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Ausgabe:

1988

Spalte:

448-449

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lienhard, Marc

Titel/Untertitel:

Zwischen Gott und König 1988

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 6

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worden: Frauen, Sklaven, untere militärische Ränge, Gerichtsschreiber
... Die christlichen Autoren, die solchen Menschen nun eine
Passio widmeten, erhoben sie zur höchsten Würde, denn auch der
Kern der 4 kanonischen Lebensbeschreibungen Christi ist jeweils die
Passio. Der niedere Stil, den die meisten Verfasser von Passionen
schrieben, entsprach dem Sermo humilis der Heiligen Schrift."
(HO)

Kapitel III „Concordia Poenitcntiac" geht auf die ältesten Mönchsleben
ein. Die Vita Antonii wirkte im Abendland in der lateinischen
Ubersetzung des Evagrius; doch gab es vorher eine ältere Übersetzung
: „Der erste Ubersetzer des Antoniuslebens gehört zu einer nun
in den Hintergrund tretenden älteren Autorenschicht, der zweite,
Evagrius, in die Reihe der neuen Klassizisten, der Damasus, Ambrosius
, Prudentius, Sulpicius Severus, Hieronymus, Augustinus und
Paulinus von Nola" (128). Große Bedeutung hat Hieronymus: Er
schrieb mehrere Mönchsleben (134ff), auch in seine Briefe hat er
Biographien eingearbeitet (144-147). Seine Arbeit „De viris illustri-
bus" verpflanzte alexandrinische Philologie und römische Traditionspflege
in die christliche Welt (147). Seine Bibelübersetzung (Vulgata)
beeinflußte nachhaltig die lateinische Sprache (151). Es kommen
„Pilgerbiographien von Frauen der Spätantikc" in den Blick: Die Vita
Melaniae senatricis und das Itinerarium Egeriae (Peregrinatio Aethe-
riae) beschreiben Reisen ins Heilige Land. Nach Symeon dem Styliten
wird Alexius dargestellt, dessen Legende im 10. Jh. breiter
nachwirkte (173). An der Vita Severini des Eugippius wird die
„enorme Konstanz der geschriebenen lateinischen Sprache" gerühmt:
„Zwischen Livius und Eugippius liegt derselbe Zeitraum wie zwischen
Walther von der Vogelweide und Gottsched ..." (I 79). Doch
wirken in derselben Quelle auch die Evangelien nach. Ennodius von
Pavia und Dionysius der Geringe werden herangezogen: „Der Geist
des Mönchtums und der Askese erläßt nun die höchsten Kreise . . .
Hagiographischc Literatur wird nun auch in Rom modern und wirkt
in die Breite." (187) Benedikt von Nursia lobte im letzten Kapitel
seiner Regel die „Vitas Patrum als Tugendwerkzeuge der Mönche"
(188).

Kapitel IV „Clama, ne cesses" behandelt die Bischofsleben der
Spätantike. Sulpicius Severus schrieb „ein höchst gepflegtes, mit klassischen
Zitaten versehenes und klassischen Reminiszenzen gespicktes
Latein" (197). Die Vita Ambrosii des Paulinus wird breit dargestellt,
andere Bischofsviten in Italien werden genannt (224-226). Die
Lebensbeschreibung Augustins von Possidius „verdient es, nicht nur
Kritiker, sondern auch wieder Leser zu finden" (235). Die Vita Ful-
gentii des Ferrandus von Karthago führt zu den Sätzen: „Ähnlich wie
bei der Passionsliteratur ist festzustellen, daß allein die afrikanische
Kirche eine kontinuierliche, kontrollierte und in sich konsequente
Folge der Bischofsbiographien geschaffen hat. Der Untergang der afrikanischen
Kirche im Arabersturm des 7. Jahrhunderts ist eine Tragödie
auch der lateinischen Literaturgeschichte." (241) Der Abschnitt
„Die rhetorischen Bischofsbiographien aus Arles" hat die Bischöfe
Honorius, Hilarius und Caesarius vor Augen. „Es ist für die Beobachtung
der Umbruchssituation jener Jahrhunderte die aufschlußreichste
biographische Serie." (242) Die beiden ersten Biographien „entsprechen
der rhetorischen Lobrede antiker Schultradilion" (247). In der
Vita über Caesarius zeigt sich beginnender Verfall: „Es ist ein Latein,
das durch kein intensives Grammatikstudium mehr gezügelt und entsprechend
fehlerhaft" ist (257). Auch die Passio der Thebaischen
Legion wird vom sprachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkt her
gewürdigt (261 IT).

