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1988

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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763

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 10

764

(4) Allgemeine ..Euthanasie"-Geschichte.

Zu (1): Mit einer Dokumentation von Einzelschicksalen setzt das
Buch ein (S. 15-26) - ein Zeichen dafür, daß im Blick auf das Unheil
jener Zeit zuerst das Leid des jeweils einzelnen Menschen und seiner
Angehörigen gesehen werden muß. zumal es ..in öffentlichen Publikationen
(= über die ..Euthanasie", der Rez.) immer mehr um die Täter
und um den Widerstand ging als um die Opfer" (S. 31).

Eine weitere Dokumentation von Einzelschicksalcn erfolgt im Rahmen
des Berichtes über die „Abtransporte von 1941" und den
..Exodus von 1943" (S. 181 ff. beides von M. Wunder). In diesem Rahmen
finden sich auch zwei Interviews mit Überlebenden.

Die Dokumentation gibt Einblicke in ärztliche Akteneintragungen,
die zeigen, „mit welcher Abwertung, ja Verachtung, damals geurteilt
wurde und wie sich aus solcher Haltung behinderten Menschen gegenüber
ohne Bruch die Abschiebung und der Abtransport ergaben"
(S. 119).

Zu (2): Diesem Thema widmen sich [. Genkel (..Pastor Lensch-ein
Beispiel politischer Theologie". S. 59-83). M. Wunder (..Die Karriere
des Dr. Kreyenborg - Heilen und Vernichten in Alsterdorf.
S. 97-125) und H. Jenner (..Friedrich Lensch und die Alsterdorfer
Anstalten 1930-1945". S. 127-153). Lensch ..kann als Kirchenmann
gelten, der in einer konservativ-lutherischen Tradition der Auslegung
der Zwei-Reiche-Lehre steht und darum weder fähig noch bereit ist.
dem NS-Staat tatsächlich Widerstand entgegenzusetzen" (S. 31).
Seine einmal deutlich und klar vertretene Absage an den Euthanasie-
Gedanken wirkte zwischen 1930 und 1938 aufgeweicht und verschwommen
; sie wurde 1938 . . . noch einmal deutlicher, bildete
jedoch keine feste Grundhaltung für die kommenden Jahre..."
(S. 152)

Lenschs Bemühungen um Eugenik, seine Öffnung für die Sterilisation
, die Gedanken zur Umkehr des Asylgedankens (diakonische Einrichtung
nicht als Hilfe für Behinderte, sondern als Schutz des Volkes)
waren verhängnisvolle Stationen auf dem Wege zu einer Mitwirkung
bei der Euthanasie. ..sofern der Opferkreis präzise umgrenzt wird ..."
(S. 79). Auch wenn L.s spätere Verteidigung (s. dazu S. 79ff u. a.)
subjektiv ehrlich gewesen sein sollte, bleibt der Vorwurf tragischer
Schuldverstrickung.

Nicht weniger tragisch erscheint der Weg von Dr. Kreyenberg. der
den Schwachsinn zunächst (um 1930) „mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln heilen" wollte, aber über seine rassehygienische
Arbeit ..notgedrungen" bei dem natürlichen Gegenstück seiner Ausgangsposition
endete, „beim Aussondern und Abstoßen, beim Abtransport
der nicht mehr Heilbaren" (S. 30).

Zu (3): M. Wunder und H. Jenner berichten über das „Schicksal der
jüdischen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten" (S. 155-167), die
1938 „abgeschoben" und schließlich vergast wurden2, H. Jenner über
die „Meldebögen in den Alsterdorfer Anstalten" (S. 169-178) -
„Pastor Lensch (hatte) informiert gehandelt, als er die Fragebögen
abschickte..." (S. 175). Und M.Wunder schildert - wie bereits
erwähnt-die Abtransporte 1941 und 1943 (S. 180ff) in die Vernichtungsanstalten
Eichberg, Idstein. Mainkofen. Wien und Tiegenhof
(heute VR Polen). Insgesamt 629 Behinderte wurden aus Alsterdorf
abtransportiert. 508 nachweislich getötet.

Zu (4): Die Anstaltsgeschichte wird in ihrem Zusammenhang zur
allgemeinen Euthanasiegeschichte (M. Wunder. S. 29-56) sowie zur
Entwicklung der Inneren Mission in den Jahren 1933-1945 (I. Genkel
: Thematische Schwerpunkte und Entscheidungen der Inneren
Mission 1933-1945 auf Reichsebene, S. 84-94) beschrieben. Im letzteren
Beitrag wird u. a. deutlich, wie verhängnisvoll eine Diskussion
innerhalb der IM über „Brauchbarkeit und Nutzwert" als „Wertmaßstab
für Menschsein" (S. 88) werden konnte. Im Zusammenhang
mit der Darstellung von L.s Theologie wird ausführlich über die zeitweise
problematische1, aber im Blick auf Sterilisation „eindeutig(e)
und konsequent ablehnend(e)" Position von Paul Althaus4 berichtet
(S. 72); über Beispiele des Widerstandes S. 29f. (Die BK-Synode von
1943 wird erst S. 80 erwähnt.)

