Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1988

Spalte:

539-541

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Theorie der Sprachhandlungen und heutige Ekklesiologie 1988

Rezensent:

Engemann, Wilfried

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

539

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 7

540

meinsehaft bleiben (muß)" (S. 275). Aber auch hier bleibt die historisch
-biographische Frage, ob das für Tillich immer so war.

Sehr bedeutsam auch für die Darstellung der „Rechtfertigung in der
Systematischen Theologie Paul Tillichs: Christus und das Neue Sein"
(S. 169-259) ist die Analyse der „Rechtfertigung im philosophischen
Denken Paul Tillichs" (S. 101 -154). Der Vf. untersucht hier verschiedene
„Denklinien", die für Tillich prägende Bedeutung behielten:
Kant, Hegel. Marx. Troeltsch und last not least Schelling. Aber auch
philosophische Zeitströmungen wie Existentialismus und Lebensphilosophie
werden in ihrer Bedeutung für Tillichs Gesamtkonzeption
besprochen. Damit sind wesentliche philosophische Eintlüsse
benannt. Die Phänomenologie Husserls wird als Zwischenglied hin
zur Existentialontologie Heideggers zwar erwähnt (S. 149), der bleibende
Einfluß dieser „Essenzphilosophie" Husserls für Tillichs eigene
Ontologie wird aber nicht in Ansatz gebracht. Analog wird auch die
idealistische Grundfigur Tillichschen Denkens mit ihrem Prinzip von
„Identität von Identität und Widerspruch" und damit der bleibende
idealistische Rahmen der Tillichschen Ontologie zu gering gewertet.
Zwar ist konsequent immer wieder auf die herausragende Bedeutung
des Identitätsgesichtspunktes - der nie fallengelassen wurde - hingewiesen
worden, der Konsequenz jedoch, daß damit auch ein wesentlich
idealistisches Element festgehalten wurde, vor allem durch Schel-
lings Spätphilosophie bestimmt, wird aber nicht Rechnung getragen
.

Tillichs Botschaft für unsere Zeit resümiert der Vf. als Ergebnis
seiner tief lotenden Untersuchungen: „Es geht auf Grund der Rechtfertigungsbotschaft
um gläubigen Realismus, d. h. um den Mut, die
Realitäten der Welt nicht schwärmerisch zu überspielen und doch auf
die Gestaltung von Neuem aus zu sein. Dabei steht jeder Einzelne zugleich
unter Gericht und Gnade." (S. 281)

Damit ist eine gute Basis für eine Interpretation des Tillichschen
Werkes und seines tatkräftigen Wirkens in Politik, Kultur und Wissenschaft
gewonnen worden, die der Offenheit und Weite dieses Theologen
von weltweiter Bedeutung gerecht wird. Man wird aber auch
hervorheben müssen, daß es dem Vf. so mit großer Prägnanz und
Kenntnis gelungen ist, gleichzeitig einen höchst aktuellen Beitrag zur
theologischen Gegenwartsdebatte einzubringen.

Leipzig Hans Moritz

Hiinermann. Peter, u. Richard Schaeffler [Hg.]: Theorie der Sprach-
handlungen und heutige Ekklesiologic. Ein philosophisch-theologisches
Gespräch. Einführung von L. Averkamp. Freiburg-Basel-
Wien: Herder 1987. 181 S. 8° = Quaestiones Disputatae, 109. Kart.
DM 42,-.

Wer einerseits um die Vorbehalte gegenüber der Rezeption humanwissenschaftlicher
Ansätze in der Theologie weiß, andererseits aber
auch jenes Interpretationsdefizit als Mangel empfindet, das aus einer
nicht unbedingt theologisch (vor)urteilenden1Skepsis gegenüber kommunikationstheoretischen
Ergebnissen und Verfahrensweisen resultiert
, wird einen Titel wie den obengenannten, samt dem sich darin
ankündigenden „Programm", ohne Zögern begrüßen. In dem zitierten
Band werden die Referate einer Tagung gleichen Themas zusammengestellt
, die „einen spezifisch theologischen Beitrag zur philosophischen
Diskussion um ,Sprachhandlungen' und ihr Verhältnis zu
Institutionen'" (10) leisten sollen. Die Hgg. kommen diesem Anliegen
u. a. im Aufbau des Werkes entgegen: Angefangen bei korrelierend
konzipierten Überlegungen zum „Lebensvollzug in Kommunikation
und Interaktion" einerseits und zu „Lebensvollzügen der
Kirche" andererseits, über Reflexionen zum „Wort als sozialem
Lebensvollzug" und zur „Bedeutung tradierter Sprachformen", bis
hin zu dem Bemühen, „kommunikative Handlungen als soziale Lebensvollzüge
am Beispiel von Umkehr und Versöhnung" zu erörtern,
liegt der Versuch vor, Sprachhandlungstheorie theologisch zu rezipieren
. - Wie gelingt dieser Versuch?

