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1988

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

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Luhmann die Einleitung eines bewußt „organisierten Zerrüttungsprozesses
" (S. 14) vorzuwerfen, ist dagegen einfach nur falsch.

Grundsätzlich Kritik üben muß der Rez. auch an den Arbeiten von
Brigitta Kasprzik („Der Anspruch von Luhmanns Theorie und einige
Probleme der Theorieanlage", S. 26-37), Matthias J. Raden („Die
chiffrierte Einheit einer expansiven Welt: Die heimliche .religiöse
Funktion' der Weltgesellschaft in der funktionalen Systemtheorie
Luhmanns", S. 38-56) und Wolfgang Kasprzik („Die Funktion der
Religion für Luhmanns Theorie", S. 76-92). Alle drei Autoren versuchen
, der Systemtheorie Luhmanns das Mißlingen eines realistischen
Zugriffs auf die soziale Wirklichkeit nachzuweisen, indem sie
theorieintern gebrauchte Kategorien auf ihre Funktion für den Theorieaufbau
selbst befragen. Dabei geht es ihnen nicht wie anderen Kritikern
vor ihnen (Habermas, Bubner, Wagner, Herms) um den Aufweis
tautologischer Zirkuiarität, etwa um den Aufweis, daß in der Systemtheorie
Luhmanns die Einführung von Grundbegriffen bereits einen
Fall ihrer Anwendung darstellt (S. 780, und schon gar nicht geht es
ihnen darum, diese angeblich tautologische Struktur des systemtheoretischen
Ansatzes durch seine transzendentaiphilosophische Begründung
zu überwinden (S. 36, Anm. 8, S. 83ff) oder einfach Gegenstandsbezug
einzuklagen (S. 86). Das Ziel der Abhandlungen dieser
drei Autoren besteht vielmehr darin, die Abhängigkeit begrifflicher
Bestimmungen von theorieintemen Bedürfnissen und Problemen und
damit die mehrpolige Selbstrefercntialität der Systemtheorie offenzu-
legen. So erklärt Brigitta Kasprzik, daß die Angabe des Welthorizontes
für Luhmann „ein Theorieerfordernis zur Etablierung von Asymmetrie
" darstellt, aber „nicht plausibel" ist, „wieso er Realität haben
soll" (S. 34). Matthias Raden erläutert, welche heimliche Funktion
der Begriff der Weltgesellschaft für die Durchführung von Luhmanns
Systemtheorie erfüllt (S. 48ff). Und Wolfgang Kasprzik stellt fest, daß
Luhmanns Bestimmung der Funktion der Religion „nicht auf die
Selektivität reagiert, mit der die Gesellschaft das Religionssystem aus-
differenziert, sondern auf Komplexität, die die Reflexionsinstanz des
Wissenschaftssystems in sich selbst erzeugt hat" (S. 880-

Wie wir sehen, zielen die Kritiken entgegen der von W. Kasprzik
vorgebrachten Versicherung (S. 86) also doch darauf ab, der Systemtheorie
„Mängel an Realitätskontakt" (so ebenfalls W. Kasprzik,
S. 90) vorzuhalten. Die Berechtigung dieses Vorwurfs ist allerdings zu
bestreiten, denn aus dem Nachweis, daß die einzelnen analytischen
Bestimmungen theorieinternen Erfordernissen genügen, folgt nicht,
daß der funktionalen Systemtheorie der Wirklichkeitsgehalt fehlt,
sondern nur, daß ihre einzelnen Theorieelemente offenbar gut aufeinander
abgestimmt sind. Ob diesen Thcorieelementen eine Wirklichkeit
entspricht oder nicht, läßt sich allein mit theorieimmanenten
Argumentationen nicht entscheiden. Um diese Frage beantworten zu
können, ist es vielmehr nötig, die von der Theorie ins Auge gefaßte
Wirklichkeit selbst zu analysieren und die eigene Wirklichkeitsauftas-
sung mit der Luhmanns zu vergleichen.

Dies haben - in begrenztem Umfang - Jochen Cornelius („Die
Wirklichkeit dir Weltgesellschaft". S. 57-75) und Michael Welker
sowie.-. in einer für mich allerdings nicht nachvollziehbaren Weise -
Adelbert Schloz („Dekomposition und Heil. Die Komplexität einer
theologisch verantwortlichen Gottes- und Rechtfertigungslehre als
ungelöstes Problem der religionssoziologischen Theorie Luhmanns",
S. 120-130) in ihren Beiträgen getan. Cornelius zum Beispiel kommt
in seiner Untersuchung zu dem m. E. zutreffenden Ergebnis, daß die
Gesellschaftstheorie Luhmanns, indem sie alle Selektionen als kon-
tingent und problematisch behandelt, wirkliche Probleme nicht mehr
von künstlich erzeugten unterscheiden kann und insofern reale Zwänge
und konkrete Probleme wie die Erfahrungen von Leid, Krankheit, Tod
und Unterdrückung verharmlost (S. 57, 63). Und Welker weist darauf
hin. daß in der Religionstheorie Luhmanns die Untersuchung von konkreten
Wirkungen der Gemeinden in sozialen Übergangslagen, etwa der
Friedensbewegung in Europa oder der Befreiungstheologie in Lateinamerika
, fast völlig ausgeblendet wird und daher von „Defiziten an
.Realitätskontakten'" zu sprechen ist (S. 108).

