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Ausgabe:

1988

Spalte:

724-725

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Evangelisches Kirchenlexikon; Bd. 1 1988

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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Theologische Literaturzeitung I I 3. Jahrgang 1988 Nr. 10

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..Auto" ebenso wie eine entsprechende Abbildung oder das Fahrzeug
selbst) im Grunde jede Bedeutung kommunizieren, die der sozio-
kulturelle Kontext functionaliter dieser Erscheinungsform zuordnet.
Ein Auto dient also nicht nur als Transportmittel, sondern „bedeutet"
z. B. ..gewisser Wohlstand"; es ..zeigt" je nach Typ und wirtschaftlicher
Infrastruktur einer Landesregion auch einen bestimmten ..sozialen
Status" an usw. (vgl. Semiotik. 53f bzw. Einführung. 371).

Signiiikante Erscheinungsformen geraten also per culluram in
einen Signifikationsprozeß, durch den sie als Kommunikationspotential
zur Verfügung stehen. Dabei bilden sich ..kulturelle Einheiten",
kultur-definierte bzw. -codierte semantische Entitäten. die sowohl als
Bedeutung (Signifikat) irgendeines Ausdrucks wie auch als Bezeichnung
(Signifikant) eines (weiteren) Signifikats im Signifikations- und
Kommunikationsgeschehen einer Kultur - statt der (z. T. vermeintlichen
) Bezugsobjekte (Refcrcnte) - zirkulieren (vgl. Semiotik.
88-101; Einführung. 73-76.850- Der menschliche Verständigungsprozeß
gelingt oder scheitert folglich nicht aufgrund der Beschaffenheit
, des Vorhandenseins bzw. der Abwesenheit oder Nicht-Existenz
der Dinge, sondern seine Bedingungen sind das Verständigungspotential
einer Kultur, sind die in den kulturellen Einheiten rubrizierten
Übereinkünfte. Wenngleich z. B. noch niemand von einem ..Einhorn
" (vgl. Semiotik. 92) bedroht wurde, kann dieser Ausdruck in bestimmtem
Kontext sinnbildend, also verständlich benutzt werden
(u.a. für ..Gewalt". ..Christus" und ..Jungfräulichkeit"), weil ..Einhorn
" - wie anderes Fiktive. Absurde oder einfach Irreale auch - als
kulturelle Einheit verfügbar und in einem Netz weiterer kultureller
Einheiten interpretierbar ist.

Wer sich solchermaßen auf das Anliegen semiotischer Forschung
einläßt, kulturelle Vorgänge sub specie communicationis gründlicher
verstehen zu wollen (vgl. Semiotik. 45 f.52—56; Einführung.
32-38.374). findet bei Eco aufschlußreiche Erläuterungen über die
kulturelle Einheiten repräsentierende und weitere (im Wahrnehmenden
) aufrufende Wirkung der Zeichen (vgl. zu ..Denotation" und
..Konnotation" Semiotik. 82-85.123-126) sowie deren wechselseitige
, durch Codes geregelte Bezogenhcit (ebd.. 108-122).

2. Gegebene Wirklichkeit - der Widerstand der Dinge im Prozeß der
Semio.se

Eco will mit all seinen Publikationen keine Hermeneutik liefern
(vgl. ders.. Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte.
Frankfurt/M. 1977. 114f). weil die Prozesse menschlicher Erkenntnis
und Verständigung nach seiner Auflassung unabhängig davon funktionieren
und sich semiotisch erklären lassen, ob ..hinter" ihnen eine
..Stimme des Seins" identifiziert oder entsprechende Referente verifiziert
werden können. Denn sobald man anfängt, etwas zu signifizieren
(z. B. den Signifikanten ..Gott"), kann man sich der Referente (hier;
Gottes selbst) nicht argumentativ bedienen, sondern bewegt sich in
einer unendlichen Kette von ..Interpretanten" (hier zeigt sich der
starke Einfluß C. S. Peirces auf Ecos Semiotik; vgl. Semiotik.
101-107. 174-183). wobei die Bedeutung jedes ihrer Glieder (kulturelle
Einheiten) durch ein weiteres aufgezeigt wird (Einführung.
76-81), ohne von einem Objekt abgeschlossen oder vervollständigt zu
werden. (So gibt es z. B. einen Code, nach dem der Interpretant für
..Jesus Christus" in ..Gottes Sohn" zu sehen ist - einem Signifikat, das
seinerseits in einer Kette weiterer Interpretanten steht: „Heiland".
..Erlöser". ..der für unsere Schuld Gestorbene" usw.)

Wer sich mit anderen über etwas verständigt, ist dazu genötigt, es
durch ein Segment (oder mehrere) aus der Kette der Interpretanten zu
repräsentieren. Ein Objekt selbst als Informationsquelle benutzen zu
wollen, das hieße, eine Statistik gleichwahrscheinlicher Aussagen
(Semiotik, 70-74) für es zu erstellen, brachliegend als quantitative,
ungeordnete Fülle potentieller Botschaften. Man kommt nicht umhin
, in jene Gleichwahrscheinlichkeit eine Ordnung, eine „Struktur"
(Codes) einzuführen und dabei das Informationspotenlial, das an der
Quelle noch bestand, zu verengen. Eine solche Struktur kann daher
weder als etwas Refcrentc-Adäquates gelten, noch könnte sie als eine

letzte Struktur, als bestimmende Grundlage von Kultur und Kommunikation
identifiziert werden (sonst wäre sie. deliniert durch weitere
Interpretanten, nicht „die Letzte"; vgl. Einführung. 41 11).

