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1988

Kategorie:

Praktische Theologie

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Neuerscheinungen

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919

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

920

Angesichts von Bemühungen, Gegensätze in der kirchlichen Gemeinschaft
zu harmonisieren, mag das Buch unzeitgemäß sein. Vor
dem Hintergrund der kirchlichen Realität, über die etliche Praktiker
von Zeit zu Zeit nachdenklich werden, ist dieses mit theoretischem
Anspruch verfaßte Werk von fesselnder Aktualität. Es handelt sich
dabei um eine Göttinger Dissertation von 1987 (Gutachter:
K.-F. Daiberund M. Josuttis).

Wie differenziert sich die Arbeiterschaft auch entwickelt hat', bleibt
Vf. bei diesem Begriff, der immer noch am besten dem Selbstvcrständ-
nis entspreche. Bei seiner Untersuchung kann sich Vf. auf eine Reihe
Vorarbeiten stützen: Untersuchungen von vor 1945 erklären die
Nichtbeteiligung der Arbeiter am kirchlichen Leben damit, daß diese
sich nicht gemäß den kirchlichen Formen verhalten und die Institution
als Interessengegner einstufen. Analysen der sechziger Jahre
unterstreichen das passive Desinteresse der Arbeiter, während in
neueren Untersuchungen die Existenz authentischer Glaubensformen
herausgestellt wird: „Arbeiter eignen sich das Christentum anders an,
als es die tragenden Gruppen in der Kirche tun. Sie sehen aber keine
Chance, ihr eigenes Verständnis in der Kirche durchzusetzen." (59)
Im Anschluß an diese Position überprüft W. das Verständnis der
Arbeiter von Religion und deren kirchlichem Gebrauch ebenso wie er
an Klärung kirchlicher Lebensformen in ihrer Funktion im Blick auf
das Arbeitermilieu interessiert ist.

In eindringlichen Analysen macht W. deutlich, wie Arbeiterschaft
und Kirche sich wie zwei unterschiedliche Kulturen begegnen. Die in
ihrem Credo universale Kirche verhält sich in ihrer Praxis vorwiegend
mittelständisch. Während der Arbeiter aufgrund seiner auf Familie,
Produktion und Solidarität orientierten Lebenserfahrung und -weit
auf greifbare Lösungen in Richtung auf abrechenbare Ziele aus ist
(sein muß), wird im kirchlichen Habitus mittelständischer Provenienz
„das Muster aufgeschobener Bedürfnisbefriedigung (deferred gratifi-
cation pattern - DGP)" (86) gepflegt. Worauf aber soll der Arbeiter
warten, da die von ihm gewünschten Erfüllungen greifbar sind? Ebenso
werden im kirchlichen Habitus Probleme üblicherweise nicht
direkt gelöst, sondern in ihrem „Mehr" an Bedeutsamkeit bedacht
und durch solche Spiritualisierung der Erfahrungswelt des Arbeiters
entnommen. Ihr bleibt nach W. ebenfalls fremd, daß in der Kirche Stil
mehr bedeutet als Ziel. (311) „Ähnliches wird es nur noch im staatlich
-repräsentativen Bereich geben." (253)

So schreibt der Celler Pastor letztlich von dem Schmerz über die auch
in dieser Weise gespaltene Kirche. Das Phänomen ist seit langem bekannt
, und es ist oft beschrieben worden, ohne daß sich die herrschende
Kommunikation innerhalb der Kirche so geändert hätte, daß sie für
einen Großteil ihrer Mitglieder wirklich nachvollziehbar geworden
wäre. Es gibt eine Gewöhnung an diese Art der Trennung in der Kirche.
Anstöße aus Kirchen in der Zwei-Drittel-Welt wecken jedoch eine kritische
Aufmerksamkeit. Wegner tut das auf seine Weise ebenso. Daß sich
das Problem auch für die Kirchen in der DDR in einem gesamtgesellschaftlichen
Horizont stellt und verschärft, liegt auf der Hand.2

Rostock Jens Langer

1 Vgl. für die DDR etwa die Notwendigkeit einer „Zuordnungsdiskussion"
bei Ingrid Lötsch, Zu einigen Problemen der Entwicklung der Sozialstruktur, in:
Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR 23, 1987 Heft 4 (Hg.:
Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Zentralstelle für
soziologische Information und Dokumentation), 33-38.

2 Vgl. auch eine unveröffentlichte, I98S abgeschlossene Untersuchung des
Rez. über „Beziehungen zwischen Evangelium und Kultur in ihrer Bedeutung
für Zeugnis und Gestalt der evangelischen Kirchen in der DDR. Praktisch-theologische
Aspekte einer ökumenischen Debatte".

Krasche. Werner: Einladende Kirche (Theologische Beiträge 19, 1988.
175-190).

Perschke. Heinz: Die Wochensprüche. Auslegungen und Gebete. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1988. 159 S. 8" = Dienst am Wort, 48. Kart. DM 19.80.

