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Ausgabe:

1988

Spalte:

537-539

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schnübbe, Otto

Titel/Untertitel:

Paul Tillich und seine Bedeutung für den Protestantismus heute 1988

Rezensent:

Moritz, Hans

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 7

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rangig poetologischen und germanistischen Überlegungen vorbehalten
, wofür Kemper in den Teilen I und II theologisches und
philosophisches Material aulbereitet hat.

Die Arbeit überrascht durch ihren umfassenden Horizont. Es ist
erstaunlich, welche Litcraturmcnge der Vf. bewältigt hat. Nicht nur
der Textband, sondern auch der Kommentarband vermag das eindrücklich
zu zeigen. Band II enthält eine ausführliche Bibliographie
(I. 438-500; Quellen, Qucllensammlungen, Forschungsliteratur).
Solche Arbeiten sind sicher notwendig. Nicht in jedem Falle kann sich
der Vf. auf eine genügend aufgearbeitete Detailforschung stützen. Das
zeigt zugleich auch die Grenze dieses Werkes an. Erfreut ist sicher
jeder, der zu den unterschiedlichsten Namen (Personenregister,
", 501 -516) und den theologischen, philosophischen und germanistischen
Begriffen und Sachverhalten (Sachregister, II, 517-532). die oft
■n entsprechender Literatur vermutet werden können, aber nicht zu
finden sind, hier etwas findet. Das weist zweifellos auf den Vorteil des
Buches hin. Sachgesichlspunktc freilich sind gelegentlich nur andiskutiert
, in ihrer Weite lediglich auf den Ausschnitt des Themas
begrenzt. Mag sein, daß man hier zuviel erwartet. Doch gerade dazu
ermuntert der umfassende Titel. Z. B. beginnt eben wieder eine sich
'rnmer mehr ausweitende Diskussion über Johann Arndt. Es ist gar
n'cht möglich, die sich dort ergebenden Aspekte unter dem gestellten
Thema auszuschöpfen. Ein besonderes Desiderat besteht in der zu
wcnig aufgearbeiteten Spätorthodoxic. Ob aus diesem Grunde die
oben genannte These des Vf. haltbar bleibt, muß als Frage stehen
bleiben.

Leipzig Martin Petzoldt

Systematische Theologie: Allgemeines

Schnübnc. Otto: Paul Tillich und seine Bedeutung für den Protestantismus
heute. Das Prinzip der Rechtfertigung im theologischen,
Philosophischen und politischen Denken Paul Tillichs. Hannover:
Lutherhaus Verlag 1985. 288 S. 8 Kart. DM 28,80.

Es ist sehr sinnvoll und Tillichs Intentionen gemäß, ihn und sein
Werk von seiner Bedeutung für den Protestantismus heute her zu befragen
. Vor allem aber ist es möglich, mit dieser Fragestellung auch
die zentral lutherische Fundamentalaussage der Rechtfertigung sola
8ratia fide an Tillichs Gesamtwerk als Kriterium heranzubringen und
zu untersuchen, inwieweit dieses Werk lutherischer Theologie ent-
sPncht. Dieses Verfahren ist für den aktuellen Stand der Tillichrezep-
t'on von besonderer Bedeutung, da gerade durch kerygmatische Theo-
'°gen bis heute immer wieder der Versuch gemacht wird, Tillichs
Theologie einen Abfall vom christlichen Kerygma anzulasten und ihn
s° zu disqualifizieren, nicht immer so frontal wie in Karl Barths
••Kirchlicher Dogmatik". aber doch sehr oft im Stile besserwissenden
Eingerhebens, sozusagen mit Maßen.

Dem Vf. des zu besprechenden Werkes waren diese Frontstellungen
wohl bekannt - wie seine Auseinandersetzung mit der umfangreichen
Tillich-Litcratur belegt - und es ist ihm hoch anzurechnen, daß ersieh
dadurch nicht zu vorurteilsgcladenen Halbwahrhciten hinführen ließ.
Tillich war Theologe lutherischer Tradition und hielt am sola gratia
fide fest, wobei er allerdings diese Botschaft in unsere Zeit, für unsere
^eit transponierte, auch in ihrer Bedeutung für Wissenschaft, Kultur
ünd Politik. Tillichs Bedeutung hängt so ..nach Meinung des Verfassers
davon ab, ob es Tillich wie einst Luther erstens gelungen ist, das
Rechtfertigungsprinzip zum organisierenden Prinzip seines philo-
SoPhischen. theologischen und politischen Denkens zu machen . . .
Und ob es ihm zweitens gelungen ist, von der Rechtfertigung aus Gnaden
im Glauben her eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit zu finden
" (S. 9).

