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Ausgabe:

1988

Spalte:

923-926

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Titel/Untertitel:

Theologie und funktionale Systemtheorie 1988

Rezensent:

Pollack, Detlef

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Theologische Litcraturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

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wort „neues Denken" stellen könnte. Es zeigt sich dabei eindrücklich,
wie echte zeitsensitive, supervisorische Weltverantwortung, von welcher
Seite auch immer, in die gleiche Richtung weist. Die Lage der
Welt erfordere dringlichst „psychische Mutationen" (173). „Das Bewußtwerden
des Menschen" müsse auf das äußerste angespannt werden
, um ihn „am Rande des allgemeinen Todes zu einer nie dagewesenen
Praxis zu zwingen" (179).

Die Caruso-Studie Stögers ist aus einem ebenso umfassenden wie
tiefgründigen Fundus von Kenntnis und Wissen, zudem in spürbar
persönlicher Zuneigung, geschrieben. Außer den eingebrachten primären
Gesichtspunkten enthält sie zahlreiche wertvolle Einzelaspekte
, die hier leider unberücksichtigt bleiben müssen. Der Autor
war redlich bemüht, Caruso in seinem Werden und seiner Identität
authentisch darzustellen. Als sehr instruktiv erweist sich daraufhin
das beigefügte biographische Kapitel „Leben und Werk Igor A. Carusos
- Einblicke und Ausblicke" ( 243-266). Wenn hin und wieder
dann doch der Impuls „zu taufen" andrängt, mag man die damit
zusammenhängenden einzelnen interpretatorischen Überziehungen
zwar bedauern, aber nicht in Heftigkeit schelten.

Leipzig Manfred Haustein

Religionssoziologie

Welker, Michael [Hg.]: Theologie und funktionale Systemtheorie.

Luhmanns Religionssoziologie in theologischer Diskussion. Frankfurt
/M.: Suhrkamp 1985. 144 S. kl. 8° = Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft, 495.

Die Bedeutung dieses schmalen Sammelbandes, der aus einem 1979
begonnenen Arbeitsprozeß hervorgegangen ist und acht Aufsätze verschiedener
Autoren enthält, besteht darin, daß hier Theologen erstmals
versuchen, sich auf den selbstrcferentiellen Argumentationsstil
der Luhmannschen Systemtheorie einzulassen und ihre relativistische
Theoriestruktur ernst zu nehmen. Nicht mehr wird versucht, den
Systementwurf Luhmanns in theologisch ausgelegte Subjektivitätstheorien
zu integrieren (Trutz Rendtorff, Falk Wagner), reflexions-
bzw. subjektivitätsphilosophisch zu überbieten (Ellert Horms, Frit-
hard Scholz) oder durch den Nachweis schlechter Zirkularität aus den
Angeln zu heben (Rüdiger Bubner, Jürgen Habermas). Auch wird
weder seine politische Entlarvung (Hans-Eckehard Bahr) noch seine
praktische Übernahme (Karl-Wilhelm Dahm) angestrebt. Den Vff.
der hier vorliegenden Studien kommt es vielmehr darauf an, die funktionale
Systemtheorie als Exponenten einer neuen Theoriegeneration
zu begreifen, ohne ihr sofort wieder durch Einführung traditioneller
Theorievorgaben, seien sie nun transzendental- oder geistphilosophischer
Provenienz, das vermeintlich fehlende Fundament geben zu
wollen. Sie meinen, nur so mit ihr zu einer „unverstellten und lernfähigen
Verständigung" (S. 9)gelangen zu können.

Das Bemühen, das eigenwillige Arrangement der Theorie Luhmanns
ernst zu nehmen und zu verstehen" bedeutet nicht, daß die Vff.
deren Aufbau und Intention akzeptieren. Im Gegenteil. Fast alle Beiträge
beziehen gegenüber der Systemtheorie Luhmanns erklärtermaßen
eine ablehnend-kritische Position und üben sich darin, ihr
theorieimmanente Unstimmigkeiten undexplanatorische Insuffizienz
nachzuweisen. Demgegenüber treten die sachliche Darstellung und
die verstehend-nachvollziehende Interpretation deutlich zurück.
Auch der Versuch, die aufgewiesenen Schwierigkeiten der Theorie in
einen größeren, theorieübergreifenden Zusammenhang hineinzustellen
und dadurch zu erklären und zu relativieren, unterbleibt zumeist.
Zwar gibt Günter Geisthardt („Skizze der Religionstheorie Niklas
Luhmanns", S. 16-25) auf zehn Seiten eine gelungene neutral gehaltene
Einführung in Grundbegriffe und Grundoperationen der Religionssoziologie
Luhmanns, und auch in dem Beitrag von Michael
Welker („Die neue ,Aufhebung der Religion' in Luhmanns Systemtheorie
", S. 93-119, bes. S. 95-99) findet sich manch klärender Hinweis
, der sich der parteilichen Wertung enthält. Insgesamt sind die
Untersuchungen des Bandes aber doch mehr auf Ablehnung. Kritik
und Widerlegung gestimmt als auf eine ruhige und besonnene Auseinandersetzung
, die Kritik ja durchaus nicht ausschließt.

