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Ausgabe:

1988

Spalte:

671-672

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Das Freie Jüdische Lehrhaus - eine andere Frankfurter Schule 1988

Rezensent:

Schreiner, Stefan

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 9

672

Sirach, vor allem 14,20-15,10, und der sogenannte Ps 154 aus dem
von J. A. Sanders herausgegebenen 4. Band der Discoveries in the
Judaean Desert (of Jordan), 1965, herangezogen. Der Ps wird der
Qumran-Gemeinde zugeordnet und für diese ein Weisheitsmahl
postuliert.

Hinter dem LXX-Text von Spr 9,1-6 sieht Sandelin eine Auseinandersetzung
mit den Dionysos-Mysterien, denen mit der Weisheit
das wahre Mysterium gegenübergestellt werde. Zur rechten Entfaltung
kommt die Vorstellung bei Philo. Dabei ist die Speise, die hier vermittelt
wird, rein spirituell zu verstehen. Eine Zwischenstellung
nimmt Joseph und Aseneth ein. Auch hier geht es nach Sandelin um
eine Auseinandersetzung mit heidnischen Kult-Mysterien.

Wichtig ist für den Vf., daß die Vorstellung von der ernährenden
Weisheit nicht nur als metaphorische Rede eine Art Überbau ist. Sie
hat ihren „Sitz im Leben" in Mahlzeiten, in denen die Gegenwart der
Weisheit und ihrer alles tragenden und durchdringenden Wirklichkeit
(vgl. Weish 7,250 real erfahren wird.

Von hier aus findet der Vf. auch den Übergang zum NT. Die Nachwirkungen
der Vorstellung von der ernährenden Weisheit werden an
einem Paulustext (IKor 10,1-13) und an zwei Johannestexten aufgezeigt
(Joh 4 und 6). An dieser Stelle der ernährenden und so lebenschenkenden
Weisheit tritt nun Jesus Christus, der das Wasser des
Lebens und das Lebensbrot austeilt und selbst ist.

Den Schluß bildet eine Untersuchung der Mahlgebete in Did 9 und
10. Dabei versucht der Vf. eine Rekonstruktion jüdischer Gebete, die
hinter Did 9 und 10 stehen. Auch hier wird natürlich auf die ernährende
Weisheit zurückgegangen. Nun ist der Gedanke nicht neu, daß
die eucharistischen Gebete der Didache jüdischen Ursprungs sind.
Insofern stellt die These des Vf. eine plausible Konkretisierung dar.

Die in der Analyse starke Arbeit stellt einen wichtigen Beitrag auf
einem Gebiet dar, das für die Erforschung des religionsgeschichtlichen
Hintergrundes der neutestamentlichen Überlieferungen weiter an
Bedeutung gewinnen wird.

Kiel Ulrich Luck

Sesterhenn, Raimund [Hg.]: Das Freie Jüdische Lehrhaus - eine
andere Frankfurter Schule. München-Zürich: Schnell & Steiner
1987. 130 S. 8° = Schriftenreihe der Kath. Akademie der Erzdiözese
Freiburg. DM 22,-.

Im Mai 1986, im Jahr des 100. Geburtstages Franz Rosenzweigs,
veranstaltete die Katholische Akademie der Erzdiözese Freiburg (Br.)
eine Tagung über das Frankfurter Freie Jüdische Lehrhaus, dessen
eigentlicher Initiator, erster Leiter, ja die „Seele des Lehrhauses", wie
ihn Rabbiner G. Salzberger genannt hat, eben Franz Rosenzweig
gewesen ist. Und wohl kaum besser als mit einer Besinnung auf „Sein
Freies Jüdisches Lehrhaus" (so E. Simon) hat man des 100. Geburtstages
dieses großen Lehrers und Gelehrten gedenken können. Der vorliegende
Band, dessen Anlage Hg. in seiner Einführung (S. 6-^ 1) vorstellt
, bietet mit seinen sechs Beiträgen die-teilweise überarbeiteten -
Vorträge, die bei o. e. Tagung gehalten worden sind.

Grundlagen und Geschichte (einschließlich des Lehrangebotes) des.
Lehrhauses, das von 1920 bis 1927/28 bestanden hat und 1933 von
M. Buber noch einmal für kurze Zeit wiederbelebt werden konnte, sowie
die Ziele und Leistungen seines Trägerkreises rekapituliert im
ersten Beitrag M. Bühler „Erziehung zu Tradition und geistigem
Widerstehen - Das Freie Jüdische Lehrhaus als Schule der Umkehr
ins Judentum" (S. 12-32). Daß Rosenzweig darin im Mittelpunkt
steht, ist nur folgerichtig; hatte er doch das Konzept für das Lehrhaus
geliefert: Das Lehrhaus sollte „ein modernisiertes Beth ha-Midrasch"
sein, eine jüdische Erwachsenenschule, „in der Lehren und Lernen
eins sind, wo der Schüler im Lehrgespräch auch zum Lehrer wird". Es
sollte „frei", also „für jedermann ohne Examen zugänglich, d. h.
öffentlich auch für Nichtjuden" sein; Jüdisch" insofern, als alle in
ihm vermittelten Bildungsstoffe von einem Jüdischen formativen
Mittelpunkt her durchgestaltet" werden sollten. Sein Ziel war ein

