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Ausgabe:

1988

Spalte:

459-461

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bukdahl, Jørgen K.

Titel/Untertitel:

Dialektische Einheit 1988

Rezensent:

Moritz, Hans

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 6

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dagegen R. offensichtlich Zeit als Voraussetzung von Bewegung versteht
(26ff), weil Bewegung schon immer ein Vor und Nach, Früher
und Später voraussetzt (z. B. 59 ff), so vergißt er dabei, daß Aristoteles
ein Früher und Später im nichtzeitlichen Sinne kennt (z. B. Metaphysik
1018b). Sind also solche Argumente, Bewegung nicht ohne Zeit
denken zu können, zwar modern, aber nicht im Sinne des Stagiriten?
Ferner: Läßt sich der zeithafte, von der Zeit nicht grundsätzlich
geschiedene Gott bei Aristoteles auch hinsichtlich dessen eudemi-
scher und nikomachischer Ethik aufrechterhalten, wo es doch die
theoretischen Tugenden sind, die sich im Unterschied zu den ethischen
und praktischen Tugenden in das Unwandelbare, Ewige der
Gottheit versetzen? Damit kann doch nicht ein Gott gemeint sein, der
nur der Inbegriff von Bewegung und Wandel ist. Oder: Ist es für den
Begriff der Entelecheia wirklich so konstitutiv, daß das Ziel immer
noch aussteht, so daß die Entelecheia zeitlich wird, oder ist es nicht
vielmehr die Hyle, die die Entelecheia von außen her (also nicht aus
deren ontologischem Wesen heraus) daran hindert, sich zu vollenden?
Oder: Ist mit Schelling, noch dazu mit dem späten, die Aristotelesrezeption
des Deutschen Idealismus wirklich abgedeckt? Und ist
(neben Schelling) mit Melanchthon (und Luther) die Aristotelesrezeption
des Protestantismus wirklich abgedeckt? Hier und an anderen
Stellen bleiben Fragen.

Doch diese und ev. weitere Punkte der Aristotelesrezeption R.s
auszudiskutieren ist uns auf so knappem Raum unmöglich, zumal die
Auslegung des Stagiriten in der Gegenwart in vollem Fluß ist. Mag
man dabei über Einzelfragen immer anderer Meinung sein - es wird
heute kaum eine Aristotelesauslegung geben, mit der man in allen
Einzelheiten übereinstimmen könnte. Zweierlei wird man aber bei R.
auf alle Fälle hervorheben müssen: Einmal hat er die wichtigsten Meinungen
über Aristoteles heute erwähnt und eingearbeitet. Zum
anderen Male kommt es von seiner Aufgabenstellung her darauf an,
wie der Stagirite verstanden werden könne, was seine Denkkategorien
für die Theologie leisten können, an welchen Verstehenswiö'g-
lichkeiten die Reformatoren vorbeigegangen sind, und darin wird man
ihm zustimmen unabhängig von der Frage nach dem historischen Aristoteles
und seinem Einzelverständnis. Dennoch liegt der Wert des
Buches auch darin, für die historische Aristotelesinterpretation neue
und gewichtige Anstöße zu geben. Seine Interpretation liegt etwa in
der Mitte zwischen einem naturphilosophisch-averroistischen und
einem idealistischen Verständnis des Stagiriten, setzt diesen mehr von
Piaton ab als heute oft üblich, ohne ihn ins Pantheistische (ontologi-
sche Differenz!) zu verziehen. Doch wie dem auch sei: Das Anliegen
R.s, auf eine neue protestantische Aristotelesbegegnung zu dringen,
die unabhängig von den zeitlich bedingten Vorurteilen der Aristotelesrezeption
der Reformatoren ist, ist zu begrüßen. Überhaupt bereitet
R. damit eine neue positive Begegnung der evangelischen Theologie
mit der Philosophie vor. Auch wird man die kenntnisreiche und diffizile
Gedankenarbeit R.s anerkennen müssen. So ist das Buch all
denen zu empfehlen, die als Theologen bereit sind, philosophische
Gedanken mitzudenken und sich von ihnen anregen zu lassen, um
daraus für die Theologie neue gedanklich abgeklärte Positionen zu
gewinnen.

Marburg(Lahn) Günther Keil

Bukdahl, J0rgen K.: Dialektische Einheit. Eine Vergegenwärtigung
der Philosophie Hegels. Aus dem Dän. von E. Harbsmeier. Leiden:
Brill 1986. 124 S. 4° = Acta Theologica Danica, 21. geb. hfl 50.-.

