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Ausgabe:

1988

Spalte:

444-446

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stürner, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Peccatum und potestas 1988

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 6

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Text, Übersetzung des Textes) bildet die Lektüre unter synchronem
und diachronem Aspekt das Zentrum der Darstellung.

Der synchronen Lektüre werden ausschließlich die linguistischen
Methoden zugeordnet. Am Anfang steht die sprachlich-syntaktische
Analyse, die den Wortschatz (Lexikon) und deren Verknüpfung durch
die Grammatik zum Gegenstand hat. Es folgt die semantische Analyse
, die sich in Textsemantik (der Text mit seinen Bedeutungselementen
als Verweissystem), Semantik von Wort, Motiv und Wortfeld
und narrative Analyse untergliedert. Es schließt sich die pragmatische
Analyse an, in der die dynamische Funktion von Texten
bedacht wird („Handlungsanweisung und Leserlenkung durch
Texte", S. 134). Die synchrone Lektüre schließt mit der Analyse von
Textsorten. Darunter sind Textgruppen zu verstehen, die eine Reihe
gemeinsamer Merkmale aufweisen. Die diachrone Lektüre umfaßt die
Literarkritik, d. h. die Rekonstruktion von Textvorlagen und deren
,Sitz im Leben', die Traditionskritik, in der die mündliche Vorgeschichte
eines Textes erfaßt werden soll, sowie die Redaktionskritik.
Letztere hat das Ziel, den Vorgang der Redaktion und die Stellung des
Redaktors zu rekonstruieren. Vor der praktischen Durchführung
eines neuen Methodenschrittes anhand eines Übungsbeispiels werden
die jeweils schon bekannten Methoden angewendet, wodurch eine
Verknüpfung der einzelnen Methodenschritte erfolgt. Den Abschluß
des Buches bilden Textlektüren unter historischem und herme-
neutischem Aspekt. Die historische Lektüre fragt danach, „was sich
von den im Neuen Testament berichteten Vorfällen wirklich zugetragen
hat" (S. 196). In der hermeneutischen Lektüre behandelt der Vf.
besonders die Problematik einer aktualisierten Auslegung des Neuen
■ Testaments.

Es ist dem Vf. gelungen, die von ihm aus dem weiten Spektrum der
Linguistik entnommenen Methoden verständlich darzustellen. Er
verfallt dabei nicht einer ahistorischen Exegese, sondern bemüht sich
um eine Kombination linguistischer und historisch-kritischer Methoden
. Die Erklärung der einzelnen Methodenschritte, die Übungsbeispiele
und die Zusammenfassungen der Arbeitsschritte und Arbeitsanleitungen
zum Abschluß der jeweiligen Methodenschritte
überzeugen durchweg. Auch die zahlreichen graphischen Darstellungen
helfen zum Verständnis. Dennoch sind neben Einzeleinwänden
(Warum fällt die Religionsgeschichte völlig aus? Weshalb erhält der
Leser keinerlei theologiegeschichlliche Informationen? Warum wird
auf den Begriff .Formgeschichte' verzichtet und die Redaktionsgeschichte
der diachronen Lektüre zugeordnet?) grundsätzliche Anfragen
unumgänglich. Das Textmodell dieses Methodenbuches geht
vom Primat der Synchronie gegenüber der Diachronie aus (vgl. S. 74).
Diese Entscheidung ist schon aus linguistischer Sicht fragwürdig, denn
„die Sprache funktioniert synchronisch und bildet sich diachronisch.
Doch sind diese Begriffe weder antinomisch noch widersprüchlich,
weil das Werden der Sprache sich auf das Funktionieren hin verwirklicht
."' Nicht Vorordnung der Synchronie, sondern Zuordnung von
Diachronie und Synchronie wird dem Wechselverhältnis von Werden
und Sosein des Textes gerecht. Die historisch-kritische Methode verfügt
deshalb über das angemessenere Textmodell, indem sie davon
ausgeht, daß der Jetzttext einer ntl. Schrift nur dann sachgemäß verstanden
werden kann, wenn zunächst der geschichtliche Werdegang
der einzelnen Texteinheiten herausgearbeitet wird. Erst diese Analyse
ermöglicht den Einblick in die Geschichte des Textes, illustriert sein
Gewordensein, um dann auf der synchronen Ebene sein Sachanlicgen
zu erheben (Redaktionsgeschichte). Die linguistischen Methoden
führen vielfach zu einer Präzisierung der Fragestellung und sind insofern
als Ergänzung der herkömmlichen Methodenschritte zu begrüßen
. Keineswegs können sie aber den Methoden der historischkritischen
Exegese einfach vor- und damit übergeordnet werden, wie
es in diesem Melhodenbuch geschieht.

Erlangen Udo Schnelle

' Coseriu, E., Synchronie. Diachronie und Geschichte. München 1974,
237.