Das hat einige nicht ganz unproblematische Konsequenzen. Zum
einen sinkt dadorch der Grad der Verständlichkeit der einzelnen Beiträge
, denn die allzu stark auf Demontage angelegten Kritiken setzen
ein Verständnis dessen, was sie kritisieren, oft lediglich voraus, anstatt
es selber zu schaffen, so daß man ihre Argumentation zuweilen nur
begreift, wenn man die Luhmanns bereits kennt. Der Kreis derjenigen,
die in der Lage sind, die Arbeiten dieses Bandes angemessen zu rezipieren
, dürfte insofern stark eingeschränkt sein.

Zweitens führt die vordergründig kritische Orientierung der vorliegenden
Aufsätze manchmal zu einer gewissen Einseitigkeit und
Sprunghaftigkeit in der Gedankenführung, wozu dann in seltenen Fällen
sogar noch eine spürbare Umständlichkeit kommt. Das erschwert
die gedankliche Nachvollziehbarkeit der Studien nochmals und steht
zudem in einem merkwürdigen Kontrast zur Theorie Luhmanns
selbst, die alles andere als einseitig und umständlich ist, sich vielmehr
durch gegenständliche Weite und kombinatorische Flexibilität auszeichnet
.

Vor allem aber hat die überkritische Tendenz zur Folge, daß die
vorliegenden Beiträge in manchen ihrer Passagen der Theorie Luhmanns
nicht ganz gerecht werden. Das trifft selbst auf die verständlich
und anregend geschriebene Untersuchung Michael Welkcrs zu. der
unterstellt, daß es Luhmann in seiner Religionssoziologie um die Aufhebung
von Religion und Theologie, um ihre theoretische Destruktion
und Elimination geht (S. 13f, 103IT). In einem ersten Schritt
seiner Zerrüttungsarbeit empfehle Luhmann, so Welker, Kirche, Dia-
konie und Theologie deutlicher voneinander zu trennen und den
gegenwärtig ohnehin ablaufenden Prozeß ihrer wechselseitigen
Distanzierung zu verstärken (S. 103). In einem zweiten Schritt
bemühe er sich darum, der Theologie die Unfähigkeit zur funktionsbewußten
Leitung des Religionssystems nachzuweisen, und strebe
ihre „Ersetzung" durch die Systemtheorie an, die zur funktionalen
Steuerung des Religionssystems besser geeignet sei (S. 104). In einem
dritten Schritt schließlich vollziehe er die Transformation von Religion
in Zivilreligion, in deren Ausbildungsprozeß Theologie und Kirche
„nicht nur stumpf, sondern auch entbehrlich" würden (S. 105).

Gegenüber einer solchen demaskierenden Exegese ist als erstes festzuhalten
, daß Luhmann den Dissoziationsprozeß von Kirche, Diako-
nie und Theologie nicht fordert, sondern - seine Vor- und Nachteile
diskutierend - lediglich beobachtet, ja sogar die Frage nach der Vermittlung
des Getrennten aufwirft (Niklas Luhmann, Funktion der
Religion, Frankfurt/M. 1977, S. 63). Zweitens ist gegen Welkers
Exegese einzuwenden, daß Luhmann Religion und Theologie, obwohl
er ihren Mangel an Funktionsbewußtsein und ihre Unfähigkeit
zur Selbststeuerung immer wieder kritisch anmerkt, nicht ersetzen
will; vielmehr bemüht er sich darum, das Religionssystem als selbst-
substitutive Ordnung und insofern als unersetzbar zu erweisen
(Funktion der Religion, S. 46 ff, 71). Schließlich muß daraufhingewiesen
werden, daß Luhmann Kirche und Theologie nicht in Zivilreligion
überführt und damit entbehrlich macht, sondern von ihrem
„notwendigen Zusammenbestehen" ausgeht (Niklas Luhmann, Soziologische
Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 305). Luhmann kommt es
nicht auf eine Überwindung und noch nicht einmal auf eine Kritik der
Religion an (Funktion der Religion, S. 69ff), sondern auf ihre möglichst
umfassende und präzise soziologische Analyse, die freilich -
und darin hat Michael Welker wiederum recht - durchaus religionskritische
und sogar religionsauflöscnde Züge trägt (dies übrigens aufgrund
ihrer erkenntnistheoretischen Prämissen, ihrer funktionalen
Orientierung, ihrer anpassungsbereiten Akzeptanz des evolutionär
Erfolgreichen usw.). Wäre es Welker darum gegangen aufzuzeigen,
inwiefern Luhmanns Theorie entgegen ihrer erklärten Absicht auf
eine Aufhebung der Religion hinausläuft, hätte sein theorieumgreifender
Demaskierungswirsuch äußerst interessant werden können.