Dieser Ansatz hat nichts damit zu tun. Objektwirklichkeit zu bezweifeln
. Indem Eco den konkreten Kommunikationsprozeß als von
der jeweils vorherrschenden „Situation" (Semiotik. 200-202.
Anm. 27) beeinflußt charakterisiert - der Originalton ist hier freilich
deutlicher: es geht um „la circostanza di comunieazione" (Traltato.
a. a. ().. 199)-also vom Kommunikationsumstand als „Komplex der
materiellen, ökonomischen, biologischen und physikalischen Konditionierungen
, in dessen Rahmen wir kommunizieren (vgl. Einführung
. 119.129— 136.423f u. ö.). entwirft er durchaus kein „idealistisches
" Konzept. Nur gründet die Bezugnahme auf objektive Sachverhalte
für Eco nicht in der adäquaten Abbildbarkeit von etwas,
sondern in der Unausweichlichkeit, auf die sich vom Kommunikationsumstand
her ergebenden Signifikationsveränderungen bzw.
-Störungen reagieren zu müssen. Anders lassen sich Erkenntnis- und
Kommunikationsprozesse nicht fortsetzen. Denn die Kultur unterliegt
einem permanenten Prozeß ihrer Revision. Bislang gültige Lesarten
„Gottes" und der „Welt", als „Opcrationsmodell" (13.361.367
u. ö.) entworfene Strukturen des Erkennens geraten in neue Kommu-
nikationsumstände. werden „erschüttert", lösen sich u. U. auf und
bilden sich neu. So hat z. B. die Umweltverschmutzung eine semantische
Konkretisierung des 1. Artikels des christlichen Glaubens
provoziert, wodurch die Verständlichkeit eines Slogans wie „Gott ist
grün'^gewährleistet ist. ohne daß man die Semantik von „grün" am
Objekt (Gott) überprüfen könnte/müßte. Damit ist angedeutet, daß
sich Semiotik außer mit der Reproduktion von Zeichen und Zeichen-
Systemen ebenso mit deren Produktion beläßt.

3. Faktische Ambiguität-die Botschaft als Quelle

Die soziokulturelle (und wenn man sie gesondert nennen will: die
sozioreligiöse) Entwicklung, das Reiferwerden des Menschen wäre
undenkbar, würde er beim Kommunizieren immer nur die längst vertrauten
kulturellen Einheiten abschreiten - wäre Kommunikation
nicht auch mit einer Erweiterung seines Interpretationsrepertoires
verbunden. Außer durch die Wandlungen des Kommunikationsumstandes
, denen er ausgesetzt ist. geschieht das in der Konfrontation mit
„ästhetischen Botschaften" (vgl. Einführung. 145-167; Semiotik-
348-351): Sei es ein ausgesprochenes Kunstwerk, ein ausgesprochener
Satz oder eine sonstige autorcflexive. das Erwartungssystem eines
Rezipicnten störende Form, in der eine Botschaft lesbar wird - indem
diese ambiguitär. mehrdeutig strukturiert ist, nötigt sie ihn einerseits
dazu, gewohnte, aber am „Idiolekt" (Einführung. 151-157; Semiotik-
360-364) der ästhetischen Botschaft scheiternde Interpretationen zu
„verbrauchen" und spornt ihn andererseits dazu an. andere Codes,
neue Möglichkeiten des Verstchens auszuprobieren, sich eine Lesart
zu erschließen, die mit dem ihm vertrauten semantischen System nur
um den Preis koordinierbar ist, daß sie es erweitert.

Wenngleich eine gewisse faktische Ambiguität nach Eco jeder Botschaft
eignet (wer eine Botschaft verstehen will, muß ihr. ebenso wie
elementareren Formen von Signifikanten, einen Sinn zuschreiben:
vgl. Einführung. 138 u. ö.), impliziert Ecos Theorie zweifelsohne auch
ein Plädoyer für so etwas wie eine taktische Ambiguität, die u. a. die
rhetorische Arbeit vom reproduktiven Repertoire „präctablierter"-
erprobter stilistischer Lösungen befreien (vgl. Semiotik, 368-385)-
den Kunstwissenschaften Kriterien zur Analyse des „Kitsches" bieten
, den theologischen (insonderheit den homiletischen) Diskurs über
(biblische) Texte innovieren könnte u. a. m.

Leipzig Wilfried Engemann

F.vanj»elisches Kirchenlcxikon (EKL). Internationale theologische
Enzyklopädie. Hg. von E. Fahlbusch. J. M. Lochman, J. Mbiti-
J. Pelikan u. L. Vischer. Bd. 1.4. Lfg.: Gabun-Hellenismus. Göttin-
gen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988.480 Sp.gr. 8". DM 78,-.