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Ausgabe:

1988

Spalte:

446-448

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berschin, Walter

Titel/Untertitel:

Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen 1988

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 6

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Gewalt proklamierte (124). Am klarsten betonte der Normannische
Anonymus unter Hinweis auf 1 Petr 2,13 und Rom 13, „daß die Existenz
weltlicher Herrschaft und die Verpflichtung der Menschen
einschließlich der Geistlichen, ihr zu gehorchen, auf Gottes Willen
zurückgehe" (130). Gregor VII. brachte einen ziemlichen Bruch mit
der Tradition: „Ganz offensichtlich teilt Gregor VII. also nicht die
schon von Irenaus verkündete, von Gregor d. Gr. und Isidor weiterentwickelte
und im Investiturstreit von den Anhängern der königlichen
Seite immer wieder ins Feld geführte Auffassung von der herrscherlichen
Gewalt als eines Hilfsmittels, das Gott den von ihm
abgefallenen Menschen gnädig gewährt. . . Vielmehr macht er sich
jene andere, von Tertullian und vor allem von Augustin her bekannte
Uberzeugung zu eigen, nach der die fürstliche Herrschaft als Ergebnis
der egoistischen menschlichen Selbstüberhebung unter den zum Teufel
Ubergelaufenen entstand, die . . . in allen ihren Äußerungen letztlich
die Gottesferne und Sündhaftigkeit ihrer Träger dokumentiert."
(133) Gregors Radikalität wurde von seinen Anhängern meist abgeschwächt
. Der Investiturstreit führte „zu einer zuvor seltenen, in
dieser Schärfe wohl überhaupt neuen Konfrontation der beiden in der
Patristik entwickelten Grundpositionen zur Entstehung der herrscherlichen
Gewalt aus der menschlichen Sündhaftigkeit"; doch
waren Gregors Positionen „entschieden ungewohnter" (142). In der
Stauferzeit vertrat Johann von Salisbury die Eigenverantwortlichkeit
des Fürsten vor Gott und lenkte so zu Gregor I. zurück (144ff). Klerikaler
äußerten sich Hugo von St. Viktor und Bernhard von Clairvaux.
Gerhoh von Reichersberg hielt alle Ansprüche Gregors VII. für
gerecht (159). Die Kanonistik kommt mit Gratian, Rufinus und
Huguccio zu Wort (160ff). Papst Innozenz III. übernahm den
Vergleich von Kirche und Staat mit Sonne und Mond von Gerhoh
von Reichersberg (167). In der Kanonistik des 12. und 13. Jh. überwog
die Tendenz, „die grundsätzliche Unterordnung der weltlichen unter
die geistliche als die wahrhaft vom peccatum erlösende Gewalt immer
klarer herauszuarbeiten" (176). Bei der Auslegung zu Rom 13 gingen
Anselm von Laon, Gilbert Porretanus und Petrus Lombardus andere
Wege: Weltliche Herrschaft ist von Gott eingesetzt zur Bekämpfung
der Sünde. Otto von Freising rühmt Friedrich Barbarossa, er handele
-.wie der göttliche Richter selbst, wenn er dem Stolzen widerstehe und
den Demütigen aufrichte" (179). Die Konstitution von Melfi 1231
setzt bei der Schöpfung ein, zur Erhaltung der Menschheit wurde die
Herrschaft verordnet. Die sündigen Menschen „beschritten damit
jenen Weg zurück in die bewahrende göttliche Ordnung, den ihnen ihr
sorgender Schöpfer zu ihrer Rettung angewiesen hatte" (182).

Die Wiederentdeckung des Aristoteles bringt neue Argumente.
Thomas von Aquino setzte „die aristotelische Bestimmung des Menschen
als eines animal sociale sehr konsequent in seinem Staatsdenken
ein". Die Unterordnung des Staates unter die Kirche begründete
er jedoch „mit dem Sündenfall grundsätzlich nicht anders als
etwa Innozenz III., Innozenz IV. oder der Hostiensis" (192). Aegidius
Rornanus und Jean Quidort begründen mit Aristoteles das Eigenrecht
des Staates; bei Marsilius von Padua hat sich „die neue, die Natur des
Renschen ins Zentrum stellende Begründung der Existenz von Staat
und Herrschaft zum erstenmal wirklich vollständig gegenüber den
v°m Sündenfall ausgehenden Erklärungsmustern durchgesetzt" (207).
Doch hielten sich auch die älteren Gedanken zäh (207-226). Auch
Wilhelm von Ockham sah neben modernen Gedanken noch einen
Zusammenhang von Herrschaft und Sündenfall (240). John Wyclif
setzte einen neuen Akzent: Die Verstrickung der Kirche in weltliche
^'nge „gefährdet ihre Bindung an Gott... so schwer, daß in diesem
Falle das zügelnde Einschreiten der weltlichen Obrigkeit ihr gegenüber
dringend geboten erscheint" (245). Ausgleichende Lösungen
Suchtcn Dietrich von Nieheim, Pierre d'Ailly. Gerson und Nicolaus
^-Usanus. Aeneas Piccolomini - später Papst Pius II. - hielt die
Menschliche Natur trotz der Sünde „doch zugleich für fähig, unter
Gottes Leitung mit Hilfe der ratio die gegen das Böse nötigen Maßnahmen
planvoll, bewußt und aktiv zu entwickeln" (255). Thomas
^°rus und Machiavelli fragten kaum noch „nach der Entstehung der