Vorangestellt ist den Beiträgen eine Predigt von R. Mondry. dem
heutigen Leiter der Alsterdorfer Anstalten, anläßlich der Einweihung
eines Mahnmahls fürdie Euthanasieopfer am 29. 4. 1984 (S. 9 f) sowie
ein Vortrag von Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner zum „Mythos der Heilbarkeit
gestern und heute" - gehalten während einer Tagung der
Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der Geschichte der „Euthanasie" am
25726. 1. 1985. Die Predigt möchte dazu anregen, daß „aus unserer
Erinnerungdic Kraft der Erneuerung wächst''(S. 10).

Dörner fragt, „ob wir nicht bedingungslos anerkennen müssen, daß
es Menschen gibt, die lebenslang und dauerhaft mit einer Behinderung
zu leben haben" (S. 14).

Da das Buch aus Einzelbeiträgen zusammengefügt ist. enthält es den
kleinen Schönheitsfehler, daß man sich gelegentlich zusammengehöriges
Material erst zusammensuchen muß. Was ist die Bedeutung dieses
Buches, für das den Alsterdorfer Anstalten aufrichtig zu danken ist?

(1) Dieses Buch ist zunächst wichtig für die Alsterdorfer Anstalten
selbst, indem es das Gedenken an leider allzulange verdrängtes* Leid
wachruft bzw. wachhält.

(2) Indem dieses Buch einen solchen Dienst leistet, ist es zugleich
beispielgebend für andere diakonische Einrichtungen, in denen in der
Zeit des deutschen Faschismus behinderte Menschen zur Tötung
abtransportiert worden sind. Auch andere diakonische Einrichtungen
sollten prüfen, wie sie für sich und die Gemeinden nach dem Beispiel
von Alsterdorf das Gedenken an die Euthanasieopfer lebendig halten
können. Die Bemühung darum dient letztlich auch der Vertiefung des
Bildes von der „Euthanasie" in der Forschung.

(3) Dieses Buch kann - nicht zuletzt auch durch die sehr konkrete
Konfrontation mit dem Leid behinderter Menschen - Impulse vermitteln
für die auch heute notwendige Besinnung über den Wert behinderten
Lebens und den Umgang mit ihm (bis hin zu der Frage nach
dem Umgang mit ungeborenem behindertem Leben)''. Vgl. zu (2) und
(3) die Handreichung des Diakonischen Werkes der Evangelischen
Kirchen in der DDR „Fröhlich helfen" 1/1986 und 11/1988.

(4) Schließlich kann dieses Buch ein Anstoß sein, das Gedenken an
die Opfer der Euthanasie auch in den Gottesdienst der diakonischen
Einrichtungen und der Gemeinden überhaupt hineinzunchmen.

Berlin Wolf-Dictrich Talkenbcrgcr

' Ingrid Genkel ist Theologin und Gymnasiallehrerin. Harald Jcnner(HisK>-
riker) betreut Archive diakonischer Hinrichtungen in Nordclhien. Michael
Wunder ist Diplom-Psychologe in den Alstcrdorl'cr Anstalten.

2 Zum Schicksal jüdischer Anstaltspatienten vgl. die Arbeit von H. Friedender
(in: Götz Aly (Hg.): Aktion T4. Berlin (West] 1987. S. 34-44). der erstmals
Licht in das Dunkel dieses Teilbereiches der „Euthanasie"-Morde gebracht hat
(Hinweis von Prof. Nowak).

' Zum Ursprung des Anti-Judaismus (..liegt nicht im NT". S. 62) vgl. aber
z. B. G. Baumbach: ..Das NT (stellt) zwar kein judenfeindliches Buch dar. Ieglc
aber den Grund für antijüdische Folgerungen." (in: ZdZ 40.1986. 141).

4 Zur Frage der Schuldverarbeitung mit Blick auf Verführung durch DaniO"
nie bei Paul Althaus (S. 83) vgl. aber auch den nicht zitierten Satz aus ..D'c
christliche Wahrheit": „Daher können wir uns für unsere Sünde nicht durch
den Hinweis auf den Satan entschuldigen."-(S. 392).

5 Dafür gibt die Nachkricgsgcschichte ein beredtes Zeugnis. (S. 51 u.a.).

* ..(Wir müssen) erkennen, daß es auch heute unter Gcmeindcgliedcrn LW"
klarheiten in diesem Punkt (= Wert des Lebens, der Rez.) und so etwas wie ein
latentes Fragen nach dem Lebensrecht Schwerstbehinderter Menschen geben
kann." (OKR Dr. Petzold in: „Fröhlich helfen" 1/1986. S. 3).

Brul. Alex H. van den: Christian Rosenkreuz und seine Bedeutungfiir unsere
Zeit (In: Das Erbe des Christian Rosenkreuz. S. 189-195).

Graf. Friedrich Wilhelm: Lutherischer Neurealismus. Otto Piper - ein Irüher
Pazifist (LM 27. 1988.357-361).

Montgomery. John Warwick: The world-view of Johann Valentin Andrea«-'
(In: Das Erbe des Christian Rosenkreuz. S. 152-169).

Reinhardt. Rudolf: David Friedrich Strauß und die Auferstehung der Toten-
Zu seiner Preisschrift aus dem Jahre 1828 (ThQ 168.1988.150-153).

Weyer. Michael: Die Aldcrsgate-Erlahrung John Weslcys (OR 37. lW-
311-320).