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Ausgabe:

1988

Spalte:

899-902

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schulz, Siegfried

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Ethik 1988

Rezensent:

Strecker, Georg

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 12

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bleiben, die allein aus Gottes Barmherzigkeit gehalten sind und nur so
leben können? Der Evangelist Matthäus ist sich dessen - wie die
anderen Redekomplexe in Kap. 10,13, 18 und 24-25 zeigen - durchaus
bewußt. Mit dieser Frage soll nicht behauptet werden, daß der Vf.
nicht selbst solche Bedenken kennte. Doch wäre ihnen mehr Raum zu
geben, um das Verhältnis von Ethik und Ekklesiologie genauer zu
bestimmen. Gerade wenn das Volk Gottes sich darüber klar wird, daß
zuallererst an seine Adresse die Bergpredigt gerichtet ist, wird es
begreifen lernen, daß diese damit ihren zutiefst beunruhigenden Charakter
nicht etwa verliert, sondern nur als Freudenbotschaft und Bußruf
zugleich gehört werden kann, als forderndes Gesetz, vor dem wir
schuldig sind, und als befreiendes Evangelium, dessen Zuspruch und
Anspruch allein Nachfolge möglich werden läßt.

Göttingen Eduard Lohse

Schulz. Siegfried: Neutestamentlichc Ethik. Zürich: Theologischer
Verlag 1987. 681 S. gr. 8" = Zürcher Grundrisse zur Bibel. Kart,
sfr 56.-.

Schnackenburg. Rudolf: Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments
. I: Von Jesus zur Urkirche. Völlige Neubearb. Freiburg-Basel
-Wien: Herder 1986. 271 S. gr. 8° = Herders theologischer
Kommentar zum Neuen Testament, Supplbd. 1. Lw. DM 48,-.

Das Problem der neutestamentlichen Ethik setzt mit der Frage nach
dem Aufriß ein. Anders als etwa die in der Zwischenzeit erschienene
..Theologische Ethik des Neuen Testaments" von Eduard Lohse. die
sich an ethischen Sachgebieten orientiert, sind die beiden hier anzuzeigenden
Werke durch eine chronologische Gliederung bestimmt
und beginnen mit der Ethik Jesu. Siegfried Schulz hat sich in seinem
groß angelegten Werk, in das er die Ergebnisse eines intensiven Forscherlebens
eingebracht hat, in gewohnter Weise sowohl eindringend
argumentierend als auch entschlossen konstruierend vorgehend, auf
den chronologischen Aufriß eingelassen. Dies hat den Vorteil, daß die
ethischen Aussagen des Neuen Testaments jeweils aus ihrem historischen
und literarischen Kontext interpretiert werden, freilich den
Nachteil, daß gegenüber dem grundsätzlich berechtigten Bestreben,
traditionsgeschichtliche Linien zu ziehen, die systematische und her-
meneutische Aufgabe, wie sie ebenfalls mit einer neutestamentlichen
Ethik gegeben ist, zurücktreten muß. Entsprechend dieser Perspektive
setzt der Vf. mit, Jesus von Nazareth" als dem „letzten Propheten der
Endzeit vor der anbrechenden Gottesherrschaft" ein (Kap. I;
S. 18ff.31). Jesus wird als Wanderprophet gezeichnet, dessen Botschaft
jüdisch, aber schroff antipharisäisch ausgerichtet war. So zeigt
es sich an Jesu Verschärfung des mosaischen Moralgesetzes wie auch
an der Entschärfung des mosaischen Kultgesetzes (S. 38ff). Kennzeichnend
für Jesu Botschaft ist vor allem sein ethischer Rigorismus.
Hier verbinden sich weisheitliche Mahnungen mit prophetischer
Autorität. Die Nachfolger Jesu werden als einzelne in die Heimat-,
Berufs- und Familienlosigkeit, „in die Existenz der Wanderradikalen"
gerufen (S. 62). Diesem Ruf korrespondiert die apokalyptische Naherwartung
der Gottesherrschaft, welche sich auf den Besitz des Geistes
der Endzeit gründet (S. 64). - Die „nachösterlichen Jesusgemeinden"
(Kap. 2) schließen hier an; denn es handelt sich um „innerjüdische"
Gemeinden, die wie auch die ihnen korrespondierenden „Wanderpropheten
" eine eigene Ethik haben. Ihre Darstellung basiert auf der
Rekonstruktion der Q-Überlieferung, der vormarkinischen Tradition
und dem matthäischen und lukanischen Sondergut, d. h. auf Traditionsschichten
, die jeweils auf selbständige Gerneinden in Palästina
und Syrien zurückgeführt werden; diese verblieben im Verband
Israels, da sie sämtlich das Kultgesetz Moses anerkannten (S. 87). Es
ist nur konsequent, daß der Verfasser hier die gleiche verschärfende
und entschärfende Interpretation des Mosegesetzes wie bei Jesus findet
. Anders als durch Jesus wird aber in diesen Gemeinden die pharisäische
Gesetzesauslegung bejaht (S. 124ff). Erst die hellenistische
Kirche (Kap. 3; S. 138ff) hat mit der Heilsbedeutung des Mosegesetzes
gebrochen bzw. dieses auf das Moralgesetz. reduziert. Hierzu