Herrschaft unter den Menschen" (259). Luther und Müntzer waren
traditionsgebundener. „Luther betrachtete das Fürstenamt mit den
Augen Gregors des Großen und Isidors, seinen Inhaber jedoch letztlich
vom rigorosen Standpunkt Augustins aus." (262) Thomas
Müntzer aber schilderte ähnlich wie Gregor VII. „die Fürsten als
Mächte, die zwischen Gott und Mensch treten, für sich selbst statt für
jenen Dienst, Verehrung und'Furcht beanspruchen und mit ihrem
gottlosen, tyrannischen Regiment den christlichen Glauben geradezu
verhindern . . ." (263). Natürlich will Müntzer nicht die Fürsten dem
Papst unterstellen, sondern „im Anschluß an den geisterfüllten
Propheten, an Müntzer selbst also, bewähren sie sich als Werkzeuge
Gottes, erhält ihr Handeln seine Rechtfertigung" (263). Das Buch ist
reich an Zitaten und Anregungen.

Rostock Gert Haendlcr

Berschin, Walter: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter
. I: Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des
Großen. Stuttgart: Hiersemann 1986. XII, 358 S„ 1 Taf. gr. 8" =
Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philosophie des
Mittelalters, 8. Lw. DM 198,-.

Das Buch verspricht „eine literaturwissenschaftliche Darstellung
von rund 180 lateinischen Biographien aus dem III. bis VI. Jahrhundert
" (11), die Anfänge der Monumenta Germaniae Historica (HO-
Unterschiede zwischen Biographie und Hagiographie werden erörtert
(230- „Als Maßstab für die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung
eines Textes gilt nicht die Nähe zum biographischen Ideal der klassischen
Historikerbiographie oder modernen Kurzbiographie, sondern
der Grad seiner zeittypischen Ausprägung." (300 Zahlreiche
Texte werden zitiert, oft deutsch und lateinisch hintereinander.

Kapitel II „Gloria Passionis" geht vom Martyrium Polykarps aus.
Ihm folgt die älteste lateinische Quelle, die Passio Sanctorum Scilita-
norum (380- Sie ist „eigentlich kein Werk der Literatur, sondern
reiner Niederschlag der Wahrheit" (39). Es zeigen sich Bedeutungsveränderungen
lateinischer Worte im christlichen Zusammenhang.
„Nicht nur der römische Staat und die römische Gesellschaft, sondern
auch die römische Sprache werden durch das Christentum verändert,
das Christenlatein entsteht." (44) Zur Passio Perpetuae et Felicitatis
heißt es zuletzt: „In der Männerwelt der römischen Literatur erscheint
als erste große christliche Biographie der Bericht von der Gloria
passionis zweier Frauen" (56). Dieser Umstand trug mit dazu bei,
daß Pontius eine Lebensbeschreibung des Bischofs Cyprian schrieb,
die Harnack „die erste christliche Biographie" genannt hatte (63). In
eine andere Umwelt führt der Bericht „Die vier Gekrönten": Christen
im Bergwerk werden zum Tode verurteilt. Die Wortwahl erinnert an
den Prozeß gegen Jesus vor Pilatus, „ein stilistisches Verfahren, das in
der christlichen Biographie und in der christlichen Literatur überhaupt
häufig begegnet. Der Schriftsteller setzt voraus, daß der Leser
oder Hörer bestimmte Texte kennt und auf Stichworte aus diesen
Texten reagiert, indem in ihm Bilder aufsteigen, die im voraus berechnet
werden können." (71) Die Passio Sebastiani zeigt als Novum „ihre
dramatische Technik, das in ihr steckende Theater" (81). Ähnliches
gilt für die Passio Laurentii. Die Passio der Hl. Agnes fand in einem
Mosaik in Ravenna künstlerischen Niederschlag (87). Unter der
Überschrift „Quo vadis?" werden apokryphe Texte berücksichtigt.
Neben dem Apostclroman stehen Erzählungen vom Leben und Sterben
der Maria, von der Kindheit Jesu, eine Jesajapassion sowie ein
Leben Adams und Evas (93). Die Recognitiones Clementinae werden
als „Volksbuch" oder „Roman" bezeichnet (109). Zum sozialen Bezug
wird erklärt, „daß in den Passionen Personen vorkommen, die in
der paganen Antike keine Verewigung ihres Andenkens zu erwarten
hatten. Es gibt in der antiken Literatur keine Biographie von Steinmetzen
, denn Bergarbeit war Verbrecher- und Sklavenarbeit. Der
Kreis der einer Darstellung ihres Lebens würdigen Personen ist durch
das Christentum auf Repräsentanten niederer Schichten erweitert