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Ausgabe:

1988

Spalte:

610-613

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Silberer, Michael

Titel/Untertitel:

Die Trinitätsidee im Werk von Pavel A. Florenskij 1988

Rezensent:

Onasch, Konrad

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Theologische Literaturzeitung I 13. Jahrgang 1988 Nr. 8

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gründen; zweitens als Kritik sowohl eines konstruktivistischen Autonomieverständnisses
als auch einer Bestreitung menschlicher Autonomie
durch das Gottesgesetz (vgl. 60f); drittens als Legitimation und
Maß „politischer Aufklarung und Modernisierung" (65) in Fortsetzung
des reformatorischen Befreiungsansatzes, der jede Reklamation
konservativer Staats- und Gesellschaftsform für das Gesetz-
Gottes zurückweist und einen weitreichenden positionellen Pluralismus
eröffnet.

Als erster Vertreter eines integrativen Theonomiekonzepts wird danach
der lutherische Erweckungsthcologc Julius Müller
(1801-1878) behandelt. Sein Gegensatz zur Vcrmittlungstheologie
basiert in der Konzentration auf die Hamartiologie, die Ausdruck der
Krise von Kultur und Welt überhaupt ist (vgl. 86). Müllers „Christliche
Lehre von der Sünde" (seit 1839) beschreibt deshalb die autonome
Selbstkonstitution des Menschen dezidiert als eine des endlichen
Menschen, die bloß formale Freiheit gewährt, während seine
reale Subjektivität in Gott gründet, der „Persönlichkeit" schlechthin
(vgl. 91 f). der zugleich „Urheber des sittlichen Gesetzes" (94) ist. Von
daher ist die reale Freiheit des Menschen eins mit dem Gehorsam gegenüber
dem Sittengesetz, ihr Vollzug - aus „innerem Antriebe" (122)
~ wahrhaftig theonom und das Gegenteil ethischer Autonomie und
Heteronomie. Materialitcr bemüht Müller dafür den nationalen
Volksnomos (vgl. 122ff). Kein Wunder, daß der aus diesem Konzept
resultierende Staats- und Gesellschaftskonservativismus als Bewältigung
des Problems 1848 in Preußen hoch willkommen ist (vgl.
'04.111 ff). Konsequent steht seine Lehre zugleich gegen Kulturplura-
üsmus(vgl. 112 ff) und industrielle Modernisierung (vgl. I15ff).

Anders als Müller löst Otto Pfleiderer (1839-1908) die Aufgabe
e'nes integrativen Theonomiekonzepts im Horizont der „Kompatibilität
von Autonomie und Theonomie" (129). Seine spätidealistische,
an der Tübinger Schule anknüpfende Auffassung von der christlichen
Religion als dem eigentlichen Movens der Evolution autonomer Vernunft
und Sittlichkeit kann den Brückenschlag freilich nicht an
,rgendwclchen „Heilstatsachcn" festmachen (vgl. 1350- Der göttliche
Logos waltet in jeder geistigen Strömung; das weist der Theologie die
Aufgabe letzter „Integration des Differenten" zu (154). Eine theo-
nome Ethik zielt von daher auf die Vermittlung der „unmittelbaren
Autonomie des Individuums" mit der „Faktizität sozialer Institutionen
" (159). Theonomes Handeln ist integratives Handeln. Dessen
verbindlicher Grund liegt im Gewissen. Es ist in formaler Hinsicht
transzendental-bestimmt, in materialer Hinsicht dagegen subjektivfrei
(vgl. 162). Beides aber, das ist entscheidend, „ergänzt" einander
aktuell (164). So kann die Theonomie nicht leichthin „äußerlich"
"^verstanden werden, doch hat Pfleiderer Mühe, sie von einem bloß
formalen Verstehen abzugrenzen (vgl. 1690. Deshalb verknüpft er
(seit 1893) das theonome Prinzip der Integration mit dem Telos ihrer
bedingten Erfüllungen: dem Reich Gottes (vgl. 176). Kirche und Gesellschaft
stehen evolutiv auf dieses Ziel hinaus. Insofern rücken
Theonomie und «religion civil» matcrialiter eng zusammen. Wie
Schnell der eschatologischc Vorbehalt dabei übersprungen werden
^nn, zeigt freilich Pfleidcrers Vision eines transkonfessionellen
'Christentums aller Deutschen" als Verbindung der „Menschheits-
re'igion Jesu . . . mit der germanischen Natur" (1840-

Schließlich kommt noch der dänische lutherische Theologe Hans
Lassen Marianen (1808-1884) zu Wort, den vieles mit Pfleiderer
verbindet, der sich jedoch hinsichtlich der Vermittelbarkeit eines
materialcn Wertkonsenses mit dem endgültigen Geschichtsziel deutlich
von ihm unterscheidet, weil er die Versöhnung des Christentums
m|t der Moderne skeptisch beurteilt (vgl. 195). Die theologische
Begründung dieser Konzeption liegt in einer dogmatischen Aufwer-
,Ung der Eschatologie. Das Reich Gottes ist die Norm der Ethik,
daraus folgt die Deutung der modern-autonomen Kultur, Wirtschaft
°der Politik als Ausdruck des Antichrist' und der kommenden End-
zeu als universale „Periode der Restauration" (202). Doch leitet das
^artensen zu keinem Dualismus, sondern zum Programm einer
"Theonomisierung der Kultur" (206). Sie hat ihr Zentrum in der

