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Ausgabe:

1988

Spalte:

683-685

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer 1988

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Lileraturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 9

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und Gerechtigkeit nicht ohne weiteres machbar sind und nicht ausschließlich
dem „freien Willen" des Menschen unterstellt sind,
wichen sie auf ein individuelles Verständnis von Heil und Frieden aus.
Was passiert, wenn sie einmal entdecken, daß Friede, Heil und Gerechtigkeit
(„Heiligung") auch im individuellen Kontext nicht ohne
weiteres in die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Menschen fallen,
ist schwer abzuschätzen. Eine Wiederentdeckung der Reformation
wäre wünschenswert, ist aber unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist
eine weitere Verinnerlichung des religiösen Erlebens - was eben genau
der Tendenz der westlichen charismatischen Bewegung entspricht,
nicht aber den entsprechenden Kirchen und Bewegungen in der Dritten
Welt.

Ein wichtiges Buch, das zeigt, daß die pfingstlcrischen und charismatischen
Bewegungen nicht - wie viele ihrer Anhänger behaupten -
senkrecht vom Himmel gefallen sind, daß sie aber auch nicht - wie
ihre Gegner behaupten - das Werk von Dämonen sind, sondern
durchaus in den historisch-kritischen Kategorien dogmen- und kulturgeschichtlicher
Entwicklung verstanden werden können.

Birmingham Walter J. Hollenweger

Schweitzer, Albert: Leben, Werk und Denken 1905-1965. Mitgeteilt
in seinen Briefen. Hg. von H. W. Bähr. Heidelberg: Schneider 1987.
485 S. m. 39 Abb. aufTaf. u. 10 Faks. 8". Lw. DM 48,-.

Der Verlag Lambert Schneider in Heidelberg hat sich der dankenswerten
Aufgabe angenommen, neben bereits im Druck vorliegenden
Werken Albert Schweitzers insbesondere wesentliche Teile seines
geistigen Nachlasses zu veröffentlichen. Dem wird vor allem die „Gesamtausgabe
der philosophischen Schriften" dienen. Ein Buch ganz
besonderer Art legt nun der bekannte Biograph und Freund Albert
Schweitzers, der Tübinger Professor Dr. Hans Walter Bähr - „in Verbindung
mit der Kommission für Albert Schweitzers geistiges
Werk" -, im Lambert Schneider Verlag vor. Es ist ein Briefband, der
einige schon an unterschiedlichen Stellen veröffentlichte, vor allem
aber bisher unveröffentlichte Briefe Schweitzers aus den Jahren 1905
bis zu seinem Todesjahr 1965 in chronologischer Reihenfolge vorlegt
(S. 11-351). Die Briefe werden teils ungekürzt, teils-bei entsprechender
Kennzeichnung der Auslassungen - gekürzt wiedergegeben.

Die Entscheidung, zahlreiche Briefe auch nicht vollständig abzudrucken
, ist sehr zu begrüßen, weil das ermöglichte, in entsprechend
größerem Umfang einen Einblick in die äußerst vielseitige Korrespondenz
Schweitzers zu vermitteln; außerdem gibt es die Möglichkeit,
Wiederholungen, für den heutigen Leser Uninteressantes und allzu
persönliche Mitteilungen auszuscheiden. Zu bedauern ist m. E. allerdings
, daß der Brief vorp 9. Juli 1905 an den Direktor der Pariser
Missionsgesellschaft, Pfarrer Alfred Boegner, der den Band zu Recht
eröffnet und der eine bemerkenswerte und hochinteressante Korrektur
von Albert Schweitzers Selbstdarstellung in „Aus meinem Leben
und Denken" bedeutet - Schweitzer hat sich ursprünglich als Missionar
und nicht als Arzt zur Verfügung gestellt -, um jene Passage gekürzt
wurde, in der Schweitzer eine nur dreisemestrige Hospitation an
der Medizinischen Fakultät als Ergänzung zu seinen beabsichtigten
Missionsstudien ins Auge faßt (vgl. Harald Steffahn: Albert Schweitzer
, Reinbek bei Hamburg, 1979 und öfter, S. 68-71).

Die Auswahl der Briefe bemüht sich mit Erfolg darum, die unglaubliche
Vielfalt der Themen, die Schweitzer in seinen Briefen behandelte
, und wenigstens andeutungsweise auch die Vielzahl und Unterschiedlichkeit
der Empfänger zur Darstellung zu bringen. Neben
bekannten Größen der Zeitgeschichte, wie Albert Einstein, Max
Planck, Werner Heisenberg, Bertrand Russell, Frederic Joliot-Curie,
Kennedy, Chrustschow, Dag Hammarskjöld, Theodor Heuss, Adolf
von Harnack, Nathan Söderblom, Eduard Spranger, Kanzu Uchi-
mura, Rabindranath Tagore, Siegfried Ochs, Wilhelm Furtwängler,
Martin Buber, Romain Rolland, stehen Briefe an seine Verleger, seine
Mitarbeiter und Freunde aus den unterschiedlichsten Ländern und

Kontinenten, an Rektoren und Präsidenten von Universitäten, an
Institutionen wie den Weltkirchenrat der Kirchen, die CFK, einen
Arztekongreß Japans, an Kirchengemeinden, an Schulen und Schulklassen
und Jugendgruppen, an Verwandte, an Patenkinder sowie an
eine Behinderte, eine Schülerin usw. usw. Im Anhang sind die über
300 Briefempfänger alphabetisch aufgeschlüsselt (419-421). Sehr
begrüßenswert ist es, daß auch ein Brief von Frau Helene Schweitzer
an den englischen Theologen und Schweitzer-Biographen George
Seaver zum Abdruck kommt (169-171).