„neues Lernen", ein „Lernen in umgekehrter Richtung": „Ein Lernen
nicht mehr aus der Thora ins Leben hinein, sondern umgekehrt aus
dem Leben, aus einer Welt, die vom Gesetz nichts weiß oder sich
nichts wissen macht, zurück in die Thora." - Rosenzweig war nicht
nur die „Seele des Lehrhauses"; eine ähnliche Rolle spielte er in der
„Gesellschaft" um die von M. Buber, J. Wittig und V. von Weizsäcker
1926-1929 herausgegebene Zeitschrift „Die Kreatur". Daß und in
welcher Weise Rosenzweig, der sich hier zwar nur als der „Theaterarbeiter
hinter den Kulissen" verstand, im Grunde jedoch der spiritus
rector der „Grund-Konzeption der Zeitschrift" war, arbeitet überzeugend
L. Müller in . . daß die Stummheit der letzten Jahrhunderte
aufhört' - Franz Rosenzweigs Beziehungen zur Zeitschrift .Die
Kreatur'" (S. 65-90) heraus; dabei liefert er zugleich eine eingehende
Beschreibung des Profils der gen. Zeitschrift. - Der dritte, unmittelbar
Rosenzweig gewidmete Beitrag gilt seinem Hauptwerk, dem „Stern
der Erlösung". Ausgehend von dem Aufweis der Verwurzelung allen
Rosenzweigschen Denkens in der (Glaubens-) Erfahrung und der (Alltags
-) Sprache ist es L. Wenzler in „Lernen, um zu tun - Franz Rosenzweigs
Sprachdenken und die Lehre des Alltags" (S. 109-129) gelungen
, eine in ihrer Dichte beeindruckende Einführung in den „Stern"
vorzutragen, dessen Lehre wie alles Lehren letztendlich eine Hinführung
zu „einem Tun, in eine Lebenspraxis, in eine die ganze Wirklichkeit
umfassende und tragende Geschichte" ist.

Die verbleibenden Beiträge gelten dem Werk M. Bubers, A. J-
Heschels und E. Fromms. Gelehrten also, für die das Lehrhaus eine
prägende Durchgangsstation gewesen ist. K.-E. Grözinger wendet sich
dem schwierigen Thema „Martin Buber und die jüdische Tradition"
(S. 33-42) zu. Seine, paradox klingende These lautet: „Bubers Werk
und Wirken ist ein typisches Beispiel jüdischer Tradition, insofern er
eine neue Lehre, seine höchst eigene und eigenwillige Lehre als die
wahre jüdische Lehre ausgibt, wiewohl sie in weitem Maße eben jener
jüdischen Tradition aufs heftigste widerspricht." Das Neue, und damit
das Besondere und zugleich Problematische an Bubers Lehre sieht
Grözinger in der Reduktion des Judentums auf eine Formel, nämlich
jene von der alle Dualität des Profanen und Heiligen überwindenden
Einheit und damit die Preisgabe der „Jüdischkeit" i. S. v. jüdischer
Religion, Tradition und Kultur als reine „religiöse Betriebsamkeit"-"
Unter dem Thema „Geheimnis und Plausibilität - Philosophische
Aspekte von Abraham Joshua Heschels Verständnis zeit-gemäßer
Religion" (S. 43-64) gibt J. Reiter eine Einführung in die Grundkategorien
von A. J. Heschels Religionsphilosophie, die zu lesen und zu
verstehen allerdings zugegebenermaßen fast noch schwieriger ist als
das Studium der entsprechenden Werke Heschels selbst. - R.

Funk

schließlich zeichnet in „Von der jüdischen zur sozialpsychologischen
Seelenlehrc - Erich Fromms Weg von der einen über die andere
Frankfurter Schule" (S. 91 -108) ein Porträt E. Fromms, wobei es ihm
ebenso darauf ankommt, dessen Verbindung mit, ja Bindung an das
Lehrhaus zu dokumentieren wie aufzuzeigen, in welcher Weise jüdische
Tradition und Lehre, in der Fromm großgeworden ist, dessen
soziologische und human wissenschaftliche Arbeiten geprägt hat.

Insgesamt eröffnen die einzelnen Beiträge je auf ihre Weise wichtige
Einblicke einmal in die seinem genius und spiritus rector zu verdankende
Ausstrahlungskraft des Lehrhauses, von dem trotz der verhältnismäßig
kurzen Existenzdauer dennoch Langzeitwirkungen bis 'n
unsere Tage hinein ausgegangen sind (man denke dabei nicht nur an
die nach dem Muster des Frankfurter Lehrhauses erfolgten Lehrhausgründungen
im Vorkriegsdeutschland, sondern vor allem an die Lehrhausgründungen
in London 1940, Zürich 1951 und zuletzt in Hilver-
sum 1981, bei denen allen das Frankfurter Lchrhaus Pate gestanden
hat), sowie in das Werk einiger seiner Lehrer. Dem Hg. gebührt Dank-
daß er die Vorträge publiziert hat, um sie so über den Kreis der
Tagungsteilnehmer hinaus Beachtung, die sie verdienen, finden zU
lassen. Nur einen „Schönheitsfehler" hat das Buch: Es sollte im Titel
nicht „eine andere Frankfurter Schule", sondern - ihrer Bedeutung
entsprechend - „die andere Frankfurter Schule" heißen!

Berta Stefan Schreiner