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Ausgabe:

1988

Spalte:

532-534

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hürten, Heinz

Titel/Untertitel:

Verfolgung, Widerstand und Zeugnis 1988

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1 13. Jahrgang 1988 Nr. 7

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(S. 317-385). Dem Etat des „Reichskriegswesens" zugehörig, geriet
es bei den permanenten Kämpfen um die Heeresvermehrung wiederholt
in das Kreuzfeuer parlamentarischer Kritik, die sich beispielsweise
an dem finanziellen Mehraufwand infolge der zusätzlichen Einrichtung
von Amtsstellen für Militärgeistliche oder an dem Bau neuer
und pomphafter Garnisonskirchen entzündete. Andere Punkte waren
die Militärfreiheit von Theologen (und katholischen Theologiestudenten
), der Zwang zum Gottesdienstbesuch, das Eintreten für religiöse
Minderheiten, die seelsorgerliche Betreuung in der Nationalsprache
, bes. in der Beichte für Polen, die aus Oberschlesien oder der
Provinz Posen stammten.

Sodann wird über den - bislang kaum näher untersuchten - Bereich
des religiös-militärischen Brauchtums informiert (S. 387-454). Nur
die Gebiete sind zu nennen: Fahnenweihe, Fahneneid, die spezielle
Liturgie (nebst katholischer Heiligenverehrung), Militärmusik, Denkmäler
, Kriegerfriedhöfe und „Diensf'-Bekleidung.

Schließlich - und im Verhältnis zur gesamten Darstellung sehr ausführlich
- wird auf die deutsche Kriegsseelsorgc-Politik während des
ersten Weltkrieges eingegangen (S. 455-623). Man war anfänglich auf
die ungeheuren Ausmaße des Dienstes nicht eingerichtet, versuchte
dies aber durch zusätzliche organisatorische Maßnahmen auszugleichen
. Sonderregelungen für religiöse Minderheiten gewinnen jetzt
an Gewicht. Die Propagandafunktion wird ebenso erwähnt wie auch
ein allgemeinkirchliches Reagieren aufdie sich neu stellenden religiösen
und humanitären Anforderungen (u. a. Kriegsgefangenenseel-
sorge). Es fehlen nicht das „Waffensegnen" und das Thema des „gerechten
Krieges", letzteres gewiß zu kurz abgehandelt, aber andererseits
doch vertretbar im weitgespannten Rahmen der Darstellung.

Versucht man aufgrund des hier Mitgeteilten eine Einordnung des
Buches, so ist am festen Platz desselben in der laufenden Forschung
zur neueren Kirchen- und Zeitgeschichte keine Frage:

Der Autor ermöglicht mit seiner Untersuchung nicht allein eine bedeutend
bessere Kenntnis eines in der deutschen Militärkirchengeschichte
bislang nur ungenügend erforschten Zeitraumes, sondern
zugleich unterstreicht seine Darstellung auch die Tatsache, daß die
kirchcngeschichtliche Beschäftigung mit dem ersten Weltkrieg
stärker auf das zeitliche Vorfeld Rücksicht nehmen sollte, denn sie
verschenkt sonst ein gutes Stück vorhandener Interpretation.

Ein weiteres, ganz wesentliches Verdienst besteht darin, daß die
Thematik in einer konfessionellen Zusammenschau dargeboten wird.
Das fördert die Verdeutlichung des Sachgegenstandes, zeigt zudem bekannte
Ereignisse wie den Kulturkampf in einer ergänzenden Sicht
und darf einen besonderen Dank beanspruchen durch die Berücksichtigung
auch der jüdischen Militärseelsorge.

Neu erinnerlich gemacht wird auch die Beziehung zur Landeskirchengeschichte
. Hier oft ein längst vergessenes Kapitel, wird vom
Autor zahlreich Material angeboten, sich im näheren Umfeld mit dem
eigenen Erbe auseinandersetzen zu können. (Behandelt werden nicht
nur die Bundesstaaten, sondern ebenfalls Elsaß-Lothringen, Reichsfestung
Ulm, die Reichsmarine, die Kolonien.) Am interessantesten
ist dabei vielleicht der Kampf der kleinen Königreiche Sachsen,
Bayern, Württemberg mit dem übermächtigen Partner aus dem Norden
. Erwähnung finden auch die wiederholten preußisch-österreichischen
Kontakte bei Ausbau des jeweils eigenen Militärkirchenwesens
.

Kritische Anfragen mag man stellen, sie haben ihr Recht aber wohl
mehr am Rande. So erfolgt die Einarbeitung der Befreiungskriege bzw.
deren Rezeption in die Untersuchung zweifellos zu flüchtig. Sie ist
z. B. unbefriedigend, was die Beschreibung des jüdischen Beitrages in
dieser Zeit in Preußen betrifft, und sie ist zumindest verwirrend, wenn

bei der Formel.....für König und Vaterland", dem klassischen roya-

listischen Bekenntnis, einseitig von dem „ursprünglichen .reformerischen
' Sinngehalt" die Rede ist. Letzteres ist allenfalls ein Teilaspekt
.

