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Ausgabe:

1988

Spalte:

921-923

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stöger, Peter

Titel/Untertitel:

Personalisation bei Igor Caruso 1988

Rezensent:

Haustein, Manfred

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

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Menschen nach Erikson mit ..acht Gottes- und Menschenbildern der
Bibel" so zu korrelieren, daß daraus Einsichten und Hilfen für die
ambivalenten Glaubens- und Lebensfragen heutiger Menschen gewonnen
werden können.

Besonders aufschlußreich ist das letzte (15.) Kapitel: „Kirche der
Seelsorge - ein vergessener Traum? Analysen. Szenarios, Optionen"
(253-287). Hier äußert sich der Vf. vor allem zum Ertrag der Seel-
sorgebewegung der sechziger und siebziger Jahre und nennt einige Beispiele
ihrer (Wicdcr-)Entdeckungen: die Person des Seelsorgers als
Instrument, das Gespür für den anderen, die Erfahrung der Gruppe,
Umgang mit dem Schatten, dem Konflikt und dem Leid, die Aus-
fächerung von seelsorgerlichen Methoden, eine neue Hermeneutik
der Sprache (u. a. Symbol und Körpersprache). Mut zu einer ganzheitlichen
Theologie (259IT). Auch die Widerstände und Einwände
gegen die Seelsorgebewegung werden erörtert, darunter „der Verdacht
einer stillschweigenden Anpassung an die Mechanismen und Zwänge
der spätkapitalistischen Gesellschaft" (nach Y.Spiegel; 263). Dazu
fragt Riess selbst: „Wie steht es denn mit der gesellschaftlichen Verantwortung
der Pastoralpsychologic, speziell der klinischen Seel-
sorge? Sind diese sozialen Ursachen des seelischen Elends überhaupt
ins Blickfeld gekommen?" (ebd.)

Eine Antwort gibt der Vf. nicht. Nur an dieser einen Stelle artikuliert
er in seinem Buch, soweit ich sehe, eine solche Frage (S. 175 referiert
er lediglich, daß es auch „Methoden der Gemeinwesenarbeit oder
der politisch orientierten Beratung" gebe). Das erscheint mir symptomatisch
für seine (und vieler anderer) Scelsorgekonzeption. Sie baut
auf einem individualistisch-existenzialistischen Menschenbild auf.
das freilich durch biblische und ekklesiologisch-kommunitäre Aspekte
modifiziert ist. Bei allen tiefschürfenden Analysen der Gegenwart
, denen man kaum widersprechen kann, herrscht ein pessimistischer
Grundzug vor. Vorschläge zu einer Erweiterung des seelsorgerlichen
Anliegens in Richtung auf eine „Gesellschaftsdiakonie" werden
nebenbei als ..Mcssianismen" bezeichnet (271). Seelsorge bleibt
auf Einzelfallhilfc beschränkt. Dabei ließe die vom Autor gegebene
Zielformulicrung durchaus eine umfassendere Interpretation zu: „Es
ist das Ziel der Scelsorgc, dazu beizutragen, daß der Mensch zu adnem
Menschen wird, der seine Konflikte und Krisen als Ausdruck seines
Menschscins vor Gott zu verstehen und zu verarbeiten lernt." (156)
Kann Seelsorge nicht auch darin bestehen, gegen das anzugehen, was
den Menschen hindert, ein Mensch zu sein, und die Konflikte und
Krisen nicht nur zu verstehen und hinzunehmen, sondern sie in
gemeinsamer Anstrengung von Kirche und Gesellschaft lindern oder
überwinden zu wollen?

Die Friedens- und Ökobewcgung, die Alternativen und Grünen, die
staatliche Gesundheitsfürsorge und nicht zuletzt eine vernünftige
Politik haben oft mehr im Kampf gegen die menschlichen Bedrohungen
unternommen, als es eine nur auf die Opfer konzentrierte Scelsorgc
wahrhaben will. Die „magische Leitvorstellung von der Machbarkeit
aller Sachen" (220) anzuprangern, ist einfach. Aber diejenigen
zu unterstützen, die das Mögliche tun, um für gerechtere Lebensverhältnisse
zu sorgen und um unnötiges Leiden vermeiden zu helfen, das
scheint den Poimenikern in der Tat schwerzufallen. Der Dank an den
versierten Autor wäre noch größer, wenn er auch diese Aufgabe als
seelsorgerlich relevant einmal beschreiben und positiv würdigen
könnte.

Rostock Ernst-Rüdiger Kicsow

Stöger, Peter: Personalisation bei IgorCaruso. Die Psychoanalyse als
Instrument der Befreiung. Mit einem Vorwort von E. Ringel.
Wien-Freiburg-Basel: Herder 1987. 328 S. 8'. Pb. DM 60,-.