Diese Anforderungen sind nach Meinung des Vf. - so kann man ihn
wohl interpretieren - durchaus erfüllt worden. Ersetzt folgerichtig mit

Tillichs Frühschrifl ,,Rechtfertigung und Zweifel" von 1924 ein und
sieht hier - in der Rechtfertigung des Zweiflers Tillichs ein „entscheidendes
religiöses Erlebnis" (S. 10). Gewonnen ist die Weite der Rechtfertigungsbotschaft
in Übcrna'hme von Gedanken Martin Kählers, die
Tillich auch die Unbefangenheit der historisch-kritischen Forschung
gegenüber garantierten. Die befreiende Kraft der Rechtfertigungsbotschaft
hat für Tillichs systemtragende Konzeption des Identitätsprinzips
- die er aus seiner Beschäftigung mit dem Deutschen Idealismus
übernahm - bereichernde Wirkung. Es wird dadurch die von jenseits
kommende Offenbarung in ein dialektisches Verhältnis zur Identität
geistiger Zusammenhänge gebracht. Die Folgen dieser Dialektik
für den Gottesbegriff werden analysiert mit dem Ergebnis. ..daß Dialektik
, der Gottesbegriff, die Rechtfertigung, ja die Lehre der Grundoffenbarung
, Heilsoffenbarung und Inkarnation zu einer Bezichungs-
einheit werden" (S.10). Die grundlegenden Thesen des Buches sind
mit dieser Tillich charakterisierenden „Beziehungseinheit" gewonnen
worden (Kapitel 1-3). Eine Grundposition bleibt dabei dem „supranaturalistischen
Christo-Zentrismus Karl Barths" (S. 41) gegenüber
das Problem einer Grundoffenbarung, zu der der Vf. sich klar bekennt
: „Wird die in der Gnade gründende Grundoffenbarung gestrichen
, werden Religionen und Kulturen entwertet. Sie werden zu Menschenwerk
und der Feuerbachschen Kritik preisgegeben" (S. 43).
Auch für den Gottesgedanken wäre der Ausfall einer Grundoffcn-
barung zugunsten einer alleinigen HeilsolTenbarung äußerst verhängnisvoll
: „Wo der Gottesgedanke als paradoxe Immanenz des
Transzendenten nicht für die Geschichte von Religion und Kultur
[also auch als Grundoffenbarung, H. M.] fruchtbar gemacht wird,
kann nur ein willkürlicher supranaturalistischer Gott übrigbleiben,
der nur an einem Punkt der Geschichte, nämlich im Christus sich
zeigt. Ein solcherGott kann nicht mehrglaubwürdig sein." (S. 43)

Tillichs Intention gemäß macht der Vf. von dieser Ausgangsposition
her sehr klar auf Tillichs Stellung zur Heilsoffenbarung aufmerksam
: „Tillich will über Barth einerseits und den theologischen Liberalismus
andererseits hinaus, und zwar durch seine Interpretation des
Neuen Seins des Christus. Man darf weder bei der imputativen Rechtfertigung
stehenbleiben (Barth), noch darf Rechtfertigung sich in Mo-
ralität auflösen (liberale Theologie). Effektive Rechtfertigung ist keine
Moralität. Der Mensch, da er Sünder bleibt, muß ständig zur imputativen
Rechtfertigung zurückkehren und in ihr sich die Kraft holen,
neu und tathaft in derGestaltung der Welt anzufangen." (S. 47)

Den Prinzipien einer solchen protestantischen Gestaltung im Werk
Tillichs geht der Vf. dann in den folgenden Kapiteln nach (Kapitel
4-7). Klar wird dabei immer wieder auf Tillichs Offenheit den
Problemen der Zeit gegenüber hingewiesen und damit auch nicht nur
systematisch analysiert, sondern - was tatsächlich bei einem so gegen-
wartsoffenen Denker wie Tillich kaum anders möglich ist - der historisch
-biographische Gesichtspunkt in die Darstellung hereingenommen
. Dominierend bleibt aber die leitende theologische Fragestellung
der Rechtfertigung, so daß durchaus eine übergreifende Systemkonzeption
erhalten ist.

Nach grundsätzlichen Erwägungen zu Tillichs Prinzipien der „protestantischen
Gestaltung" (Kap. 4) mit Diskussion systemtragender
Begriffe wie Autonomie. Heteronomic, Theonomie, Kairos werden
verschiedene „Gestalten der Gnade" wie Kirche, Sakrament und Religiöser
Sozialismus vorgestellt. Dabei ist zu Recht auf Tillichs fundamentale
Aussagen zum „gläubigen Realismus" eingegangen worden.
Hier wird aber auch der antiutopische Impetus des Vf. besonders deutlich
, vielleicht - wenn man an den Tillich zur Zeit der Weimarer
Republik denkt - etwas zu stark.

Es ist sicher so, daß Tillich über einen „lutherischen Quictismus
durch Betonen des gläubigen Realismus hinaus" (S. 274) führt. Die
Vereinnahmung Tillichs jedoch gegen „kirchlich-schwärmerischen
Weltverbesserungsaktionismus" (S. 274) mit Hinweis auf die Rccht-
fertigungslehre dürfte so nur bedingt haltbar sein. Das richtet sich
nicht gegen die Feststellung des Vf., daß „Kirche selbst nie politische
Wagnisgemeinschaft werden, sondern . . . immer Offcnbarungsge-