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Ausgabe:

1988

Spalte:

854-855

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Gebhardt, Winfried

Titel/Untertitel:

Fest, Feier und Alltag 1988

Rezensent:

Bieritz, Karl-Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 1 I

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Woodruff und Bröckelniann verhallen der Sonntagsschule nach 1863
in Deutschland zum Durchbruch. Das „gemeindemissionarische
Konzept" der Sonntagsschule mache deutlich, „daß Zukunft jeder
Kirche sich nicht zuletzt am Umgang mit den Kindern entscheidet
.. ." Es sei in seinem Ursprung und Wesen „eine Laienbewegung,
die selbst durch Stör- und Behinderungsversuchc staatlicher und
kirchlicher Behörden nicht entscheidend behindert werden konnte".
(S. 63) Als Laienbewegung sei die Sonntagsschule kirchlich adoptiert.
„An der Klcrikalisicrung der Sonntagsschule und ihrer Umbcnen-
nung in Kindergottesdienst. . . laßt sich ablesen, wie verunsichert und
repressiv eine in Institutionalisierung erstarrte Amtskirche reagiert,
wenn der lutherische Grundsatz vom .Priestertum aller Gläubigen'
von einer Gruppe engagierter Laien ernstgenommen und in eine konkrete
Form umgesetzt wird . . ." (S. 84) Instruktiv für diese Zeit sind
zwei Exkurse über die Sonnlagsschul- und Kindergottesdienstver-
bände sowie über Dietrich Vorwcrck, der bereits sehr früh kinderpsychologische
Ergebnisse bei der Gestaltung des Kindergottesdienstes
berücksichtigt wissen wollte.

Der Kindergottesdienst in der NS-Zcit, in den Nachkriegs-Jahren in
der Bundesrepublik und der DDR münden in Fragestellungen der Gegenwart
. Resignierend wird das Resümee gezogen: „Der Kindergottesdienst
sitzt praktisch-theologisch gesehen zwischen allen Stühlen,
da keine der Teildisziplinen ihn für sich zu reklamieren in der Lage
ist." (S. 175) Für die Gestaltung seien Religionspädagogik, Liturgik
und Homiletik in besonderer Weise relevant (S. 183). Wichtig sei,
„daß in Kindergotlcsdienst-Theoriemodellcn und Praxisentwürfen
seine Multidimensionalität angemessen Berücksichtigung findet, damit
die Einseitigkeit, die sich in der Geschichte immer wieder als
problematisch erwiesen hat. für die Zukunft vermieden werden
kann". (S. 178) Bei diesem nicht aufzugebenden multidimensionalen
Interpretationsmodell unterscheidet Berg teilnehmerorientierte Elemente
(individuelle Dimension) wie Religionspädagogik, Entwick-
lungspsychologic/Pädagogik, Seelsorgc und Diakonic von traditions-
orientierten Elementen (gemeinschaftliche Dimension) wie Liturgik,
Homiletik, Gemeindemission und Kybernetik. Der Kindergottesdienst
müsse beide Schwerpunkte berücksichtigen: Kind und Gottesdienst
. Dem korrespondieren die Begriffe Teilnehmer- und Traditionsorientierung
(S. 169), Kinder und Gemeinde (ebd.), Aktualität
und Traditionsbewußtsein (S. 177).

Hier nun, wo Grundfragen des sicherlich noch keineswegs aufgearbeiteten
Theoric-Praxis-Verhältnisscs der Praktischen Theologie
berührt werden, vermißt man einen Seitenblick zur sich etablierenden
Gemeindepädagogik, die in der gesamten Arbeit mit keinem Wort erwähnt
wird, könnte doch der Kindcrgottesdiensr geradezu als ein
Paradestück gemeindepädagogischer Fragestellung interpretiert werden
. Das o.g. Intcrpretationsmodell könnte sich dabei als Hilfe erweisen
, um zugleich das leidige Entweder-Oder zu überwinden. Dabei
ist zu fragen, ob die Unterscheidung und jeweilige Zuordnung der
Bereiche zu den Dimensionen sachgerecht ist. Gehören nicht zur „gemeinschaftlichen
Dimension" auch Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie
, ist dem Begriff der Gemeinde der der Kinder
entgegenzusetzen? Berg weiß, hier handelt es sich letztlich um Scheinalternativen
, da Kinder ja selbst Gemeinde sind; welche Bedeutung
aber hat dann „Gemeinde"? Hier tauchen Fragen auf, die besonders
im Abschnitt „Von der Sonnntagsschule zum Kindergottesdienst"
(vgl. auch Untertitel des Buches) vorschnell einseitig beantwortet wurden
, indem der Prozeß rein negativ beschrieben wurde als Klcrikalisicrung
der Sonntagsschule und einer damit verbundenen Degradierung
der Sonntagsschullehrer zu „Helfern". Bergs Engagement für die
Ehrenamtlichen ist ehrenwert, es darf aber nicht zur Ausblcndung
nicht genehmer Fakten führen, wie die Bemühungen von Harms. Palmer
und v. Zczschwitz auf der einen Seite sowie später etwa Stimmen
wie die von Dörpfeld oder Clausnitzer, die zur Verschmelzung von
Sonntagsschule mit „kultischer Kinderlchrc" zum deutschen „Kin-
dergoltcsdienst" führten: wie anders wollte man die Zitate von Dibe-
lius (S. 75)oder Dalton (S. 204 Anm. 70)auch interpretieren?

