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Ausgabe:

1988

Spalte:

818-820

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Antidoketische Christologie im Johannesevangelium 1988

Rezensent:

Wolff, Christian

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 11

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tion der theologic nouvellc, die in ihrer Werdezeit in den 30er und
40er Jahren deren Aulbruch erlebte, von der Krise nach 1950 betroffen
war und erst zur vollen Entfaltung im Zeichen konziliarer Erneuerung
kam. In deren Dienst standen die von ihm initiierten Wörter-
huchunternehmungen (Vocabulaire du theologie biblique. 1970 und
Dictionnairc du Nouveau Testament, 1975) und eine Folge von Studien
, in denen er sich um eine dem Geheimnis der Offenbarung angemessene
Hermeneutik bemühte, der es um die Vermittlung von Kirche
und Schrift, Jesusgeschichte und Osterbotschaft ging. Sie sind
zuerst in der Collcction Parole de Dieu erschienen, einer Reihe, die er
als Hg. zu einer ökumenischen Öffnung führte, indem er Autoren wie
C. H. Dodd und Joachim Jeremias in das Programm einbezog. In
diesem Kontext erscheint nun die eigene Johanncsauslegung. die mit
Bedacht nicht commentaire sondern lecture, Leseanleitung genannt
wird.

Ihr Charakter hängt mit der besonderen Eigenart französischer
Theologie zusammen. Das Erbe, angesichts dessen sich der Ausleger
behaupten muß, ist weniger das einer historisch-kritischen Tradition,
wie sie im deutschsprachigen Raum auch dem katholischen Exegeten
ständig vor Augen steht, sondern das der Väterexegese. In der Auseinandersetzung
mit ihr gewann man die Freiheit zu einer neuen Theologie
, wie sie für die Schule von Lyon (-Fourviere), wo der Vf.
1957-1974 wirkte, kennzeichnend ist. Es ist für den deutschen Leser
beeindruckend zu sehen, wie aus solchem Dialog eine Auslegung von
unverwechselbarem Profil erwächst, nur sehr entfernt vergleichbar
mit dem bei uns seinerzeit einflußreichen, jetzt nahezu vergessenen
Kommentaren von J. Dillcrsberger.

Der Vf. hat sein Werk einem Leserkreis zugedacht, der nicht nur
Theologen umfaßt. Ihm legt er eine möglichst wortgetreue, auch
typographisch in Sinnelemente gegliederte Übersetzung vor und
bietet unverzichtbare griechische und hebräische Begriffe in
Umschrift. Er mutet ihm aber auch seine Sicht der johanneischen
Frage zu, die keineswegs unkompliziert ist. Das Evangelium: ein
Werk unter dem Patronat des „Apostel Johannes", aber nicht von
diesem verfaßt, dessen Entstehungsgeschichte vielmehr vier Stufen
einschließt: den Zebedaiden. die . johanneische Schule" in Kleinasien
mit ihrer ausgeprägten Theologie, den aus ihr hervorgegangenen
Evangelisten und eine abschließende ins 2. Jh. gehörende Redaktion.
Damit wird nicht nur die über die Synoptiker heraus entwickelte
Christologie erklärt, sondern auch die johanneische Perspektive, die
keine Vermischung von vorösterlichem Jesus und nachösterlicher
Zeit bedeutet, wohl aber die ständige Präsenz von zwei Zeitebenen in
einem Text. Ihr möchte der Vf. Rechnung tragen, indem er neben der
diachronen (traditionsgeschichtlicher Exegese verpflichteter) verstärkt
die synchrone (von linguistischer Textforschung inspirierte)
lecture zur Geltung bringt.

Die meisterliche Hand zeigt sich bereits bei der Behandlung des
Prologs, die mehr als ein Viertel des vorliegenden Bandes einnimmt
(35_149). ]n präziser tabellarischer Übersicht werden zunächst die
(zurückhaltend gewerteten) Theorien über den Urprolog,- die Strophengliederung
und die rhetorische Struktur präsentiert und damit
der eigenen Deutung der Weg gebahnt: eine östrophige Einheit, nicht
heilsgcschichtliche Chronologie reproduzierend, sondern drei Ebenen
beleuchtend, die des Uranfangs (V. 1 -5), des historischen Geschehens
(V. 6-14) und der glaubenden Reflexion (V. 15-18). Dabei ist nicht
nur Raum für die Geschichte des Logosbegriffs (50-62), sondern auch
für eine versweise Exegese (zu 1,14 allein 111-124), die in einer Klassifizierung
des Prologs als narrativer Theologie - ausgehend von
Gen I und Prov 8 - gipfelt. In den Anmerkungen kommt die moderne
Exegese von Baldensperger bis J. Becker, nicht zuletzt die der Lands-
leute Boismard und de la Potterie zu Wort, die spirituellen Akzente
der Auslegung „über dem Strich" werden von den Rückbezügen zu
Augustin,-Irenaus und Thomas von Aquin gesetzt.