Kapitel V stellt biographische Serien des 6. Jh. unter die Überschrift
„Quo plusbibo, plus sitio". Zum Liber pontificalis heißt es: „Was den
Kaisern recht war, mußte den Päpsten billig sein" (270). Das primitive
Schema wird bewundert: „Die solcherart mumifizierte Biographie
" trägt „den Keim urplötzlicher Verlcbendigung in sich" (276).
Die „tabellarische Papstbiographie" hatte erstaunliche Lebenskraft.
Von Venantius Fortunatus wird die Vita Radegundis besonders
gerühmt: „Unter lauter Bischofsviten steht sie einzig da als Lebensbeschreibung
einer Frau und Königin" (284). Venantius repräsentierte
noch den „Glanz von Ravenna"; ihm gegenüber steht Gregor
von Tours, der bereits „Merowingerlatein" schrieb (289). In Gregors
Frankengeschichte gibt es viele biographische Elemente, „aber nichts
rundet sich in dem riesigen Werk zu einer biographischen Form"
(292). In Gallien war „der Punkt erreicht, da die alte christliche
Sprachtheoric wirklich in einen Sermo humilis umgesetzt werden
mußte" (302). Das Buch endet bei Papst Gregor [., dessen Dialoge die
einzige biographische Quelle über Benedikt von Nursia bieten (305 ff).
Zusammenfassend sagt B.: Es war „ein langer Weg von der alten
Römertugend der Patientia zur Annahme der Passio als Inhalt des
Lebens. Die Kreuzeshymnen, die Venantius Fortunatus für Radegunde
schrieb, waren ein Durchbruch. Dann hat Gregor d. Gr. das
römische Menschen- und Gottesbild revolutioniert durch seine eigene
Leidensexistenz und seine Apotheose des leidenden Menschen."
(323)

Das Buch enthält Anregungen in Fülle; dazu gehört auch am
Schluß eine „Auswahl literarisch und historisch bedeutender lateinischer
Biographien in Gruppen" (325-337). Vom Register aus ist das
Buch als Nachschlagewerk gut zu nutzen. Bis auf einige merkwürdige
Überschriften (Kapitel IV, 1-4) ist das Buch nur zu loben. Es gab
bisher keine so inhaltreiche Untersuchung über die lateinischen Biographien
der alten Kirche, die qucllenkundliche, methodische,
sprachgeschichlliche und theologische Gesichtspunkte zusammensieht
. Dem angekündigten 2. Band über das frühe Mittelalter kann
man mit Spannung entgegensehen.

Rostock Gert Haendler

Kirchengeschichte: Neuzeit

Lienhard, Marc: Zwischen Gott und König. Situation und Verhalten
der französischen Protestanten nach der Aufhebung des Edikts von
Nantes. Vorgetragen am 13. Dezember 1985. Heidelberg: Winter
1986. 58 S. m. 18 Abb. gr. 8* = Sitzungsberichte der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften, Philos.-hist. Klasse, Jg. 1986, 4.
DM 28,-.

Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 führte zu einer „Zerreißprobe
für die französischen Protestanten, zwischen Gott und
König" (12). Etwa 250000 Flüchtlinge haben um ihres evangelischen
Glaubens willen die Heimat verlassen; ihre Wirkungsgeschichte in
Brandenburg u. a. ist wohl bekannt. Lienhard wendet sich jedoch denjenigen
zu, „die in der Heimat geblieben sind, weil sie aus wirtschaftlichen
oder anderen Gründen das schwere Los der Auswanderung
nicht auf sich nehmen wollten. Wie haben diese 600000 Franzosen
sich verhalten?" (15) Nur eine Minderheit lehnte jeden Kompromiß
ab. Die große Mehrheit waren die »Nouveaux Convertis« (18). Sie
beschränkten ihre Teilnahme an der katholischen Religionspraxis atll
ein Minimum. „Gravierend war der Zwang zur Kommunion." (20)
Aber auch die Taufe und der Kampf um die Kindererziehung sowie
die Trauung und Beerdigung konnten zu Problemfeldern werden.
„Der relative Widerstand gegen die katholischen Riten war das eine:
das andere war das Bemühen, evangelischen Glauben und Frömmigkeit
im Geheimen zu pflegen." (2 I) Dabei hatte die Lektüre der Bibel
einen hohen Stellenwert, doch gab es auch Versammlungen und
Laienprediger. Soziologisch gesehen haben „vorwiegend kleine Leute
an den verbotenen Versammlungen teilgenommen, und später auch
arh Camisardenaufstand" (26). Es gab auch Verbindungen zu den
1 lüchtlingcn,doch hat sich „zeitweise eine Kluft zwischen den leidenden
Hugenotten und dem Refugc aufgetan" (32). Das gilt vor allein ®f
das umstrittene Auftreten von Propheten sowie den Camisardenaufstand
, der 1702-1 704 „ganz Europa in Erstaunen versetzte. Dieser
Aufstand entstand auch ohne jede Beteiligung ausländischer Mächte,
die erst relativ spät auf den Gedanken kamen, ihn in ihrem Kamp'
gegen Ludwig XIV. cinzubeziehen." (40)