protestantischen
Reaktionen auf die soziale Frage sehr viel stärker als bisher
„mit der politisch-sozialen Realität" der wilhelminischen Klassengesellschaft
„verzahnt" und „der geistesgeschichtliche Begriff' des
• Kulturprotestanlismus' auf die sozialgeschichtliche Dimension des
protestantischen Bildungsbürgertums hin erweitert" werden (VI).
Aufgrund bisher nicht beachteter Archivmaterialien möchte K.
zweitens über den alten Kenntnisstand hinausfuhren und vor allem
die Konflikte zwischen den diversen „Teilströmungen" der evangelisch
-sozialen Bewegung näher aufklären. Seine leitende Interpretationsthese
lautet: Alle Gestalten des sozialen Protestantismus
seien entscheidend vom sozialkonservativen Glauben an Gemeinwohl
, Verteilungsgerechtigkeit und Klassenneutralität der monarchischen
Obrigkeit geprägt worden (VI, 47,82 u. ö.).

Zunächst skizziert K. das „Staatskirchentum im Industriezeitalter"
(Kap. 1): Die schnelle kapitalistische Modernisierung der Ökonomie
erzeugte soziale Folgeprobleme, die von den überkommenen politischen
Institutionen nicht bewältigt werden konnten. Die Spannungen
zwischen dem reformunfähigen Obrigkeitsstaat und einer zunehmend
segmentierten Klassengesellschaft prägten tiefgreifend auch den deutschen
, vor allem den preußischen Protestantismus: Aufgrund des
Summepiskopals des Landesherrn und der Abhängigkeit der Kirchcn-
behörden von staatlichen Institutionen vermochte die Kirche als
Institution genausowenig wie der Staat eine konstruktive Antwort auf
die vielfältigen Krisen kapitalistischer Modernisierung zu entwickeln.
Für „C hristliche Soziallehre und Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks
" (Kap. II) bedeutete dies: Wer sich wie Wiehern. Todt und
Stöcker der sozialen Frage annahm, stieß auf heftigen Widerstand der
Kirchenleitungen. Infolgedessen konnte sich kein „Sozialprotestantismus
" entwickeln, der dem „deutschen Sozialkatholizismus" (81) an
sozialer Homogenität, programmatischer Geschlossenheit und kultureller
Gestaltungskraft vergleichbar wäre. Die soziale Bewegung im
Protestantismus gebe es nur in „der Perspektive nachträglicher Systematik
" (82). Wie paßt diese Auskunft zu K.s These, daß nicht nur alle
sozialreformerischen Gruppen im Protestantismus und der Sozialkatholizismus
, sondern auch die bürgerliche Sozialreform insgesamt
durch einen ideologischen Grundkonsens, einen sozialkonservativen
Patriarchalismus mit Ablehnung grundlegender Veränderungen der
gegebenen Herrschaftsordnung geprägt worden seien?