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Ausgabe:

1988

Spalte:

519-521

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Gerd

Titel/Untertitel:

Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte 1988

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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519

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 7

520

K. dabei mit einer „Veränderung" der „Intention der Jesusüberliefe-
rung" durch die Gemeinde des SLk rechnet (S. 138), zeigt schon, daß
es ihm nicht einfach um historische Apologetik geht.

Oldenburg Gerhard Sellin

l.üdemann. Gerd: Das frühe Christentum nach den Traditionen der
Apostelgeschichte. Ein Kommentar. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1987. 285 S. gr. 8*. Kart. DM 48,-.

Der Untertitel ist irreführend: Versteht man unter einem Kommentar
die fortlaufende Erklärung eines biblischen Buches mit dem primären
Ziel, Inhalt und Absicht der Aussagen seines Verfassers zu
erschließen, so ist dies kein Kommentar im strengen Sinn, sondern
eher die monographische Aufarbeitung eines - freilich höchst bedeutsamen
- Teilaspekts, mit dem es der Kommentator der Apostelgeschichte
zu tun hat. Es geht Lüdemann ausschließlich um deren
historischen Wert, genauer: um die Möglichkeit, ihre Aussagen für die
Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums fruchtbar zu
machen. Er sieht sich dabei zwischen einer forschungsgeschichtlichen
Linie, die, von A. Harnack herkommend, den Geschichtswert der
Apg hoch ansetzt, und einer anderen, als deren Vater F. C. Baur gelten
kann, die die Apg nur sehr eingeschränkt als historische Quelle
anzuerkennen bereit ist. Hingegen weiß sich Lüdemann in klarer
Distanz zu jener dritten Forschungsrichtung, die aus dem Baur'sehen
Ansatz unter dem Einfluß der Arbeiten von M. Dibelius, E. Haen-
chen und H. Conzelmann - aber nicht unbedingt den Intentionen
dieser Forscher entsprechend - hervorgegangen ist, nämlich der heute
„in Europa... und Nordamerika... blühende(n) redaktionsgeschichtlichen
Forschung", die sich darauf beschränkt, den luka-
nischen Sinn des Berichteten zu ermitteln und die „nicht selten zu
einer fast totalen Vernachlässigung der historischen Frage in bezugauf
das in der Apg Berichtete geführt hat". (II)

In den methodischen Vorüberlegungen des Eingangsabschnitts
(9-24) bringt Vf. eine Reihe von den Geschichtswert der Apg relativierenden
Argumenten vor: Lukas war selbst weder Augenzeuge der
von ihm berichteten Vorgänge, noch hat er bei der Darstellung des
Paulus, der zentralen Figur seines Buches, dessen Briefe benutzt;
hinzu kommt, daß sieh eklatante Fehler (z. B. bei der Zahl der Jcrusa-
lemreisen des Paulus) nachweisen lassen. Daraus folgert er, daß der
Geschichtswert der Apg keinesfalls auf der lukanischen Erzählebene
zu suchen sei. Er sei vielmehr primär, wenn nicht gar ausschließlich
auf der sekundären Ebene der von Lukas verarbeiteten Traditionen
angesiedelt. Der Begriff „Tradition" sei dabei sehr weit zu fassen; er
bezeichnet „schriftliche Quellen, mündliche Überlieferung, aber auch
allgemeine Informationen des Lukas" (16). Diese Skepsis hinsichtlich
des Geschichtswerts der Primärebene wirkt sich methodisch vor allem
in der bereits früher vom Vf. erhobenen Forderung aus, für die Rekonstruktion
der Abfolge der Ereignisse in der Geschichte des Urchristentums
und deren Chronologie ausschließlich die paulinischen Briefe
heranzuziehen. Die historischen Informationen der sekundären
Ebene lassen sich nur dann sachgemäß verwerten, wenn man sie aus
der Umklammerung durch die Redaktion löst, um sie sodann je für
sich durch Vergleich mit anderen historisch zuverlässigen Informationen
- vorab wiederum aus den Paulusbriefen - auf ihren Geschichtswert
zu befragen. Nun erkennt Vf. freilich selbst die immense
Schwierigkeit der Scheidung von Tradition und Redaktion im Werk
eines Autors, der wie Lukas die benutzten Vorlagen in seine eigene
Sprache und Denkformen umzuschmelzen pflegte (18). Sprachliche
und stilistische Merkmale greifen als Kriterien nur begrenzt; ähnliches
gilt für die Beobachtung von Spannungen im Text. Um so mehr
wäre zu erwarten, daß Lüdemann daneben noch weiterführende klare
Kriterien für eine zuverlässige Scheidung von Tradition und Redaktion
entwickeln würde. Doch diese Erwartung wird nur bedingt
erfüllt, denn die beiden von ihm eingeführten Kriterien sind alles
andere als eindeutig. Das eine ist die „Konkretheit" der jeweiligen

Nachrichten (18). das andere besteht darin, daß diese sich auch auf
einer anderen Ebene als der der lukanischen Erzählung mit bekannten
Fakten der Geschichte des Urchristentums zu einem Geflecht von
„Gründen bzw. Zwecken und Wirkungen" zusammenfügen und sich
darin als „geschichtliche Tatsachen" (im Sinne von J. G. Droysen)
erweisen (26). Diese Kriterien können allenfalls den Horizont abstecken
, in dem sich die Fragen des Interpreten bewegen. Bei ihrer
konkreten Anwendung erlauben sie jedoch einen so großen Ermes-
sensspiclraum. daß objektiv gültige Ergebnisse nur in den seltensten
Fällen erzielbar sein dürften.