finden sich im hellenistischen Judentum Ansätze, wenngleich auch
die judenchristlichen Hellenisten in Jerusalem (der Kreis des Stepha-
nus) keineswegs prinzipiell ein gesetzesfreies Christentum lehrten und
lebten. Der eigentliche Ansatzpunkt für die folgende Entwicklung ist
die antiochenische Gemeinde, von der die nicht an das ganze Ritualgesetz
gebundene Heidenmission ihren Ausgang nahm (S. 139). Dabei
bleibt unbestritten, daß das neue Bundesvolk mit dem alten Gottesvolk
heilsgeschichtlich verbunden war und dieses Bewußtsein auch
die rituelle und ethische Praxis der hellenistischen Kirche prägte
(S. 169).

Nicht nur die allmähliche Ablösung von der jüdischen und judenchristlichen
Grundlegung der Urkirche ist für die Ethik des entstehenden
Christentums kennzeichnend, sondern auch die Auseinandersetzung
mit der christlichen Gnosis, deren Traditionen der Vf. in den
Paulusbriefen findet und deren ethische Aussagen als „geistgewirkte
Emanzipation" erklärt werden (Kap. 4; S. 180IT). Für das Johannesevangelium
wird eine „gnostische Grundschrift" vorausgesetzt, in der
das jüdische Gesetz gegenüber der Sendung des Offenbarere jede
posjtive Bedeutung verloren hat und die Ethik „verabschiedet" worden
ist (S. 2041T), wie denn gnostische Traditionen auch im übrigen
Neuen Testament nachweisbar sind (S. 246IT).

Bei der Darstellung der Ethik des Paulus geht der Vf. zu Recht von
der These aus, daß zwischen einer Früh- und einer Spätphase zu
unterscheiden ist (Kap. 5; S. 290ff). Die erste steht der Überlieferung
der hellenistischen Kirche nahe und wird durch den'lThess bezeugt.
Die Spätphasc, die in den übrigen Briefen des Paulus dokumentiert ist,
kreist um die Lehre vom Gesetz und entfaltet die paulinische Ethik im
Zusammenhang von Pneumatologie und Christologie. Als „Charismenlehre
" ist sie „die polemische Antwort des Apostels auf die dualistische
pneumatika-Lehrc seiner judenchristlich-gnostischen Gegner"
(S. 354).

Auch die Synoptiker (Kap. 6; S. 434ff) reflektieren in unterschiedlicher
Weise den ethischen Anspruch Jesu Christi. Das Markusevangelium
ist als das erste Evangelienbuch auch das „erste Dokument der
christlichen Ethik für die Kirche in der bleibenden Welt" (S. 434ff).
Das Matthäusevangelium wird als „Lehrbuch der christlichen Ethik
für die Kirche aller Zeiten" charakterisiert (S. 447ff). Lukas stellt das
alttestamentliche Gesetz in den Zusammenhang der Heilsgeschichte,
was zu einer Ethisierung des christlichen Lebens führt (S. 466 IT). - Die
johanneischen Schriften (Kap. 7; S. 486ff, zur johanneischen ..Schultradition
" wird auch die Johanncsapokalypse gezählt) stehen im antihäretischen
Abwehrkampf. Zurück treten die Auseinandersetzung
mit dem Mosegesetz wie auch sozialethischc Fragestellungen. Statt
dessen ist das „alt-neue Gebot der Bruderliebe" zu einem Zentralpunkt
christlicher Ethik geworden. Daneben steht die Johannesapokalypse
, in der der Antichrist mit dem römischen Weltreich
gleichgesetzt ist und die „rigoristisch-ethische Tradition des Urchristentums
" fortwirkt. - Die Deuteropaulinen modifizieren und entfalten
in einer späteren Zeit das paulinische Erbe (Kap. 8; S. 556ff).
Hierzu wird auch der erste Petrusbrief gezählt, dessen „Paulinismus"
trotz der Zuschreibung zum Apostel Petrus (1.10 besonders hervorgehoben
wird (S. 614). Die katholischen Briefe (Jak, Jud. 2Petr)
bezeugen die „apostolisch verbürgte Lehrtradition" in Hinsicht auf
das Leben der Kirche in einer gottlosen Welt (Kap. 9; S. 642ff). wie
schon in den Deuteropaulinen (S. 632: Hebr) zeichnet sich in ihnen
eine „Leistungsfrömmigkeit" ab, die das Gesetz als Heilsweg aufwertet
(z. B. Jak:S. 642ff).

Alles in allem ein imponierender Entwurf, dessen besondere Stärke
in der im einzelnen begründeten Zuweisung der ethischen Aussagen
des Neuen Testaments zu ihrem sie bestimmenden historischen Hintergrund
zu sehen ist. Da der Vf. viele der in diesem Werk vorausgesetzten
Ergebnisse in seinen früheren Arbeiten ausgeführt und
belegt hat, sollen an dieser Stelle nur einige Fragen formuliert werden:
Problematisch erscheint die Voraussetzung, wonach Gemeinden der
Q-Tradition wie auch des matthäischen und lukanischen Sondergutes
postuliert werden; darüber hinaus bleibt fraglich, ob und wie die