Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1988

Spalte:

910-911

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Widerstand und Verfolgung in Köln, 1933 - 1945 1988

Rezensent:

M., R.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

909

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

910

sich in kirchenleitenden Kreisen und im Evangelischen Volksbund
nationalistische Positionen herausbildeten und verschärften, und
Lorenz kann überzeugend nachweisen, wie diese im Falle von Pfarrer
Hermann Teutsch, einem einflußreichen Führer des Volksbundes, in
präfaschistische Tendenzen übergehen und schließlich zum frühen
Eintritt dieses Pfarrers in die NSDAP führen (S. 205ff).

Für die kirchlichen Kreise, die scheinbar auf dem Boden der Weimarer
Republik stehen, gilt das, was Lorenz mit einem sarkastischen
Wort von Emil Fuchs (dem er überhaupt große Aufmerksamkeit
schenkt) festmacht: Mitte der zwanziger Jahre standen die Kirchen
gleichsam da. wo Naumann 1890 gestanden habe (S. 244). Ich habe
diesen Vorgang schon vor 20 Jahren „Phasenverschiebung" genannt
.

Auf einem solchen Hintergrund erhält die Ausbreitung religiös-
sozialistischer Konzeptionen in Baden, speziell in Mannheim, eine
um so größere Bedeutung (S. I I2ff), und zwar sowohl unter theologischen
und kirchenpolitischen wie unter politischen und sozialen
Gesichtspunkten, nicht zuletzt im Hinblick auf das energische Auftreten
religiöser Sozialisten in synodalen Auseinandersetzungen.
Dabei ist bemerkenswert, wie Lorenz die die gesellschaftliche Praxis
bestimmende Solidarität religiöser Sozialisten mit der Arbeiterklasse
(S. 192) ebenso herausarbeitet wie Fragen der Theoriebildung
(S. 193ff. 245ff). Er kann auch sehr genau die je unterschiedlichen
Ansatzpunkte religiös-sozialistischer Position in der Haltung von vier
Pfarrern in Mannheim herausstellen:

Mit Erwin Eckert (in Mannheim seit 1926) und Heinz Kappes (in
Mannheim 1920 bis 1922) werden Pfarrer porträtiert, deren religiössozialistische
Orientierung von der „praktischen Solidarität... mit
dem Kampf der Arbeiterbewegung um Demokratie im Sozialismus"
(S. 194) bestimmt wird. Bei ihnen wird - mit dem Akzent auf je
aktuelle Probleme des politischen und kirchenpolitischen Kampfes-
„die Unterscheidung von Christentum und Politik vollzogen mit der
Zuweisung des Christentums an die subjektive Sinnfrage, den Zweifel
und die (auch politisch-)ethische Motivation" (S. 193).

Bei dem schon erwähnten, aus einer anderen Generation stammenden
Lehmann wird diese Charakterisierung vorgenommen: „Bezogen
die religiösen Sozialisten die theologische Deutung historischer und
gesellschaftlicher Phänomene, besonders der sozialen Bewegung,
unter dem Aspekt des nahenden Reiches Gottes von den Religiös-
Sozialen, so beerbten sie die evangelisch-soziale Bewegung hinsichtlich
soziologischer Analyse und konkreter politischer Praxis"
(S. 192).

Auch Tür Theodor Steltz, der nur zeitweilig, allerdings sehr schwärmerisch
, religiöser Sozialist war. nimmt Lorenz diese Ausgangsposition
an. fügt dann aber scharfsinnig hinzu: „Wo der Zweitakt von
ethischer Norm und profaner Analyse nicht durchgehalten werden
konnte wie bei Steltz, der zwar Inhalte des sozialistischen Weltbildes
seiner Zeit, nicht aber die analytische Methodik etwa der von ihm
bewunderten Rosa Luxemburg rezipiert hatte, konnte ein vormals
sozialistischer Pfarrer der Verführungskraft der nationalsozialistischen
Propaganda ebenso erliegen wie seine konservativ-nationalen
Kollegen von der kirchlich-positiven Vereinigung, nur aus anderen
Gründen. Steltz empfand nach wie vor als Sozialist, als Antibourgeois
und erhoffte als solcher vom Nationalsozialismus das Ende der bürgerlichen
, .liberalen'Gesellschaft, die er u. a. für den Ersten Weltkrieg
verantwortlich machte." (S. I93f)

Lorenz hat damit auf seine Weise, d. h. vom regionalgeschicht-
lichen Ansatz und seiner theologischen Position her, einen aufschlußreichen
Beitrag nicht nur zur Bewertung der Polarisierungsprozesse
im Protestantismus geleistet, sondern vor allem auch zur differenzierten
Aufhellung des religiösen Sozialismus. Dessen Vertreter erscheinen
nicht mehr (je nach Standpunkt) „nur" als Außenseiter oder
„nur" als Pioniere - sie gehören zum kirchlichen Leben dieser Zeit
und werden nach ihrer Haltung, ihrem Einfluß, ihrem Engagement
ohne Ressentiments beurteilt.

