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Ausgabe:

1988

Spalte:

918-919

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard

Titel/Untertitel:

Alltägliche Distanz 1988

Rezensent:

Langer, Jens

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Theologische Literaturzeitung 1 13. Jahrgang 1988 Nr. 12

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Kirchl. Hochschule in Berlin (West) nötigte dann dazu, die Folgerungen
ortsgemeindlicher Erfahrungen vor allem für die Möglichkeiten
der Predigt und der Arbeil an dieser weiterzudenken; daraus sind
nachher die variablen Konzeptionen der „Predigtstudien" hervorgegangen
, die den Namen Langes unter Pfarrern und Theologiestudierenden
am bekanntesten gemacht haben. Die dadurch ausgelöste
homiletische Fachdiskussion wird von Licdtkc nur perspektivisch
beleuchtet, im einzelnen aber bewußt ausgeklammert.

Der nächste Schritt war nach der Aufgabe seiner Professur Langes
Berufung nach Genf zum Beigeordneten Generalsekretär des Ökumenischen
Rats, in die Zentrale der Bewegung, die er immer als seine
..Heimat" empfunden hatte. Die dortige Verantwortung half ihm,
jene beiden Arbeiten zutage zu fördern, deren Darstellung mir in dieser
Dissertation am besten gelungen erscheint; die sozusagen prospektiv
dem „Leben im Wandel" und retrospektiv der „Ökumenischen
Utopie" gelten, insgesamt dem „verantwortlichen Leben der Christen
in einer sich wandelnden Welt".

Die beiden, seine Genfer Erfahrungen resümierenden Schriften sind
miteinander auch durch die gleichfalls dort, z. T. in der Nähe P.'Frei-
res herangereifte Frage nach einer „Pädagogik der Gewissensbildung"
verbunden, die sich für Lange schon an der kirchenreformerischen
Dauerkonfrontation mit dem in vielen Varianten wirksamen „paro-
chialen Gewissen" entzündet hatte. Sie half nach dem Weggang aus
Genf dem als freier Schriftsteller Arbeitenden, die Aufsätze über eine
konfliktorientierte Erwachsenenbildung als kirchliche Aufgabe hervorzubringen
. Und diese wiederum waren bereits ein Ausdruck jener
Spannung, die Lange dann zuletzt in der Tür viele unerwarteten Rolle
als Oberkirchenrat in der „Spinnstube der EKD", sozusagen vom
gegenläufigen Pol her, von der (abnehmend) stabilen Volkskirche als
dem Wurzelboden des parochialen Gewissens her zu diagnostizieren,
anzudenken und anzugehen hatte.

Die umstrittene, gegensätzlich ausgewertete große Stabilitätsumfrage
, deren offizielle Interpretation Langes Feder ihre entscheidenden
Partien verdankt, gibt, der um die Idee der Konziliarität kreisenden
ökumenischen Utopie gegenübergestellt, wohl genau jene spannungsvolle
Wirklichkeit des gegenwärtigen Christentums und seiner protestantischen
Kirchentümer wieder, die in eine schlüssige lehrmäßige
Konzeption einzufangen Lange dann nicht mehr gelingen sollte. Vor
dieser Aufgabe hat er schließlich kapituliert, hin- und hergerissen zwischen
persönlicher und kirchlicher, durch die Krankheit verschärfter
Resignation, den überhohen Erwartungen vieler und den noch höheren
Ansprüchen an das eigene Leistungsniveau, das er sich schuldig zu
sein glaubte.

So wird die Lektüre dieser Dissertation zu einer bewegenden (Wic-
dcr-)Begegnung mit diesem zwischen ekklesialer Empirie und Vision
hin- und hergezerrten genialen Denker und Schreiber, dessen literarische
Hinterlassenschaft hier in einer - fast zu - einheitlichen Gesamtperspektive
vorgestellt wird, unter der er selber in gut gewählten Passagen
ausgiebig zu Wort kommt.