Freilich, auch die Zuwendung zur sozialen Wirklichkeit eröffnet
nicht die Möglichkeit, die Frage nach der Realitätsangemessenheit der
Luhmannschen Theorie endgültig zu entscheiden. Auch beim Einstieg
in die materiale Diskussion kann man - bestenfalls - nur wiederum
eine Theorie der Religion entwickeln. Der Gegenstand selbst
bleibt ungreifbar. Es gibt, sagt Luhmann (Funktion der Religion,
S. 69), kein .objektives Sein', „sondern nur Strategien der Objektivierung
". Deshalb ist es unsinnig, an eine Theorie die Forderung zu richten
, sie möge den Wahrheitswert ihrer Aussagen am Gegenstand selbst
beweisen. Deshalb ist es aber auch unmöglich, die Gültigkeit einer
Theorie am Gegenstand selbst zu widerlegen. Die Entscheidung über
Wahrheit oder Unwahrheit einer Theorie verschiebt sich vielmehr
von der gegenständlichen auf die soziale Ebene, und auf dieser Ebene
ist der Wahrheit suchende Dialog zwischen miteinander konkurrierenden
Erklärungsansprüchen prinzipiell unbeendbar. Das gilt für die
Soziologie wie für die Theologie.

Wenn Theologen jedoch - wie Ulrich Möller, Helmut Niedermeier
und Dietrich Werner in ihrem Beitrag („Zur Grundlagendifferenz und
zu den Bedingungen der Kommunikation zwischen Theologie und
funktionaler Systemtheorie", S. 131-144) - die Wahrheit des christlichen
Glaubens daran gebunden sehen, daß „die Vorgeordnetheit
Gottes vor den theologischen Vollzug seines Gedankens" und das Begründetsein
des christlichen Glaubens Jenseits und vor aller gesellschaftlichen
Funktionalität" „gewährleistet werden kann" (S. 133),
dann ist diese Einsicht in die Systemabhängigkeit alles Wissens verletzt
. Es scheint fast, als hätten die Verifikation einfordernden und für
möglich haltenden Theologen das systemtheoretische Prinzip der
Unüberspringbarkeit des zirkulären Verhältnisses von Denken und
Sein oder System und Umwelt nicht begriffen. Oder akzeptieren sie
diesen Grundsatz nicht?

Wie auch immer. Wenn man darauf aus ist, die Gültigkeit der
Systemtheorie zu bestreiten, entsteht jedenfalls leicht die Gefahr, daß
man sich zu ihrem Zirkularitätsprinzip in Widerspruch setzt. Sofern -
wie die Autoren dieses Bandes annehmen (S. 131) - Theologie und
funktionale Systemtheorie inkompatibel sind, ist dieser Widerspruch
vielleicht unumgänglich. Falls aber das Zirkularitätsprinzip sowohl
für die Soziologie wie für die Theologie die Bedingungen ihrer Möglichkeit
formuliert, dürfte nicht die Widerlegung der Systemtheorie,
sondern der Aufweis ihrer Kompatibilität mit der Theologie die
gegenwärtig anstehende Aufgabe sein. Anhand der Bewältigung dieser
Aufgabe ließen sich dann in hohem Maße Möglichkeiten und Grenzen
der theologischen Arbeit heute bestimmen.

Leipzig DetlefPollack

Campiche, Roland J.: Une approche sociologique du champ religieux
(RThPh 120,1988,123-136).

Gimpl. Herbert: Zur Frage der Volksreligiosität (ZThKUO, 1988,
163-179).

Haour. Bernard: Temps humain et gratuite. Une analyse socio-economique
(RSR75.1987,559-585).

Lehmann, Hartmut: Ascetic Protestantism and Economic Rationalism: Max
Weber revisited after two Generations (HTR 80,1987,307-320).

Luecke, Richard: Gospel confession and arts of ministry in the late industrial
city(CThMi 14,1987,94-104).

Theissen, Gerd: Vers une theorie de l'histoire sociale du christianisme primi-
tif(ETR63. 1988,199-225).

Berichte und Mitteilungen

Der ThLZ ging eine Mitteilung über die Stiftung eines Paul-
Tillich-Preises zu, aus der wir folgendes veröffentlichen (weitere Einzelheiten
, besonders die Modalitäten der Einreichung betreffend, sind
bei den Unterzeichneten zu erfragen):

„Die Veranstalter des Internationalen Paul-Tillich-Symposions in
Frankfurt stiften mit dem heutigen Datum einen
Paul-Tillich-Preis.