Der Kommentarteil des Buches (31-276) behandelt die Perikopen
der Apg nach einem stereotypen Schema: Zunächst wird stichwortartig
die (I) Gliederung dargestellt; es folgt der relativ ausführliche
Versuch, den Anteil der (II) Redaktion aufzuweisen; sodann werden
die vorlukanischen (III) Traditionen ausgegrenzt und im Zusammenhang
charakterisiert; abschließend (IV Historisches) werden die
inhaltlichen Elemente dieser Traditionen in übergreifende Zusammenhänge
eingeordnet und auf ihren Charakter als „geschichtliche
Tatsachen" hin befragt.

Nur einige Einzelheiten der Auslegung können hier referiert werden. Vf. sieht
hinler dem Pfingslbericht (2.1-13) zwar eine vorlukanischc Tradition, will
jedoch (tu. E, ohne zureichende Begründung) deren Verbindung mit dem
Pfingstfest auf das Konto lukan. Redaktion setzen. IXis wiederum nötigt ihn zu
dem Versuch, einen genetischen Zusammenhang der Tradition mit der Erscheinung
vor 500 Brüdern (I Kor 15,6) zu postulieren. - 5.1-11 weiden, m. E. zu
Recht, als alte Jerusalemer Tradition beurteilt: ein Normenwunder, dem. wie
die Parallele zu 1 Kor 5 erweist, ein historischer Kern zugrunde liegen kann. -
Den Konflikt um die Armenversorgung in Jerusalem (6.1-7) häh Vf. für eine
lukan. Konstruktion, um seinerseits als wahren historischen Kern einen Konflikt
zwischen aramäisch sprechenden und griechisch sprechenden Christen
anzunehmen (84)- m. E. ein nicht wirk lieh begründbares Ermcsscnsurtcil. - Zu
8.4-14 (Philippus und Simon Magus in Samarienl wiederholt l.üdemann die
Thesen seiner 1975 publizierten Dissertation, derzufolgc hier eine Tradition
zugrunde liegt, die von der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der
simonianisehen und der christliehen Religion berichtete (104). - Hinter
9.1 - 19a sieht Vf. trotz des Fehlens eines Uerufungswortcs des vom Himmel her
erscheinenden Christus „eine Berufungsgeschichte, die im wesentlichen mit den
paulinischen Eigen Zeugnissen übereinstimmt" (121). Er lädt dabei u.a. den
Umstand unberücksichtigt, daß die hier erkennbare vorlukanisehe Tradition
die Chrislusepiphanie nicht, wie Paulus das in seinen Eigenberichten
1 Kor 15,8; Gal 1.16 voraussetzt, als Selbstofl'cnbarung des Auferstandenen
kennzeichnet. - Der Korneliusgeschichte (10.1-1 1.18) wird ein historischer
Kern zugebilligt: Petrus hat bereits vor dem Apostelkonzil im Zug seiner Juden-
mission punktuell aueli Heiden bekehrt, und die davon berichtende Tradition
hat „einst einer judenchristlichen Gemeinde als Legitimation dafür gedient,
sich von jüdischen Speisegesetzen zu emanzipieren" (139). Die Berichte von der
sog. I. Missionsreise (13-14) sind in ihrem Kern historisch; falsch ist lediglieh
ihre Datierung vor der Jerusalcmer Konferenz. Es handelt sieh um Ereignisse,
die sieh auf dem Zug des Paulus durch Kleinasien nach Griechenland, den Vf.
gemäß seiner eigenwilligen Chronologie ca. 8 Jahre früher als zumeist üblich
datiert, abgespielt haben. - Ais auf historischen Fakten beruhend wird auch der
Bericht über die Jerusalcmer Konferenz (15.1-46) angesehen (warum von
diesem Urteil die Bemerkung über die Verfassung der Jerusalemer Gemeinde
ausgenommen sein soll [174], ist nicht ganz einzusehen). Geistvoll ist der
Lösungsvorschlag für das Problem des Aposleldekrels: Lukas führt es zu Recht
als Konferenzergebnis an. Paulus kann es in Gal 2.6 als Ihm nicht ..auferlegt'
übergehen, da es nur ..den zum großen Teil gemischten Gemeinden Antiochiens
auferlegt" worden ist, „in deren Auftrag Barnabas auf der Konferenz
war" (178). Vorausgeselzl ist dabei wiederum Lüdemanns Erühdatierung der
paulinischen Achaia-Mission. - Diese ist auch Ausgangspunkt für die Beurteilung
von Apg 18: Traditionen, die von mindestens zwei Korinth-Aufenthaltcn
des Paulus stammten, seien von Lukas redaktionell zu einer Einheit verbunden
worden. - Den Rciscwcgdes Paulus wie auch den Grundbestand der Nachrichten
über seine Predigttätigkeit. in Athen (Apg 17) hält Vf. für „sicher
geschichtlich, wenn auch von Lukas historisch falsch eingeordnet" (195). - Ein
hohes Maß an historischer Zuverlässigkeit wird vor allem dem Befiehl über die
letzte Jerusalemreise des Paulus (21.1-36) beigemessen. Vf. rechne) hier mit
einer durchlaufenden (schriftlichen) Quelle, die zuverlässig Reiseroute, beteiligte
Personen und KonfiiktkonsteUatton in Jerusalem benannte. - Als weitgehend
im Dienst lukanischer apologetischer Tendenzen stehende redaktionelle
Konstruktion wird jedoch 21.37-22.29 beurteilt. - Der Bericht über die