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Ausgabe:

1988

Spalte:

545-546

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kugelmann, Lothar

Titel/Untertitel:

Antizipation 1988

Rezensent:

Frey, Christofer

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 7

546

gigkeit der Wirklichkeit Gottes von einer menschlichen Vorstellung.
Sie ermöglicht umgekehrt in theologisch verantworteter Weise gerade
das, was der Vf. fordert: nämlich die menschliche Wirklichkeit im
Lichte des kommenden Gottes ernst zu nehmen und in ihrer Wahrheit
zu Ehren zu bringen.

Warum also der Vf. den für Jüngel so fundamentalen Zusammenhang
von Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes ausgeklammert hat,
bleibt genau so dunkel wie das, was man sich eigentlich unter einer
..Theologie in der Blauen Eule" vorzustellen hat.

Berlin WolfKrötkc

Kugelmann, Lothar: Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986. 374 S. gr. 8"
= Forschungen zur systematischen u. ökumenischen Theologie, 50.
Kart. DM 74,-.

Diese keineswegs uninteressante Arbeit wird erneut die Diskussion
heieben, ob es gut ist. eine Dissertationsschrift in großer Nähe zum
Arbeitsgebiet und Entwurf des Betreuers zu verfassen. Kugelmann
Will mit seiner (1984 abgeschlossenen) Münchener Dissertation anhand
des Begriffes „Antizipation" (=A.) Pannenbergs Entwurf „Offenbarung
als Geschichte" durch eine Begriffsuntersuchung stützen.
Dabei tritt gerade dieses Konzept nicht besonders hervor; aber die
Untersuchung verschiedener Konzeptionen von A. beweist fast ausschließlich
durch Kritik anderer Positionen, daß die aufgeworfenen
Probleme durch den Entwurf „Offenbarung als Geschichte" am
besten gelöst werden.

Die These der Dissertation läßt sich folgendermaßen zusammenfassen
: A. ist nicht formal oder transzendental zu verstehen, sondern betrifft
die empirische Begriffsbildung. Deshalb erstreckt sich A. auf
ncue Erfahrung. Wo Neues antizipiert wird und auch eintritt, ist Geschichte
der Horizont der Erfahrung. Deren Wahrheit kann nicht pro-
'ologisch feststehen, sondern tritt erst an ihrem Ende heraus. A., recht
Erstanden, eröffnet eine eschatologische Ontotogie.

Allerdings läßt sich der Begriff, ,A." nicht anhand einer kontinuierlich
entfalteten Bedeutungsgeschichte darstellen. Kugelmann orien-
t,ert sich und seine Leser im Bereich der Exegese des Neuen Tritt
'"enis, ferner bei Kant und Cohen sowie in den theologischen Entwürfen
v. a. Rahners und Möllmanns (bei letzterem auf dem Hintergrund
von Bloch).

■ Der Teil A behandelt A. als „Terminus neutestamentlicher Exegese
" und zeigt, wie er (von Pannenberg) in die Dogmalik übernommen
wurde. Mit der Entdeckung des apokalyptischen Hintergrunds
der Reich-Gottes-Predigt Jesu durch Johannes Weiß stellte sich die
Frage

nach jener Geschichte, die in der (apokalyptischen) A. gemeint
'st. Der Historismus verweigerte die Einheit der Geschichte und verflüchtigte
damit ihre Besonderheit (S. 53), während Pannenberg zeige,
daß ein christliches Interesse an der Geschichte mit dem Gelingen
eines universalgcschichtlichen Entwurfs stehe und falle (ebd.). Damit
d'e Prolep.se des Endes der Geschichte in Jesus nicht als deus ex
machina erscheine, sei die philosophische Problematik aufzugreifen
.

Das unternimmt der Vf. im Teil B: „Vorgriff als Begriff'. Kam und
Cohen stehen dabei im Vordergrund. An Kants Philosophie interessiert
das Zusammenspiel von Verstand und Anschauung und damit
der Gedanke, wie der Begriff auf neue Formen der Empfindung und
damit der Erscheinungen „vorgreift". Das so schwer verständliche
Schcmatismuskapitcl der „Kritik der reinen Vernunft" spricht davon,
w,e ein BegrilTzu seinem Bild kommt. Das Schema des Begriffs (im
^erstand) wird durch die Zeit ermöglicht. Aber die Zeit ist eine Form
der Anschauung. Wie treten Verstand und Anschauung zur A. zusammen
? Um diese Frage zu klären, greift Kugelmann auf Cohen (v. a. auf
den „Grundsatz der Antizipation der Wahrnehmung" und die „Logik
der reinen Erkenntnis") zurück: Die empfundene bzw. die antizipierte
Realität ist Erzeugnis des reinen Denkens, so daß die letzte Trennung
tischen Gegenstanden und dem sie bestimmenden Denken hinfällt

(S. 132). Die Zeil selbst fallt in die transzendentale Logik: der Raum
soll die Zeit umgreifen; so bleibt sie und ist sie auf Allheit ausgerichtet
(S. 140).