Vf. legt „das erste Buch über die Gedankenwelt Igor Carusos nach
seinem allzu frühen Tod" (Ringel) vor. Während sich Freud auf die
intrapsychischen Prozesse, Spannungen, Konflikte und Therapie-
aspektc konzentrierte und wenig Neigung für reformerische oder gar
revolutionäre Sozialinitialiven zeigte, kennzeichnet die bedeutenden

Vertreter der neueren Psychoanalyse (zweite und dritte Generation,
etwa Fromm, Erikson, Mitscherlich, Richter und eben Caruso) weithin
, ohne Absage an das epochale Werk Freuds, die entschiedene integrale
Einbeziehung des sozialen Aspektes. Eine der gängigen Anschuldigungen
der Tiefenpsychologie, nämlich jene des Individualismus,
bereits für Freud als einfache Pauschale schlicht unrichtig, erscheint
inzwischen geradezu absurd und stellt ein durch negative Tradierung
verschlepptes Fehlurteil dar, das dringend korrekturbedürftig ist.

Caruso hat im Bereich der sozialen Psychoanalyse einen hervorragenden
Platz inne. Seine Forderung und sein Bemühen gingen dahin,
„die geschichtliche Dimension in das Studium der Tiefenpsychologie
" einzuführen (199). Wo dies aber geschieht, kommt es Zug um Zug
zum „Engagement für soziale Veränderungen" (197). das Caruso biographisch
dann in besonderer Weise mit Lateinamerika verband. Stöger
wertet die personal-soziale Psychoanalyse Carusos, die heute
durch Arbeitszirkcl in Argentinien, Brasilien und Mexiko ihre Fortsetzung
findet, zu Recht als ein spezifisches Pendant zur Befreiungspädagogik
der Unterdrückten, wie sie Paul Frcire entwarf. Der Autor
gibt dem Sozialengagement des zunehmend „linken" Caruso durchgängig
viel Raum. Er läßt keinen Zweifel daran, daß dieser nicht etwa
die Neuauflage einer ideell-abstrakten Freiheitsideologie, vielmehr
den realen Befreiungsprozeß meinte, wobei er freilich den Personali-
sationsaspekt niemals außer acht ließ. Zumindest nicht uneingeschränkt
überzeugen kann freilich der Versuch Stögers, in einem
umlänglichen Exkurs („Caruso und die Orthodoxie - ein Beitrag zum
Symbolverständnis", 84-130) dessen soziales'Engagcment wesentlich
von ostkirchlichen Einflüssen (soziales Trinitätsdogma der Orthodoxie
usw.) abzuleiten. Hier drängt sich der Eindruck auf. daß dieser
Abschnitt nicht frei von wunschgeleiteter interpretatorischer Überziehung
ist und das Maß des exakt Verifizierbaren deutlich überschreitet.
In diesem Zusammenhang ist auch die Neigung, den marxistischen
Einfluß (es handelt sich dabei ausschließlich um Evidenzen der Gesellschafts
- und Geschichtsanalyse) gegenüber dem christlichen Sozialmotiv
gleichsam „abzupegeln", kritisch einzuschätzen. Bezeichnenderweise
finden sich gerade in dieser Partie gehäuft Ausdrücke wie
„es ist anzunehmen", „es könnte sein" (so u. a. 97,98,99).

Der „christliche" Caruso war, man kommt nicht darum herum,
und Stöger räumt es schon ein, eine Zwischenposition. Außer der liberal
-orthodoxen Herkunft kamen dabei vor allem Einflüsse Teilhard
de Chardins und von Gebsattels zum Tragen, die auch im ^eiteren
nicht einfach ausgelöscht sind. Die christliche Faszination betraf
primär den Personalismus. Die personale Dimension, die ihm von
daher eingeprägt war, ist ihm auch später unveräußerlich. Der Autor
verschweigt, wie gesagt, Carusos wachsende Abständigkeit vom Christentum
nicht. Sie beruht auch auf der „Durchschauung" seiner historischen
Gestalt mittels der marxistischen Gesellschaftsanalyse, aber
führt bis zuletzt keineswegs zum konfessorischen Gegensatz, zur
Aversion. Was verbleibt ist - sprachlich angelehnt an die trefflichen,
differenzierten Kennzeichnungen des Autors - eine friedliche
Distanz, eine milde Reserve, wohl sogar wartend und in Offenheit.
Caruso bezeichnet sich in seiner Spätphase als Agnostiker, freilich im
Sinne eines ehrfürchtig Nichtwissenden, was keineswegs eine atheistische
Position meint, eher Ausdruck einer spezifischen, verhaltenen
Seinsreligiosität ist, welche den Überhang der Frage demütig aushält.
Als ein problematischer interpretatorischer Übergriff erscheint wiederum
, wenn Vf. das meditative Verständnis der Psychoanalyse als
„Weishcitslehre" in ein spätes Zurückkommen auf den „metaphysischen
Charakter von Personalisation" deutet (185). Das agnostische
Offenlassen ist Ausdruck einer gewachsenen, herangereiften Grund-
einstellung. Caruso verweigert sich der Fixierung, dem System. Geschlossene
Systeme blockieren seiner Meinung nach das progressivuniverselle
Erkennen, was gewiß auch eine Anfrage an die Weise
unseres Christseins darstellt.

Stöger erfaßt und vermittelt dankenswerterweise auch jene Einsichten
, Reflexionen und beschwörenden Mahnungen Carusos zur Wclt-
situation und Weltstunde, die man mit Fug und Recht unter das Stich-