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Ausgabe:

1988

Spalte:

777-778

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Curran, Charles E.

Titel/Untertitel:

Sexualität und Ethik 1988

Rezensent:

Honecker, Martin

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Seite 1

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777

Theologische Literaturzeitung I 13. Jahrgang 1988 Nr. 10

778

Curran. Charles: Sexualität und Ethik. Aus dem Amerik. von V.
Marx. Mit einem Nachwort von S. Pfürtner. Frankfurt/M.:
Athenäum 1988. 228 S. 8 Lw. DM 38,-.

Erstmals liegt in deutscher Sprache ein Buch des Professors für
Moraltheologie an dcrCatholic University of America in Washington
D. C. vor. dem die vatikanischen Behörden 1986 die kirchliche Lehr-
crlaubnis entzogen haben. Die acht Kapitel von ..Sexualität und
Ethik" sind drei englischsprachigen Büchern von Curran entnommen,
die dessen Aufsätze und Vorträge dokumentiert haben. Die einzelnen
Beiträge überschneiden sich deswegen teilweise. Im ..Nachwort"
kommentiert Stephan H. Pfürtner den Anlaß und die Begründung des
Entzuges der kirchlichen Lehrerlaubnis; Pfürtner ist aus demselben
Grunde wie C'urran 1972 in Freiburg i. d. Schweiz die Lehrerlaubnis
entzogen worden. (Vgl. Ludwig Kaufmann. Ein ungelöster Konflikt:
Der Fall Pfürtner. Dokumente und zeitgeschichtliche Analysen. Freiburg
i. d. Schweiz 1987.) Denn die vatikanischen Behörden beanspruchen
inzwischen Unfehlbarkeit nicht nur hinsichtlich der Entscheidung
dogmatischer Fragen, sondern auch für Lchrmeinungen und
Wertungen über Probleme der persönlichen Moral. Pfürtncrs zurückhaltendes
..Nachwort" (S. 209-228) macht deutlich, was dieser Vorgang
Für die Zukunft der Ökumene wie Tür die Entwicklung von Wert-
und Normvorstcllungen überhaupt bedeutet. Die Maßregelung Currans
ist ein Zeichen Für das Ende des konziliarcn ..Aggiornamcnto".
Man kann somit von einem ..Stillstand" in der Begegnung zwischen
Katholizismus und moderner (iQSellschaft wie in der Ökumene unter
den Kirchen sprechen (S. 222). Das Feld der Sexualität ist überdies
durch die kirchliche Tradition besonders intensiv und tiefreichend
mit Berührungsängsten besetzt. Currans Beurteilung der Empfängnisverhütung
, der Homosexualität, der Abtreibung, der Ehescheidung,
des vorehelichen Geschlechtsverkehrs und der extrakorporalen Be-
Iruchtung führte darum zu einem Konflikt zwischen lehramtlichem
Autoritätsanspruch der kirchlichen Hierarchie und humanwissen-
Khaftlichen Einsichten. Die Frage stellt sich dann jedoch, ob derzeit
überhaupt noch von freier Forschung in der katholischen Moraltheologie
die Rede sein kann oder ob die katholische Moraltheologie
gegenwärtig nicht so starken Restriktionen seitens kirchlicher Behörden
unterliegt, daß einige Themen für die offene Diskussion tabuisiert
sind.

Der Aufsatzband von C. Curran wird durch zwei grundsätzliche
Beiträge ein- und ausgeleitet: „I. Ehrfurcht vor dem Leben -
Theoretische und praktische Konsequenzen" (S. 7-32) und VIII.
..Die Sozialethik: Künftige Ziele für Theologie und Kirche"
(S. 186-208). In diesen beiden Beiträgen zeigt sich die tiefe Verankerung
des Autors in der Tradition katholischer Ethik mit der Betonung
des Schöplüngsgedankens. mit einer thomistischen Hochschätzung
der Rationalität moralischer Einsicht, weil die menschliche Vernunft
das Schöpfungsfaktum wahrnehmen kann, sowie die Übereinstimmung
in der Intention und Begründung katholischer Soziallehre, wie
sie beispielhaft der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA
..Wirtschaftliche Gerechtigkeit Tür alle". 1986. artikuliert, aber auch
in den päpstlichen Sozialenzykliken von ..Rerum novarum" an bis
..Populorum progressio" enthalten ist. Die Abgrenzung gegen Paul
Ramseys olTenbarungstheologischen Ansatz in der christlichen Ethik
(S. 14, 93. 114. 125, 135). wie gegen Harvey Cox' Übersetzung von
eschalologischer Hoffnung in Fortschrittsoptimismus (S. 93, 98. 135)
kennzeichnet diesen Ansatz. Ihm geht es um eine Harmonie von Vernunft
und Glaube, von Natur und Übernatur. Er beruft sich ferner auf
die klassische Argumcntationsfigur der Theorie eines doppelten
Effektes einer Handlung (z. B. S. 125) und nimmt eine Güterabwägung
vor. In der Prinzipienlehre strebt Curran also den Konsens mit
der Lehrtradition an. Der Dissens tritt jedoch um so schärfer in der
Analyse und Bewertung konkreter Sachverhalte und Themen zutage
.