Die Themen, die in den Briefen berührt werden, reichen von Fragen
der Theologie, der Musik, des Orgelspiels und Orgelbaus, der Medizin
, des Kampfes gegen die Atombombenversuche in der Atmosphäre
und für den Frieden über Schilderungen seines Lebens in
Lambarene und während der Europareisen und -aufenthalte, über
Anweisungen an Verleger, Mitarbeiter usw. zu Beileidsbekundungen,
sehr persönlichen Äußerungen über sein Denken, Fühlen und Glauben
, zu ganz ergreifenden seelsorgerlich-pädagogischcn Briefen.

Mir fiel auf, wie einfühlsam und einfallsreich Albert Schweitzer sich
in Wort- und Themenwahl jeweils auf die Mentalität und Interessenlage
der Empfänger einzustellen weiß und dabei doch immer unverwechselbar
sein Eigenstes gibt. Seine tiefe Bescheidenheit und Demut,
gepaart durchaus mit einem klaren Bcrufungs- und Sendungsbewußtsein
, treten immer erneut deutlich in Erscheinung. So schreibt er
z. B.am8.6. 1958 nach Oslo:

„Ihre Untersuchungen über den Menschen, der als gross gelten darf, schätze
ich mehr als die von Carlylc. Meiner Meinung nach sind grosse Menschen die
grossen Dulder, die unbekannten grossen Menschen, die in sich überwunden
haben Angst und Schmerz und Grauen und Auflehnung gegen das Schicksal.
Die tätigen grossen Menschen sind dies immer nur relativ. Die bedeutendsten
unter ihnen sind diejenigen, die Ideen schaffen, die geistigen Fortschritt für die
Menschen bedeuten. Aber sie sind es in der rechten Weise nur. so lange sie es
nicht selber glauben und wissen ... und sich einbilden, sondern sich nur als
treue und begnadete Diener fühlen.

Wenn also die Jugend bei einer Abstimmung mich als einen grossen Menschen
ansieht, so darf sie nach ihrer Weise urteilen. Aber ich darf es nicht für
mich gelten lassen, sondern mich nur als einen Diener ansehen, der in Treue
mit dem Pfunde, das ihm anvertraut ist. deshalb noch treuer wuchern will als
bisher. Es gibt keine Grösse ohne Demut, die auch sich bewusst bleibt der Un-
vollkommenhcit alles Menschlichen. . . ."(264/265).

Oder, als die schweizerischen Pfarrer Martin Werner (später
Professor in Bern) und Julius Kaiser ihm ein kleines, von ihnen erarbeitetes
, Konfirmandenbüchlein zusenden, in dem er häufiger zitiert
wird, schreibt er unter dem 20. 2. 1927 den beiden:

..Und jetzt, ehe mir die Augen zufallen, komme ich euch beiden zu sagen,
welche Freude ich daran habe. Euer Unternehmen ist zeitgemäss und mutig-
Einen grossen Fehler hat es. dass ihr da diesen Albert Schweitzer (geb. I875)zu
Worte kommen lasst. und noch gar so viel, wo ihr doch manches davon viel besser
durch die Reformatoren hättet können sagen lassen. Aber, liebe Freunde,
das müsst ihr mit euch selbst abmachen. Der Albert Schweitzer, wie ich ihn
kenne, ist ganz niedergedrückt und gedemütigt, dass er so vorder Jugend, die zu
Gott geführt werden soll, als ein Wegweiser auftritt" (93).

Oder, während Schweitzer sonst gerne gestattet, daß Schulen-
Jugendgruppen oder auch ein großes, modernstes Flugzeug - daran
hat er ganz offensichtlich Spaß - seinen Namen tragen dürfen, verweigert
er seine Zustimmung, wo es um Umbcnennung geht. So schreibt
er z. B. im Mai 1961 an einen Oberbürgermeister:

..In Ihrem werten Schreiben vom 2. Mai 1961 teilen Sie mir den Entschluß
des Stadtrates mit, die .Ernst-Thälmann-Straße' nach mir umzubenennen. Ich
danke Ihnen für die Sympathie, die Sie mir bekunden, aber ich darfeinem Toten
nicht die Ehre, die man ihm erwiesen, wegnehmen. Verzeihen Sie. daß
Ihnen diesen Bescheid geben muß. aber ich darf nicht gegen meine Uberzeugung
handeln" (297).

Ausführliche Anmerkungen, die eine editorischc Meistcrleistung
darstellen, enthalten Angaben zu Personen, zu biographischen und
zeitgeschichtlichen Hintergründen und dergleichen (354-417). °e'
größter Knappheit und Präzision vermitteln sie eine Fülle von Infor*
mationen. die für das Verständnis der Briefe eine wesentliche, ja °^
unerläßliche Hilfe darstellen.