Das Problem der Allheit bzw. Ganzheit verfolgt Kugclmann bei
Heidegger weiter und stellt die Frage, ob der Tod das Ganzsein einlösen
kann. Da eres nicht kann, ist die Dascinsganzheit eine über den
Tod hinaus gelegene zukünftige Bestimmung. Da die Antwort bei
Pannenberg bereits gefunden ist (S. 1860, kann auch Rahners Entwurf
eines grundsätzlichen Woraufhin des Ivjcnschseins nicht genügen
, zumal er zu nahe bei Kant bleibt und damit transzendental
(logisch) ist.

Der Teil C (Begriff als Vorgriff) befaßt sich mit dem Wahrheitsverständnis
, das geschichtlicher Erkenntnis entspricht. Die Struktur der
(platonischen) Anamnesis ist der Antizipation nicht dienlich, liefe sie
doch auf eine Erinnerung nach vorn hinaus. Auch Poppers Vorsatz
einer Annäherung an eine nie erreichte Wahrheit verstrickt sich in
Widersprüche. Deshalb bezieht sich Kugelmann auf den von Pannenberg
reinterpretierten Hegel (S. 247ff) - gegen Bloch, der aus empirischem
Denken, und Möllmann, der aus göttlicher Verheißung Zukunft
extrapoliert. Wer nun ausführlichere Argumentation erwartet,
wird enttäuscht. Der Vf. schließt mit Thesen, die Cohens Bedeutung
stärker als im Corpus der Arbeit herausstellen; wurde dort die Logik
der Antizipation herausgearbeitet, so hier die wechselseitige Bestimmung
von Form und Materie (S. 275). Das extra-nos des Glaubens
wird als Antizipation gedeutet (S. 277), die Selbstbezüglichkeit (die
transzendentale Apperzeption ist an das Individuum gebunden) wird
als Transzendenz verstanden. Die Wahrheit hat eine zeitliche Struktur
; Differenz (Noch-nicht und Schon-jetzt) und Einheit (antizipierte
Vollendung) decken die Vorläufigkeit aller Wahrheit hier und jetzt auf
und verweisen so auf die absolute Wahrheit: Wir sind noch nicht am
Ende der Geschichte, aber das Ende hat uns schon durch die Prolepse in
die Konsequenz des geschichtlichen Gangs hineingenommen.

Die oft recht kompliziert geschriebene Dissertation ist nicht immer
konsequent aufgebaut, weil Exkurse den Gedankengang unterbrechen
. Sie bietet Material zur Geschichte und zum Verständnis des Begriffs
der Antizipation. Aber eine bcgriffsgeschichtliche Untersuchung
allein reicht für eine eschatologische Ontologie nicht aus. Wenn die A.
auf Erfahrung und damit auf Empirie ausgerichtet ist. wäre bei Kant
die Geschichtsphilosophic zu behandeln gewesen. Ferner präzisiert
die zu Unrecht vernachlässigte „Kritik der Urteilskraft" als die Vermittlung
der beiden anderen Kritiken das unvermeidliche Begleitproblem
, die teleologische Sicht der Wirklichkeit. Wenn von Hegel zu
Recht gilt, daß er mit seinem Entwurf Transzendentalphilosophie
und Ontologie vereinte, so hätte die Auseinandersetzung mit seiner
Sicht der Weltgeschichte als der Theodizee den zentralen Platz verdient
. Und die Theologie? Eine Theorie der Endlichkeit, die auf die
absolute Wahrheit vorausweist, wird der Auseinandersetzung mit geschichtlich
und biographisch erfahrener Sinnlosigkeit nicht genügen;
eine gedankliche bzw. begriffliche Auflösung der Spannung von
Schon-jetzt und Noch-nicht geht am Vertrauens- und Hoffnungsgehalt
des Glaubens vorbei. Aber der Glaube ist im Programm
„Offenbarung als Geschichte" eher auf dem Rückzug vor der Erkenntnis
, weil es mit seinem weltgeschichtlichen Ordnungswillcn
keine unaufgclösten Widersprüche erträgt. Der erkenntnistheoretische
Sinn von A. ist einsichtig; aber die materiale, die geschichtliche
A. kann doch scheitern? An zwei Stellen läßt der Vf. erkennen, daß er
von dieser Anfechtung nicht ganz unberührt ist. Auf S. 191 beruft er
sich auf Jüngel und sieht mit ihm alle Nichtigkeit in das Kreuz Jesu
eingeschlossen. Auf S. 271 wirft er Moltmann vor, die Endgültigkeit
des Todes Jesu durch eine prolcptische Struktur zu unterlaufen. Aber
verdeckt nicht der Vf. den paulinischen eschatologischen Vorbehalt,
indem er das Leben des Auferstandenen die Nichtigkeit und das
Scheitern des Gekreuzigten überdecken läßt? Die neue Vermittlungstheologie
reduziert den Glauben auf eine vorauslaufende Erkenntnis
.

Bochum Christofer Frey