Als weitere offene Probleme werden benannt: die Teilnahme der
Kinder am Abendmahl, besonders der ungetauften Kinder (die „Diskriminierung
" der Kinder beträfe nicht nur den Kindergottesdienst),
die Einbeziehung der Eltern, begleitende Elternarbeit. Kinderbibcl-
woche sowie besonders die Laienmitarbeiter und deren Einbettung in
die Gesamtgemeindearbeit.

Den Finger besonders auf den kindbezogenden Kindergottesdienst
und die Milarbeitcrthematik gelegt zu haben, bleibt das wichtige Verdienst
dieser Arbeit.

Petershagen Christoph Schlemmer

Gebhardt, Winfried: Fest, Feierund Alltag. Über die gesellschaftliche
Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt/M.-New
York-Paris: Lang 1987. 203 S. 8* = Europäische Hochschulschril-
ten. Reihe XXII: Soziologie, I43.sfr46.-.

Diese von der Konrad-Adenauer-Stiftunggelordcrte Arbeit verfolgt
penetrant neokonservative gesellschaftspolitische Interessen, die vor
allem in den Schlußkapiteln olTengelegt werden: Der „demokratische
Nationalstaat" westeuropäischer und nordamerikanischcr Prägung
gründe auf wertrationaien Fundamenten, die nur dann ihre Funktion
erfüllen können, wenn sie fraglos und ohne Diskussion hingenommen
und in ihrer Geltung durch „politische Feiern" ständig bestätigt und
erneuert werden (178). Mit Ausnahme der USA jedoch, wo der Vf.
„das Erwachen eines neuen Patriotismus in den letzten Jahren"
begrüßt (183), werden diese Fundamente überall in den westlichen
Demokratien durch aufklärerische Tendenzen gefährdet, „die nationale
Traditionen. Glaubensüberzeugungen und Geschichtsbewußtsein
und damit die Idee des Fcicrns in den Bereich des Irrationalen"
verweisen (184) und eine „Entzauberung" des Staates (!82ff) wie
seiner Feiern intendieren. Eine weitere Ursache „für die langsame,
aber stete Aushöhlung des wertrationaien Fundaments demokratischer
Ordnungen" sieht er in der fortschreitenden „Entstrukturie-
rung moderner Gesellschaften" (187). wie sie sich besonders in den
„neuen sozialen Bewegungen" (188; von Ökologie- und Friedensgruppen
bis hin zu Anti-Atomkraft- und Bürgerinitiativen) ausdrückt;
diese neuen Bewegungen negierten den „demokratischen Nationalstaat
" als Ordnungs- und Orienticrungsinstanz (189). seien ihrerseits
jedoch kaum in der Lage, neue wcrtrationale Grundlagen für soziales
Handeln zu schallen. Nicht zuletzt drücke sich dies in ihrer Fest- und
Feierpraxis (Beispiel: das „Fest der Demonstration") aus. die sieh von
„subjektiven Betroffenheiten" speist, die ihrerseits raschen „Vcrall-
täglichungsprozcssen" unterliegen; die Feier als „bewußte Vergewisserung
, Verarbeitung und Umsetzung von Werten und Glaubensüberzeugungen
" ist solcher Praxis im Grunde fremd (190).

Es versteht sich, daß der Vf. in Verfolgung solcher Interessen jene
Festtheorien der sechziger und siebziger Jahre,, die im Anschluß an
Ernst Bloch (theologisch: Harvey Cox; Gerhard M. Martin; 12f. 420
auf das utopisch-revolutionäre, gesellschaftliche Veränderungen
intendierende Potential des Festes verwiesen, pauschal verwerfen
muß. Der Kritik des Vf. verfallen auch alle sozialgeschichtlichen, am
Alltag der Unterschichten orientierten Bemühungen um die Phänomene
von Fest und Feier (13) wie überhaupt eine an den „äußeren
Strukturen" interessierte, die „Innenseitc" menschlichen Handelns
vernachlässigende Betrachtungsweise (14). Seinen eigenen Ausgang
nimmt er bei der mehr als vagen Unterscheidung Max Webers von
„Alltag" und „Charisma" (21 ff), wobei „Charisma" für einen Bereich
..außeralltäglicher" Wirklichkeit (repräsentiert durch Personen. Objekte
. Institutionen. Ideen, Weltbilder) steht, der je und je das
gewohnte, „eingelebtc" Alllagshandeln „von innen" unterbricht -
..als gläubige Hingabc an das Außerordentliche und Unerhörte, an das
aller Regel und Tradition Fremde" (25). Wird das charismatische
Erlebnis - und das liegt in der Tendenz sozialen Verhaltens - auf
Dauer gestellt, institutionalisiert, so nimmt es die Gestalt wertrationaien
Handelns an. durch das die in der charismatischen Manifesta-