Kirchengeschichte: Mittelalter

Stürner, Wolfgang: Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die
Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staats-
denkeh. Sigmaringen: Thorbecke 1987. 276 S„ 1 Farbtaf. gr. 8' =
Beiträge zurGeschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 1 1. Lw.
DM 80,-.

In der Alten Kirche und im Mittelalter sah man durchweg einen
Zusammenhang „zwischen der Existenz der fürstlichen Herrschaft
und der Abkehr der Menschen von Gott. . ." (29). Irenäus äußert den
Gedanken, daß die Menschen durch ihren Abfall die Furcht vor Gott
verloren und verwilderten. „Um sie wenigstens durch die Furcht vor
Menschen zu bändigen, unterwarf Gott sie menschlicher Gewalt und
ihrem Gesetz; diese Bindung sollte ihren zügellosen Umgang miteinander
mäßigen und einen gewissen Grad von Gerechtigkeit unter
ihnen sichern." (39) Tertullian hielt die heidnisch-römische Herrschaft
für nötig. Sie stellt „sich gegen das Böse, gegen Sünde und Zerstörung
". Freilich sieht er in ihr auch einen „bösen, dämonischen
Wesenszug" (47). Origenes bezeichnet bei der Auslegung von Rom 13
die Obrigkeit „als eine von Gott verfügte Strafe für die Sünden der
Menschen und zugleich doch auch fast als eine Notwendigkeit angesichts
der zerstörerischen Gewalt dieser Sünden" (51). Gregor von
Nazianz und Chrysostomus kennen christliche Herrscher, doch bleiben
sie auf Distanz. Theodorct von Cyrus erinnert an Ambrosius und
Theodosius, d. h. an „den übergeordneten Rang des Priesters in der
Kirche selbst dem kaiserlichen Laien gegenüber" (57). Der Ambrosiaster
mißt in der Erklärung von Rom 13,4 der Obrigkeit „offenbar
eine sehr weitgehende heilsgeschichtliche Funktion bei" (60). Zusammenfassend
sagt S. über die älteren Kirchenväter: Sie gehen „seit
Irenäus einhellig von einem engen kausalen Zusammenhang zwischen
der Sündhaftigkeit der Menschen und dem Entstehen einer herrschaftlich
strukturierten Ordnung unter ihnen aus . . ." (64). Für heidnische
und christliche Kaiser gilt, „daß die herrschaftliche Macht von Gott
stamme und dessen Gerechtigkeit unter den sündigen Menschen
durchsetzen solle" (66). Augustins Unterscheidung von Gottesstaat
und Weltstaat vertieft den Gegensatz; er teilt „noch immer die
Zurückhaltung früherer Kirchenväter auch der christlichen Obrigkeit
gegenüber" (85). Um 600 gehört die Potestas „für Gregor nicht, wie
für Augustin oder Tertullian, wesensmäßig zum Bereich des Bösen".
Vielmehr hat Gott „die Obrigkeit von ihrem Anfang an als ein Instrument
der Hilfe und Rettung eingerichtet" (89). Christliche Herrscher
helfen bei der Ausbreitung des Glaubens und schützen die Kirche
Noch deutlicher meint Isidor von Sevilla: Christus vertraute die
Kirche „dem besonderen Schutz der Fürsten an, damit sie pax und
diseiplina in ihr mehrten, und die prineipes saeculi werden ihm einst
Rechenschaft darüber ablegen müssen" (99). Gregor I. und Isidor verbanden
„ihre aktuelle Erfahrung von der fast selbstverständlichen
Realität christlicher Herrscher gerade auch in den jungen Germanen-
reichen" mit jener Sicht, „die die Herrschaft schon wesensmäßig auf
Gott bezog" (101). Vom 8.-1 1. Jh. fragte man nach den Tugenden der
Fürsten, weniger „nach dem Zusammenhang der herrscherlichen
Existenz und Stellung mit dem Sündenfall und der menschlichen
Sündhaftigkeit" (103). Alkuin sagt es klar: Christliche Herrscher
„haben ihre Gewalt von Gott, um die Demütigen vor den Bösen zu
schirmen, dem Volk Gottes Frieden zu schaffen und es zum wahren
Glauben zu erziehen" (107). Hinkmar von Reims und Rather von
Verona drängten auf eine „Mahngewalt" der Bischöfe (121). Atto von
Vercelli warnte „vor jedem gewaltsamen Vorgehen gegen die weltlichen
Machthaber, sichert doch auch noch das Dasein des schlechtesten
unter ihnen den Bestand von Gottes Friedensordnung" (122).

Der Investiturstreit brachte eine „Weiterbildung und Radikalisierung
der traditionellen Erklärungsmuster" (12311"). Die Kanones-
sammlungcn übernahmen auch positive Äußerungen von Gregor 1.
und Isidor von Sevilla. Selbst Humbert von Silva Candida schloß sich
an Isidor an, che er den Vorrang der geistlichen vor der weltlichen