Der 1978 verfaßte Beitrag ..Eine Kritik der Sexualethik" (S. 33-53)
unterzieht die ..Erklärung zu einigen Fragen der Scxualcthik" der

Kongregation für die Glaubenslehre einer scharfen, scharfsinnigen
und zutreffenden Einzelkritik. Curran ist gewiß kein Anwalt des
Hedonismus. sieht aber klar, daß mit einer lediglich rigoros zu vertretenden
Einschärfung bisheriger Normen Konflikte nicht zu lösen sind.
Die lehramtlichen Verlautbarungen wollen die Unausweichlichkeit
solcher Konfliktsituationen nicht wahrhaben und vertreten mit der
Beanspruchung der Angst vor der Sünde einen „sehr negativen moralpädagogischen
Ansatz" (S. 39). Die Kritik der Methode der lehramtlichen
Äußerungen, ihres Naturalismus. Lcgalismus und ihrer Mißachtung
der Lebenserfahrung der Menschen und der Praxis (S. 40-45)
wird vermutlich den besonderen Unwillen in Rom erregt haben. Sowohl
in der Bewertung der Scheidung (S. 54ff). wie der Empfängnisverhütung
(S. 78ff). der Abtreibung (S. 108 IT), der In-vitro-Fertili-
sation und des Embryotransfers (S. 133 ff) und nicht zuletzt der
Homosexualität (S. 163 ff) ist der Gegensatz zum Rigorismus und zur
absoluten Prinzipienmoral des Lehramtes manifest und nicht zu übersehen
. An einzelnen Punkten ist auch Currans eigene Wortwahl nicht
unanfechtbar, so wenn er in der Scheidungsfrage die strengen ethischen
Lehren Jesu in der Bergpredigt als ..Ziel oder Ideal" begreift
(S. 65). oder wenn er erst zwischen der zweiten und dritten Woche
nach der Empfängnis von einem Individuum sprechen will (S. I 13)
und mit diesem Zeitpunkt erst einen Schutz des Fötus beginnen läßt
(und zugleich folglich die ethische Zulässigkeit der extrakorporalen
Befruchtung unter genau festgelegten Kriterien und Kautelen von
daher begründen kann. vgl. S. 145-147). Aber auf Einzelaussagen
kommt es nicht entscheidend an; diese Urteile können nämlich ohne
weiteres nach einer kritischen Prüfung revidiert werden.

Entscheidend ist vielmehr der Zugang zu den sexualethischen Fragestellungen
. Exemplarisch dafür ist die ethische Stellungnahme zur
Empfängnisverhütung. Ausgangspunkt ist die Revolution, welche die
Empfängnisverhütung im Scxualvcrhaltcn ausgelöst hat. Anders als
..Humanac vitae" propagiert Curran aber keine bestimmte ..natürliche
" Methode der Familienplanung. Er bedenkt hingegen umfassend
Risiken und Nebenefi'ekte (S. 82ff) und kommt zum Ergebnis.
..daß keine empfängnisverhütende Methode existiert, die in jeder Hinsicht
perfekt ist" (S. 86). Auch die Mißbrauchsmöglichkeit der Empfängnisverhütung
als Machtinstrument (S. 88) ist im Blick. Sowohl
evolutionäre Fortschrittsphilosophic wie apokalyptisches Denken
(S. 100) verfehlen angesichts der neuen Herausforderungen die moralische
Aufgabe der Gegenwart. Es geht darum, eine Übereinstimmung
des technischen Fortschritts mit der conditio humana zu finden.
..Beim Umgang mit den neuen Technologien, die erhebliche Auswirkungen
auf Leben und Gesellschaft haben, ist Vorsicht angebracht."
(S. 158) Besonders bei der Abtreibung (S. 123) und bei der Beratung
von Homosexuellen (S. 178-183) geht es um die Lösung von Konfliktsituationen
und die Ermittlung von vertretbaren (!) Kompromissen
. Curran beruft sich nicht darauf, daß die Ethik die Prinzipien eines
absoluten Naturrechts auf konkrete Situationen deduktiv anzuwenden
habe. Er verweist dagegen darauf, daß die konkreten Bedingungen
, unter denen Sexualität gelebt wird, durch ein ..prä-ethisch oder
ontisch Böses" oftmals geprägt sind (S. 182) und daß daher nicht
immer das objektiv Gute und eindeutig Richtige in jedem Fall zu
realisieren sind. Mit dieser Wirklichkeitserfassung steht Curran einer
situationsbezogenen evangelischen Deutung von menschlichen Lebenslagen
im Horizont des Rechtfcrtigungsglaubens nahe und unterscheidet
sich vom Normativismus einer starren Prinzipienmoral. Der
Dissens zwischen kritisch reflektierender Moraltheologie und Ichr-
amtlichem Autoritätsanspruch ist somit in der Sache begründet und
kein Einzelfall, wie eine Reihe von Maßregelungen deutschsprachiger
Moraltheologen in jüngster Zeit zusätzlich beweisen. Das Buch von
Curran gibt nicht nur Einblick in eine zugespitzte und umstrittene
Diskussionslage, sondern auch eine Anleitung zur argumentativen
Erörterung schwieriger Sachverhalte und zur selbständigen Urteilsbildung
.

Bonn Marlin Honecker