Wintzer, Friedrich: Abendmahlspraxis und Abcndmahlsverständnis. Unter
Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklungen (PTh 77,1988, 176-189).

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Riess. Richard: Sehnsucht nach Leben. Spannungsfelder. Sinnbilder
und Spiritualität der Seelsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1987. 309 S. 8°. Kart. DM 39.80.

Titel und Untertitel wecken die Erwartung, daß es sich um eine
neue Monographie des literarisch recht produktiven Autors über denselben
Gegenstand handele, dem schon seine Erlanger Dissertation
von 1972 (als Buch 1973; vgl. Rez. ThLZ99, 1974, 286-288) gewidmet
war. Diese Hoffnung wird insofern enttäuscht, als hier gesammelte
Aufsätze erscheinen, die zu zwei Dritteln schon in Zeitschriften
oder Sammelbänden publiziert worden sind. Die Beiträge stammen
aus den Jahren 1974 bis 1983; fünf von ihnen waren bisher unveröffentlicht
. Die Aufsätze sind nicht chronologisch aneinandergereiht,
sondern als Kapitel bezeichnet und in drei Abschnitten gruppiert:
„I. Spiegelungen des Lebens. II. Spuren der Praxis. III. Spektrum von
Perspektiven." Aber diese Einteilung hat wenig systematischen Charakter
und wirkt eher bloß dekorativ; jedes Kapitel hätte auch einer
der anderen Zwischenüberschriften untergeordnet werden können.
Daher ist es für den Rez. kaum möglich, einen Gesamtüberblick über
den Inhalt des Buches zu vermitteln. Es empfiehlt sich statt dessen,
nur die noch nicht gedruckten Beiträge zu nennen und einige Tendenzen
oder Thesen hervorzuheben.

Zwei Kapitel (3. u. 4.) betreffen Probleme der Sexualität und
Partnerschaft: „Menschwerdung - ein Übergang. Das Verständnis
von Sexualität, Selbstannahme und Seelsorge." (33-48) Sodann: „Der
Andere - eine Arznei? Eine Analyse von Partnerschaft, Ehe und
Familie heute." (48-81) In beiden Fällen wird vielfach aus der einschlägigen
Fachliteratur, aus Belletristik und Lyrik zitiert, ein Verfahren
, das der erstaunlich belesene Vf. auch sonst häufig anwendet.
Ob das notwendig ist, bleibt zu fragen. Der Leser vernimmt lieber den
Autor selbst und könnte sich durch eigene Lektüre auch anderweitig
informieren. Wesentlich Neues erfährt er hier ohnehin nicht. Interessant
ist vielleicht die Stellungnahme zur „Partnerschaft auf Zeit":
Sie wird einerseits als eine Gestalt personaler Verantwortung in der
vorehelichen Beziehung anerkannt, andererseits wird vermutet, daß
in ihr eventuell doch „die stummen Ängste vor dem Stimmungsumschwung
des Anderen, vordem Verlassenwerdcn und vorder Ankunft
von Kindern" verdrängt werden. (69) Ehe sei dagegen etwas anderes,
das ohne „den Anspruch auf Dauer, ohne das Heraustreten aus dem
privaten Raum und ohne den Rechtsschutz staatlicher Ordnung"
nicht denkbar sei. (70)

Im II. Teil findet sich ein Beitrag ohne die bibliographische Angabe,
ob er schon publiziert worden ist oder nicht: „Humanes Sterben - eine
Herausforderung für die heutige Seelsorge. Leitsätze Für die Lebenspraxis
" (8. Kap., 139-150). Gleich im ersten Satz werden „Sterben"
und „Sterbehilfe" als Tabu in mehrfacher Hinsicht bezeichnet - eine
Feststellung, die nach so vielen Jahren öffentlicher Diskussion wohl
kaum noch generell zutrifft. Neben vielen eindrücklichen Zitaten wird
die Position des Vf. deutlich markiert: Er plädiert weder für Lebensverlängerung
um jeden Preis noch für eine aktive Sterbehilfe, vielmehr
für eine seelsorgerliche Begleitung, die die mertschliche Beziehung
durchhält und zur „Entdeckung eines Lebens in der Tiefe"
verhilft (149).

Im III. Teil beschäftigt sich das 12. Kapitel mit dem Thema „Missio
und Communio. Zur missionarischen Dimension der kirchlichen
Seelsorge" (200-217). Das an sich sehr aktuelle Anliegen wird im
wesentlichen pastoraltheologisch behandelt: Mission ist hier nicht in
erster Linie als ekklesiologisches Problem verstanden, sondern als ein
Charisma des Seelsorgers, der vermöge seiner erfahrenen Identität für
andere zum „Apostel der Gnade" werden kann.

Das 14. Kapitel: „Gottes- und Menschenbilder: Grundmuster
biblischer Leitmotive und menschlichen Lebens" (235-253) macht
den - m. E. gelungenen - Versuch, die bekannten acht Phasen des