Daß dieses fragmentarisch hinterlassene Werk und seine Darstellung
auch über diese hinaus offene Fragen im nachdenkenden Leser
anstößt, kanp nicht verwundern. Mich hat z. B. die 2. Leitthese des
Vf., wonach Lange in seinen praktisch-theologischen Überlegungen
sich entscheidend dem systematischen Ansatz Dietrich Bonhoeffers
verpflichtet gewußt habe, nur in dem sehr allgemeinen Sinn überzeugt
, daß er wie viele andere auch entschlossen versucht hat, in der
nunmehr total veränderten Lage an dem weiterzulernen, was Bon-
hoeffer als Vordenker und Randgestalt der Bekennenden Kirche auf
seine die hergebrachten wissenschaftlichen, konfessionellen und
schulthcologischen Konzepte öffnende Weise angedacht hatte. Das
9. Kap.. in dem Vf. seine 2. Leitthese zusammenfassend erörtert, weist
ebenso viele Divergenzen wie Konvergenzen zu diesem Gewährsmann
auf. Daß das Christentum in der vollen Diesseitigkeit einer
mündig gewordenen Welt an deren starken Stellen und nicht in deren
Lücken die Überzeugungskraft seiner Glaubensbotschaft zu erweisen
habe und daß nur so eine auch in ihrer Sozialgcstalt nüchtern ernstgenommene
Kirche wahrhaft Kirche zu bleiben vermöge, darüber
herrscht Einverständnis. Doch die für Lange besonders wichtigen
Leitbegriffe wie Verheißung oder Utopie lassen sich in Bonhoeffers
Ansatz m. E. theologisch nicht leicht unterbringen; ihm legte die
Grundfrage, wer Christus heute für uns sei, andere Schwerpunkte
näher. Monographische Würdigungen der Nachfahren machen an
einem sie faszinierenden Namen gerne vieles fest, was aus einem
breiteren Hintergrund herkommt. Als hervorgehobenen Vollstrecker
Bonhoefferscher Vermächtnisse hat Lange sich schwerlich gesehen; in
der Schülerschaft und Beachtung wichtiger Anstöße Bonhoeffers steht
er in einer Reihe mit vielen.

So verkleinert es Langes persönliches Charisma und den Eindruck
der Kraft seiner beweglichen und doch genauen Sprache nicht, wenn
man ihn nicht nur als einsamen Bahnbrecher, sondern mehr noch als
hervorragenden Exponenten zeitbedingter theologischer und kirchlicher
Entwicklungen sieht, die sich in breitem Kontext um ihn herum
abgespielt haben. Über den Funktionswandel der Ortsgemeinden ist
vor ihm und um ihn her z. B. auf den Spuren von E. Müllers .anders
gewordener Welt' oder Hockendijks .Kirche der Zukunft' viel nachgedacht
und kirchenreformerisch angestoßen worden. Ebenso sind
auch manche anderen Lehrlinge der Dialektischen Theologie früh auf
die Grenzen des dortigen, vom Verkündigungsgeschehen dominierten
Predigtverständnisses gestoßen und haben energisch nach der „wirklichen
" Predigt oder nach ihrem „Hörer" und nach dem „Prediger"
selber zu fragen begonnen.

Man tut gut daran, Ernst Lange gegen das laut gewordene Mißtrauen
in Schutz zu nehmen, das in ihm den Anwalt einer fast bloß auf
das Machbare ausgerichteten Prakt. Theologie und des entsprechenden
kirchlichen Handelns sehen will und nach stärkerer Entfaltung
der theologischen Begründungen verlangt - gewiß nicht ganz ohne
Veranlassungen in Kreisen, die sich auch auf Lange berufen.

Daß „Wirklichkeit im Licht der Verheißung", wenn dies denn seine
Kurzformel für die Einheit der Praktischen Theologie sein sollte (so
S. 418), Tür diese im wissenschaftlichen Sinne nicht ausreicht, ist
sicher. Sie bleibt eine eher paränetische Formel für einen trotz allem
zuversichtlichen, hoffnungsvollen Umgang aller Christen mit der so
tief bedrohten Schöpfungswelt überhaupt und ist im Horizont seiner
Schriftstellerei vorab auf den Laien als Hauptadressaten gemünzt.

Man wird sich aber auch fragen müssen, ob nicht Begriffe wie die
„sich verwirklichende Eschatologie" oder der „in Christus weltweit
eröffnete Schalom" als Intcrpretamente für Langes Reden von einer
„verbesserlichen Welt" sachlich wie temporal allzu ungeklärte Hoff-
nungs-Chiffren ins Spiel bringen. Sind sie hinreichend geschützt gegen
das Abgleiten in einen wie auch immer kämpferisch-protestierend
auftretenden Fortschrittsoptimismus, der weit über den dem Glaubenden
zuzumutenden leidensbereiten Kampf um die Ermöglichung
und Erhaltung besserer menschlicher Lebensbedingungen für alle hinausgreift
?

Die „verbesserliche Welt" (das bleibt sie gottlob) kann jedenfalls
keine Parole für einen welterobernden Vorgriff sein, die der Menschheit
sozusagen auf direktem Weg eine vollkommenere Zukunft verspräche
, Tür die das Evangelium vom gekreuzigten Christus so nicht
bürgt und Für die die Christenheit sich erst recht nicht selber verbürgen
könnte. Kann die Rede von der verbesserlichen Welt mehr
sein wollen als eine Art ermutigender Begleitmusik im comparativus
modestiae zu jenem verantwortlichen Umgang mit einer sich wandelnden
Welt, zu dem die dem Glauben geschenkte, vom Evangelium
verbürgte „Gewissensgewißheit" (G. Ebeling) vor Gott die Christen
befreit und ermächtigt?

Tüb'ngen Werner Jettcr

Wegner, Gerhard: Alltägliche Distanz. Zum Verhältnis von Arbeitern
und Kirche. Hannover: Luth. Verlagshaus 1988. 338 S. 8°.
DM 28,-.