Das vorgegebene Generalthema wird von den neun Autoren in
recht unterschiedlicher Intensität aufgenommen. Hervorzuheben ist
zunächst das Referat P. Hünermanns, der, ausgehend von einer Zusammenschau
sprachhandlungstheoretischer Positionen, auf den
„Lebensvollzug der Kirche" (35) zu sprechen kommt und ihn in chri-
stologischem Kontext definiert (40). Predigt und Sakramente (vgl.
auch W. Beinert, 137-143) treten als „konstitutive Momente" (41)
„christlichen Mitvollzugcs der Erlösung" (51) hervor. Indem A. Halder
in Fortführung dieser Gedanken die Modalitäten von „Kommunikationsgemeinschaften
" (60) analysiert, entfaltet er die Bedeutung
sprachlicher Formen einerseits und die Rolle der Sprachgemeinschaft
als Lebensgemeinschaft andererseits (72) in wechselseitigem Verhältnis
. Dabei zeigt sieh nicht nur die Notwendigkeit, geprägte Sprachformen
zu tradieren - hierin liegt der Sinn-verwahrcnde Aspekt „geprägter
Sprachhandlungen" (68), sondern auch die Unabweisbarkeit
neuer Lesarten, die sich unerwartet aufgrund der Bedcutungsfülle von
.Sprachformen und dank prozeßgebundener Wechsel im Miteinander
von Kommunizierenden (64, 71) einstellen können - hierin liegt der
sinnerneuende Aspekt prägender Sprachhandlungen. Die moraltheologische
Perspektive von K. Demmer, wonach „normative Vorlagen
. . . auf die konfliktgcschichtliche Befindlichkeit ihrer Adressaten
Rücksicht nehmen" müssen (172), da eine „rein normative Ethik"
versagt, wo „Handlungsmöglichkcitcn, indem sie ergriffen werden,
auf einmal als sinnvoll erscheinen" (172), fegt als ekklesiologischcs
Fazit des Haiderschen (philosophisch konzipierten) Entwurfs nahe:
Wie das Prägende provozierend und das Geprägte korrigierend zum
„Leben als Dasein miteinander" (Halder, 72) gehört, so gehören diese
Modalitäten auch zur Theorie und Praxis einer Kirche, die nicht
durch abgenutzte Sprachformen handlungsunfähig werden, sondern
ihr Handeln innerhalb gegenwärtiger Kommunikationsvollzüge
sprechen lassen und nach-vollziehbare Interpretationen dafür erschließen
will, wie die Glieder einer Glaubensgemeinschaft in der
Welt mit Sinn leben und sterben können (vgl. 70).

Über die Argumentation Hüncrmanns und Halders hinaus finden
sich auch andernorts Impulse, die in verschiedener Weise betonen,
daß sich die Kirche aus der Wirklichkeit, die in ihrem Lebensvollzug
je neu gestiftet wird, ebensowenig heraushalten kann, wie sie hinter ihr
„ausdrückliches Zeugnis" (Hünermann, 44) zurücktreten darf. Diese
Konsequenz, ergibt sich handlungsthcoretisch bereits aus der Verschränkung
von Kommunikation und Interaktion im Lebensvollzug
(E. Coreth, 25), historisch aus der Notwendigkeit, Kirchengeschichte
„pragmatisch" zu definieren (N. Brox, 101), ethisch aus der Aufgabe,
„das Wort der Vergebung so zuzusprechen, daß es einerseits als unverfügbar
äußeres Wort, andererseits als Trostwort eines ,ihm innewohnenden
guten Geistes'vernehmbar wird" (R. Schaeffler, 127).

Trotz ihrer Rcflcxionsweite jedoch haben die erstrebten Dialoge
mit der Sprachhandlungstheorie teilweise etwas Monologisches, was
mit der zu zurückhaltenden Einbeziehung des sprachhandlungstheo-
retischen Interpretationsrepertoirs zusammenhängt. Daß unter z. T.
zahlreichen Anmerkungen insgesamt nur auf vier Seiten Austin angeführt
wird (19.28f.65), erweckt den Eindruck einer gewissen System-
interne, und wer sich „theologisch" mit Austin, Searle oder Habermas
(der unerwähnt bleibt) befaßt hat, wird manches potentiell
Innoviercndc der Sprachhandlungstheorie vermissen: z. B. ein Nachdenken
über die Konsequenzen aus den „illokutionären Akten" -
jener Kommunikationsebene, die durch die Unausweichlichkeit zu
handeln ausgewiesen ist und auch unabhängig davon wirken kann, ob
eine Proposition wahr ist oder eine Perlokution überzeugt.

Auch wenn man (mit dem Rez.) die Auffassung Halders, nach der
die Sprachhandlungsphilosophie tendenziell zur ..Univeirsaldiszipli'1
der Philosophie" (57) wird, nicht teilt (eine vergleichende Statistik
entsprechender Publikationen weist diese Rolle eher der Scmiotik zu)
und angesichts mancherlei Großzügigkeiten in der Anwendung kom-
munikationstheoretischen Materials Einspruch erheben möchte, wird
man in dem vorliegenden Werk wichtige Argumente finden, Theologie
im eigentlichen Sinn des Wortes zu „treiben", bloßem Rcprodu-