Eine neue Sicht auf den nächsten Komplex liegt insofern vor. als
1,19-2,12 nicht nur als literarische Komposition begriffen wird,
sondern in seiner Dreiglicderung (1.19-34; 1,35-51; 2,1-12) als

t

„historischer Prolog" (1,51) erscheint. Selten ist so wie hier das
Kana-Wunder in den Mittelpunkt einer Johannesauslegung gerückt.
Es wird bewertet als Prototyp des Zeichens (vgl. den Beitrag in: Kirche
des Anfangs, FS Schürmann. 363-378), als Gebewunder; sein
C harakter wird sowohl von der hochzeitlichen Situation als von 2,4
aus aufgeschlossen.

Für den, der dem Vf. auch auf ungewohnten Wegen zu folgen bereit
ist, hält die lecture überraschende Einsichten bereit. Die johanneische
Tempelreinigung wird als darstellerische Antizipation verstanden, die
vom Kontext her eine Lk 4.16-30 vergleichbare Position gewinnt,
aber auch auf Joh 19,35 vorausverweist. Ohne auf E. Ruckstuhl Bezug
zu nehmen, aber in sachlicher Übereinstimmung mit ihm versteht der
Vf. 2,23-36 als literarische Einheit («La nouvelle naissance»). Dabei
wird die Zusammengehörigkeit von 2,23-3,2a besonders betont (284)
und 3,19-21 nicht auf die Präsenz des Gerichts, sondern auf die
Offenbarung im Alten Bund bezogen (317). Die Auslegung der Sama-
riterinperikope ist reich an alttestamcntlichen Rückverweisen und
kulminiert in einer Reflexion über Joh 4,22 im Geiste nachkonziliarer
Theologie (396-401).

Der historisch-kritischer Arbeit verpflichtete Exeget würde gewiß
manches anders angehen. Jedoch sollte gerade er das genus literarium
bedenken: nicht Kommentar, sondern lecture. Erst der Abschluß des
Werkes wird ein Urteil erlauben, ob der Versuch, durch die Gewichtsverlagerung
von der diachronen Behandlung zur synchronen Interpretation
die spirituelle Tiefe des 4. Evangeliums zu erschließen, zu
einer neuartigen großen Johannesauslegung geführt hat.

Leipzig/ Halle (Saale) Woltgang Wiefel

Schnelle. Udo: Antidoketische Christologie im .Johannesevangelium.

Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der
johanneischen Schule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987.
283 S.gr. 8" = FRLANT, 144. Lw. DM 75.-.

Diese Göttinger Habilitationsschrift beginnt mit einer gründlichen
Methodenreflexion der Johannesexegese; anhand ausgewählter Entwürfe
werden die literarkritische Arbeit - vor allem die gegenwärtig
häufig vertretene Ansicht von der Existenz verschiedener literarischer
Schichten -, die religionsgeschichtliche Einordnung des vierten Evangeliums
sowie die Anwendung der Redaktionsgeschichte kritisch
diskutiert. Die Reserve gegenüber der bisherigen Literarkritik wird gut
begründet (bes. S. 18 f und S. 36). Eine Auseinandersetzung des Evangelisten
mit dem Judentum seiner Zeit wird dagegen weitgehend
geleugnet, wobei jedoch z. B. die Bedeutung der alttestamentlichen
Patriarchen und Mosis in den Jesusreden oder die betont als Sabbatstreit
gestalteten Konflikte in Kap. 5 und 9 berücksichtigt werden
müßten.

Vf. sieht in einer umfassenden Anwendung der Redaktionsgeschichte
einen erfolgversprechenden Weg. aus dem Dilemma der bisherigen
Johannesexegese herauszukommen. Diese Methode bietet
sich um so mehr an, als der vierte Evangelist deutlich die Theologie
einer Gemeinde bzw. Schule vertritt, wie die Johannesbriefe bezeugen
. Damit ist dann zugleich eine theologisch vielfältige Traditionsbildung
gegeben, auf die der Evangelist zurückgreifen konnte. Vf.
arbeitet detailliert die Kennzeichen der johanneischen Schule heraus
und erörtert die Verfasserfrage hinsichtlich der johanneischen Schriften
. Der Presbyter des 2. und 3. Johannesbriefes wird mit dem von
Papias erwähnten Presbyter Johannes identifiziert - Papias vermerkt
freilich nichts von Schriften dieses Mannes! - und als Haupt der
johanneischen Schule verstanden; davon unterschieden werden der
Verfasser des Uoh und der Autor des vierten Evangeliums. Bezüge des
Uoh auf das Evangelium werden verneint. Besonders schwierig ist
diese Negation jedoch für Uoh 1,1-4 zu vertreten, wo mehrere
sprachliche und sachlichen Übereinstimmungen mit Joh 1,1 ff begegnen
; auch wäre auf die Kongruenz zwischen Uoh 5,13 und Joh 20,31
einzugehen. Der Doketismus der im Uoh bekämpften Irrlehrer wird