Solche Mängel schränken den Wert der Untersuchung nicht ein.
Vielmehr wird man über dem Lesen immer wieder an das eingangs erklärte
Bemühen um eine objektive Würdigung erinnert. Der Autor
schreibt nicht mehr in den Traditionen eines Martin Schian (Die
Arbeit der evangelischen Kirche im Felde, Berlin 1921), sondern in
deutlicher Abgrenzung gegenüber älteren Darstellungen. Die versachlichende
Behandlung von Fakten, die früher selten anders als emotional
besprochen werden konnten, ist wohltuend und steht als Beispiel
für eine neue Generation in der Beurteilung eines belastenden
Themas aus der Kirche in ihrer Geschichte. Man wünschte sich
weitere Untersuchungen auf der hier eingeschlagenen Bahn.

Leipzig GerhardGraf

Hürten, Heinz: Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Kirche im
Nationalsozialismus. Fragen eines Historikers. Mainz: Grünewald
1987. 130 S. 8". Kart. DM 19,80.

In diesem schmalen Bändchen legt der bekannte katholische Historiker
widerstandstheoretische Reflexionen vor, die als Fortsetzung
und Erweiterung seines Beitrags zur internationalen Widerstandskonferenz
in Berlin (West) im Jahr 1984 gelesen werden können (vgl.
Heinz Hürten: Selbstbehauptung und Widerstand der katholischen
Kirche. In: Jürgen Schmädecke/Peter Steinbach [Hg.]: Der Widerstand
gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und
der Widerstand gegen Hitler. München/Zürich 1985, 240-253).
Hürtens besonderes Anliegen ist es, das in einem modisch politisierten
Verständnis von Kirche verzerrte oder gar nivellierte kirchliche
Proprium (Glaubenszeugnis) widerstandsgcschichtlich neu zur Geltung
zu bringen.

Dem Vf. ist zuzustimmen, wenn er meint, die auseinanderklaffenden
Urteile über den Widerstand der (katholischen) Kirche erklärten
sich aus zumeist unreflektiert mitgeführten Theorievorgaben über
das politische Handeln der Kirche. Aus ihnen erwüchsen dann die so
konträren Urteile „Bewährung" oder „Versagen". Urn. im Gelände
der Vor-Urteile einen neuen Weg freizumachen, zieht sich der Vf. zunächst
auf eine Bestimmung von Reichweite und Grenzen historischer
Arbeit zurück. Der Historiker habe sich aller „Wertentscheidungen
" zu enthalten (17). Ob empirische Forschung und Werturteilsbildung
strikt voneinander abgehoben werden können, mag
dahingestellt bleiben. Wichtig bleibt auf jeden Fall eine vom Autor
entwickelte Prämisse. Kirchen besitzen in der Komplexität geschichtlicher
Ereignisse keine unzweideutigen Handlungsanweisungen. Deshalb
auch muß sich Betrachtung post festum davor hüten, den Besitz
zweifelsfreier Wahrheit im Sinne nachträglicher Handlungsanlcitung
vorzugeben. Die methodische Schlußfolgerung im Horizont des
Widerstandsthemas ist leicht zu ziehen. Nicht das Wünschbare, das
historisch Aufweisbare ist Gegenstand der Betrachtung. Im Blick auf
das Verhalten des deutschen Episkopats meint Hürten: „Damit ist
keineswegs die Frage beantwortet, ob die Bischöfe sich so verhalten
haben, wie es ihnen ihr Amt zur Pflicht machte. Sie muß von denen
entschieden werden, die sich in der Lage sehen, darüber zu befinden,
welche Pflicht des bischöflichen Amtes in der Konkurrenz vielfältiger
und divergierender Pflichten einen unbezweifelbaren und um den
Preis eines jeden Opfers durchzuhaltenden Vorrang besaß" (87).
Diese Sätze sind einerseits klar, andererseits vieldeutig genug, um
neue Fragen zu provozieren. Wer zählt bei der Urtcilsbildung über das
Verhalten der Bischöfe zu den Befugten, wer zu den Unbefugten?

Gestützt auf aktuelle Ergebnisse der Widerstandsforschung, gelingen
dem Vf. viele treffende Beobachtungen und Formulierungen. Pessimistisch
ist sein Urteil, wasdie Durchschlagskraft wissenschaftlicher
Untersuchungen im Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit angeht. In
der Tat, welchen Stellenwert besitzen die Einsichten der Resistenzforschung
über die Widcrständigkcit konfessioneller Milieus im Vergleich
mit den Essais von Heinrich Boll und Carl Amcry, die über den
„Milieukatholizismus" so bitteranklagende Worte gefunden haben,
oder auch im Vergleich mit der These Ernst Blochs von der habituellen
Affinität des Katholizismus zu Faschismus und Nationalsozialismus?