Zusammenfassend müßte im Blick auf das bemerkenswerte Buch

von Lorenz auf ein methodologisches Problem hingewiesen werden
:

Lorenz hat neben zahlreichen kirchengeschichtlichen Darstellungen
und Arbeiten bürgerlicher Historiker wichtige Veröffentlichungen
von Klassikern des Marxismus und von DDR-Gelehrten wie Jürgen
Kuczynski, vor allem aber von marxistischen Gesellschaftswissenschaftlern
der BRD zu Rate gezogen, von letzteren Wolfgang
Abendroth, Friedrich-Martin Balzer, Georg Fülberth, Reinhard
Kühnl, Reinhard Opitz, Hans Jörg Sandkühler. Die von Kühnl fixierten
Grundmotivationen für Anfälligkeit gegenüber dem Faschismus
wurden von Lorenz geradezu als Kriterien für die Analyse präfaschistischer
Tendenzen im Protestantismus herangezogen (S. 216ff). Dies
halte ich für einen nicht unwichtigen Aspekt der geistigen Auseinandersetzung
um das Geschichtsbild in der Bundesrepublik Deutschland
- zumal im Licht oder unter dem Schatten des sogenannten
Historikerstreits.

Zu dieser methodologischen Frage gehört ein anderer Aspekt, der
nun freilich einen gewissen Bruch in der Arbeit von Lorenz zeigt:

Während der Vf. in seiner Gesamtdarstellung explizit und implizit
bemüht ist. gleichsam die Gesetzmäßigkeiten des sozialen Fortschritts
als Norm für seine Urteile zu bemühen, hat er in der Einleitung des
Buches eine andere Norm für seine Arbeit statuiert, die aber so in der
Darstellung nicht zu entdecken ist.

Auf der ersten Seite der Einleitung heißt es zunächst und nach dem
bisher Analysierten folgerichtig: „Die Aufarbeitung der kirchlichen
Sozialgeschichte unter Berücksichtigung ihrer politischen Aspekle
kann die ekklesiologische Beurteilung der neueren Kirchengeschichte
mit vorbereiten" (S. 11). Dann aber fügt er hinzu: „Die dieser Studie
zugrunde liegenden Maßstäbe orientieren sich an den Grundwerten
der neueren evangelischen Ethik des Politischen, wie sie insbesondere
im jüngsten Nachdenken über die theologische Bedeutung der Menschenrechte
sichtbar werden: Eine menschenwürdige Gesellschaft
setzt demnach voraus das beständige Mühen um die Verringerung
sozialer Unterschiede sowie die kommunikative anstelle der gewaltsamen
Bearbeitung politischer Gegensätze." (S. 11 0 Wenn ich richtig
sehe, wird dies in der Darstellung so ausdrücklich kaum aufgenommen
(und es ist interessant, daß die neueste Literatur, die Lorenz an
dieser Stelle zitiert, tatsächlich erst nach Abschluß der Dissertation in
Heidelberg 1977 erschienen ist).

Dieser Einwand und der Vorbehalt, der sich auf einige Detailbemerkungen
bezieht, können den Eindruck nicht verwischen, daß es
sich bei diesem Buch um eine bemerkenswerte Veröffentlichung handelt
, die prinzipielle Probleme der Sozialgeschichte des deutschen
Protestantismus der letzten 100 Jahre am bezeichnenden regionalgeschichtlichen
Topos erfaßt hat.

B"lin Günter Wirth

Die Relevanz des Regionalgeschichtlichen Tür die Charakterisierung prinzipieller
Positionen erweist sich auch u. a. bei: Wirth. G.. Das Lutherbild der
Geistlichkeit in einem Zentrum deutschen Luthertums, in Dresden 1917. in:
Gerhard Brendler u. a. (Hg.), Martin Luther. Leistung und Erbe. Berlin 1986.
S. 408ff; Schneider. U.. Bekennende Kirche zwischen „freudigem Ja" und antifaschistischem
Widerstand. Kassel 1986; hier geht es vor allem um Kurhessen-
Waldeck und Marburg.

Bredendick, W., Zur Rezeption des „progressiven Erbes" im deutschen
Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts-Thesen, inzwischen Aufbruch
und Beharrung. Der deutsche Prolcstantismus in politischen Entscheidungs-
prozessen. Berlin 1978, S. 216.

Widerstand und Verfolgung in Köln 1933-1945. Ausstellung Historisches
Archiv der Stadt Köln, 8. Februar bis 28. April 1974.
Unveränderter Nachdruck d. Ausg. von 1974. Köln: Stadt Köln
Historisches Archiv 1981.425 S.. 29 Taf. gr. 8°. DM 10.-.

Der jetzt erst eingegangene Katalog einer Ausstellung über die Zeit
des Nationalsozialismus in Deutschland, speziell in Köln, von 1974