Wie der Hg., Peter Widmann, schreibt, ist diese Einführung „in die
Gedankenwelt des wichtigen Inspirators der modernen Theologie"
geschrieben worden, um „einen Zugang zu den im Einzugsgebiet der
analytischen Philosophie verschütteten Quellen der idealistischen
Traditionen und des dialektischen Denkens" (S. 5) zu geben. Unverkennbar
ist auch, daß die „vom Für und Wider des Neumarxismus geprägte
Debatte" der nordischen Länder (a. a. O.) für die Konzeption

dieser Einführung in Hegels Werk erhebliche Bedeutung hatte. Gleiches
dürfte auch für die Nähe des Vf. zur „Wissenschaftstheorie"
(Kuhn, Lakatos, Kuhlmann) gelten. Darauf weisen steuernde Grundlagen
seiner Auslegung, wie „Modell" bzw. „Paradigma"-Begriff, aber
auch die durchgängige Verwendung des Strukturbegriffs hin. Vor
allem wird der Geistbegriff, das „Modell Geist" zugrunde gelegt, um
von hier aus das Ganze des Hegeischen Philosophierens pädagogisch
aufzubereiten: „In dieser Einführung ist die Philosophie Hegels auf
den einen Ausdruck ,Geist' komprimiert". (S. 120) Dieser Ausdruck
wird dann „immer wieder in einen aktuellen Diskurs übersetzt"
(a. a. O.). Man wird sagen können, daß damit die Durchsichtigkeit des
Ganzen, aber auch die pädagogische Verwendbarkeit fern aller nur
historisierenden Betrachtungsweise voll gewahrt sind. Für Hegel wird
eine Ganzheitsbetrachtung reklamiert, ein „Holismus", der gegen
einen bloß formalen Rationalismüs gesetzt wird, der aber keinerlei
„irrationalistischen, romantischen Holismus" (S. 10) bedeutet, in
dem das Individuum von einer Ganzheit verschlungen würde. Daher
dann auch bei aller Auseinandersetzung Hegels mit Kants Erkenntnis
-, Moral- und Religionsphilosophie nie ein bloßer Gegensatz, sondern
Bemühung um einen „flexibleren, sensitiveren Verstand"
(S. 10): „Wenn Hegel so immer wieder darauf aufmerksam'macht,
daß seine dialektische Einheit für den analytischen Verstand ein Paradox
darstellt, dann ist dies näher so zu verstehen, daß der Verstand
nicht begreifen kann, daß die formale Struktur, d. h. in der Erkenntnis
die formale Logik und in der Ethik die Menschenrechte der einzelnen-
Person, in eine Ganzheit hineingehört und nur in ihr als Skelett bestehen
kann" (S. 10). Es ist unübersehbar, daß damit auch gegen
aktuelle Wissenschaftstheorien „positivistischer und neupositivisti-
scher Observanz" mit Hegels Begriffsinstrumentarium polemisiert
wird. „Der zugleich originale und aktuelle Beitrag Hegels ist also ein
rationaler, ein anti-romantischer Holismus" (S. 10). Die Darstellung
setzt folgerichtig neben dem „Geistmodell" mit dem Modell der „Entfremdung
" ein, um dann zu zeigen, wie diese in Erkenntnistheorie,
Ontologie, Moralphilosophie und Religionsphilosophie ihren Ausdruck
finden.

Leicht war das sicher nicht, da die spekulative Weite des Hegel-
schen Systems dabei immer wieder nur sozusagen punktuell erreicht
werden kann. Wenn man jedoch in Rechnung stellt, daß „Vergegenwärtigung
" dej Philosophie Hegels Hauptanliegen des Vf. ist, dann
wird man zugestehen müssen, daß der lebendige Atem Hegeischen
Nachdenkens durchgängig festgehalten wird. Das wird man auch von
Formulierungen zur Utopie sagen können, die viel von des Vf. eigenem
Standpunkt sichtbar werden lassen: „Zusammenfassend kann
man sagen, daß Hegel mit der Entdeckung der Geiststruktur jeden
Utopismus aufgibt. Diese Struktur ist selbst eine theoretische Utopie,
die es ermöglicht, das Vernünftige im Wirklichen und das Wirkliche
im Vernünftigen zu sehen!" (S. 94).

Vorteilhaft für das Verständnis des Buches ist dabei, daß als roter
Faden immer wieder die Nahtstelle des Übergangs von Kant zu Hege'
herausgearbeitet wird, was zu Recht in Hegels Ausweitung der Grenzen
auch der theoretischen Vernunft gesehen wird. „Hegel ist nicht
damit einverstanden, daß man bei der Reflexion über die apriorische
Synthese auf eine Totalitätsbetrachtung verzichtet. Er meint mit
anderen Worten, daß die Ideen der Vernunft eine konstitutive und
nicht nur eine regulative Funktion haben." (S. 77)

Dieser andere Stellenwert der Vernunft kommt besonders deutlich
im abschließenden Abschnitt über die Religionsphilosophie Hegels
zum Ausdruck. Nicht die religionsgeschichtlichen Analysen werden
hier dargestellt, sondern der Vf. konzentriert sich auf die Diskussion
des ontologischen Gottesbeweises: „Das Modernste an der Religionsphilosophie
ist für Hegel gerade das, was auf uns als das am meisten
Veraltete wirkt, nämlich die Rehabilitierung des ontologischen Gottesbeweises
" (S. 99). Nach Meinung des Vf. hat das jedoch grundsätzliche
Bedeutung: „Wenn er so hartnäckig und süffisant den ontologischen
Gottesbeweis verteidigt, so deshalb, weil er für ihn eine Formel
für die nicht bloß subjektive, die objektive Idealität ist, für den Cha-