Konstitution der ethischen Person in der „Centraipersönlichkeit"
Gottes (209); mit dieser „verliehenen" Autonomie gestaltet der
Mensch die theonome Kultur- und Naturbegegnung als Umformung
ihrer Eigengesetzlichkeiten im Geiste traditionell religiöser Gesetzesnormen
(vgl. 212). Gottes Gesetz ist also nicht die Vernichtung der
Autonomie, sondern deren höhere Wahrheit. Bei der Verwirklichung
dieses Programms einer „Rechristianisierung der Kultur in allen ihren
Sphären" (224) ist die Volkskirche „die ethische Avantgarde der
Gesellschaft" (223), sind Liberalismus und Kapitalismus die großen
Gegner und der Sozialismus ein echter Verbündeter.

Ein kurzer systematischer Rückblick (231-240) erhellt noch einmal
, wie in den vorgestellten Konzepten - je unterschiedlich - der
Theonomiebegriff die Grenzen des neuzeitlichen Autonomiebewußtseins
markiert, derart an die Stelle des traditionellen locus de lege
tretend, wobei seine wachsend geschichtstheologische Deutung eine
materialethische Ideologisierung kaum zu verhindern vermag, auch
wenn damit eine „Stärkung der gesellschaftlichen Handlungsansprüche
von Theologie und Kirche " (239) einhergeht.

Ein klug analysierendes, streckenweise spannend zu lesendes Buch,
was bei Habilitationsschriften nicht eben häufig ist, dem ich nur
kritisch anmerken möchte, daß die differentc Systematik der Darstellung
der vier Positionen ihre Vergleichbarkeit erschwert. Auch hätte
ich mir am Ende ein Stück mehr an Ausblick auf Positionen des
20. Jh. gewünscht, um die Relevanz des Erhobenen für die gegenwärtige
Theologie zu ermessen. Denn Grafs Arbeit zeigt einmal mehr, wie
sehr das 19. Jh. an der Wiege der heutigen Theologie steht.

Saarbrücken üert Hummel

Silberer. Michael: Die Trinitätsidee im Werk von Pavel A. Flo-
renskij. Versuch einer systematischen Darstellung in Begegnung
mit Thomas von Aquin. Würzburg: Augustinus-Verlag 1984.
XLIII, 303 S. 8* = Das östliche Christentum. N. F. 36. Kart.
DM 43,80.

Der Priester und Professor Pavel A. Florenskij (1882-1943) ist nach
Vladimir Solovev, von dem er sich in vieler Hinsicht unterscheidet,
der bis heute letzte und bedeutendste, Naturwissenschaften, Mathematik
, Physik, Technik, Kunstgeschichte und Ästhetik einbeziehende
theologisch-philosophische Denker der russischen Orthodoxie. Die
erstaunliche Weite seines Bildungs- und Denkhorizontes ließ ihn auch
in der Sowjetunion über theologisch-kirchliche Grenzen hinaus zu
einem viel beachteten und zitierten Autor werden.' Der größte Teil
des Werkes von F. befindet sich noch im unveröffentlichten Nachlaß.
Dem deutschen Leser ist F. leider nur durch gelegentliche und auszugsweise
Übersetzungen bekannt geworden.2 Die vorliegende, durch
Klarheit und Sachlichkeit (auch im Hinblick auf das tragische Schicksal
F.s) sich auszeichnende Untersuchung hat alle bis 1983 zugänglichen
russischen Texte erfaßt und die Entfaltung ihres immensen
Gedankengehaltes an der Trinitätslehre orientiert und versucht, auf
dieser Basis einen Dialog zwischen dem russischen orthodoxen Theologen
und Thomas von Aquin zu führen. Ein solches Unternehmen
besitzt nicht nur ökumenische Qualität - es ist die russische orthodoxe
Kirche gewesen, die die Trinität als tragendes ökumenisches Dialogprinzip
eingebracht hat! -, sondern auch eine bis in spätbyzantinische
Zeit zurückreichende Tradition (Demetrios Kydones)1. Um einen
ersten und zur eigenen Lektüre anregenden Überblick der eindrucksvollen
und dabei diskutabel bleibenden Leistung Silberers zu vermitteln
, sei der Aufbau des Buches mitgeteilt: Nach einem Vorwort und
einer wohl erschöpfenden Bibliographie F.s (veröffentlichte und
nichtveröffentlichte Titel, Übersetzungen und Sekundärliteratur) von
S. XVII bis XLIII beschäftigt sich der Erste Teil mit Leben und Werk
F.s (Lebenslauf, Lebensaufgabe, unveröffentlichte Werke) (S. 1-56).
Der Zweite Teil heißt: Erkenntnis der Trinität (Das Problem der
Erkenntnisgewißheit, Das Erkennen der Wahrheit, „Zeichen des
Widerspruchs"). Der Dritte Teil, Mysterium Trinitatis genannt,
behandelt: Die Einheit des Göttlichen Wesens, Die Dreiheit der