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Ausgabe:

1988

Spalte:

264

Kategorie:

Altes Testament

Titel/Untertitel:

Haggai 1988

Rezensent:

Gunneweg, Antonius H. J.

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 4

264

korrespondiere. "His life becomes a vehicle for the event's interpreta-
tion. Jeremiah's life becomes his inessage" (S. 125).

In einem ersten Kapitel, das sich hauptsächlich methodischen Fragen
zuwendet, wird das „biographische Interesse" an den Texten zurückgewiesen
und zwischen "historical figure" and "literary persona"
unterschieden.

Die beiden folgenden Kapitel sind dem „Herzen" als einer
Metapher zum Ausdruck des „Selbst" gewidmet. Jer4,l9 spielt eine
herausragende Rolle, und entschieden wird H. W. Wolfis anatomischphysiologische
Deutung (Anthropologie des Alten Testaments,
München 1973, S. 70t) zurückgewiesen, es werde auf eine „Herzattacke
" angespielt. "For all of Wolffs deep sensitivity as an exegete
elsewhere, this is an instance of literalizing reduetionism in the
extreme"(S. 32).

In dem umfangreichen vierten Kapitel "The Prophetic T and its
Ambiguities" werden nacheinander Jer 10,1711"; 14,1-15,4 und
8,4-9,25 einer ausführlichen Exegese unterzogen. Den erwarteten
Höhepunkt bildet das fünfte Kapitel "The Confcssions: The Prophet
as Exemplar and Metaphor", in dem sich der Vf. mit unterschiedlichen
Gründen gegen die Thesen von A. H. J. Gunneweg und Peter
Welten abzugrenzen versucht. In dem abschließenden sechsten
Kapitel "Summary and Hermeneulical Reflections" versichert Polk
noch einmal: "It matters not whether the compositions are the
produet of the historical Jeremiah himself or later redactors. In my
opinion, it violates the integrity of the text. qua poetry, to replace the
given literary context with the conjectured historical occasion of the
writing process and so to construe the text as referring to authorical
circumstances rather than to the subject as it is literarily defined"
(S. 165).

Solche Äußerungen werden jeden enttäuschen, der im Jeremiabuch
den historischen Jercmia im Ringen mit sich selbst und mit seinem
Gott beobachten möchte. Aber das Korn Wahrheit, das in Polks Buch
über Jeremias Selbstäußerungen steckt, ist die Tatsache, daß auch mit
den Mitteln herkömmlicher „diachroner" Methoden Jercmia als Person
wirklich kaum beizukommen ist. So wenig auch Polk und viele
andere ein persönliches Erleben des Propheten leugnen wollen, das
hinter den Texten steht, die Zuverlässigkeit jeremianischer „Authentizität
" ist nicht zu erreichen. Aber natürlich verlangt der brisante
Inhalt der Texte eine gültige Erklärung, und dazu scheint die Strukturanalyse
mindestens einige Hinweise zu geben.

Hinter den Ich-Sätzen des Jeremiabuches oder der Psalmen stehen
Erfahrungen des Menschen mit Gott, deren exemplarische Geltung
für alle Zeiten nicht in Abrede gestellt werden kann. Insofern darf das
prophetische Ich als Paradigma für die Äußerungen der "prophetic
persona" verstanden werden. Andererseits sollte aber nicht aus dem
Auge verloren werden, daß sich die Ich-Worte des Jeremiabuches
zwar für solche generellen Reflexionen über das Wesen prophetischer
Existenz besonders anbieten, daß aber kaum ein anderes Prophetenbuch
Vergleichbares in so konkreter Weise enthält. Was bewirkte gerade
im Jeremiabuch diese starke Bezogcnheit einiger weniger
Sprüche auf das prophetische „Selbst"? Auch wenn man, wie Polk,
das Buch Jercmia primär als literarisches Produkt begreifen will,
bleibt die Frage, was die erkenntnisleitenden Prinzipien seiner Redaktoren
waren. So wird der Exeget als Literaturwissenschaftlcr und
Strukturalist am Ende doch wieder auf Fragen stoßen, die allein die
diachrone Betrachtungsweise wird hinreichend lösen können.

Der Hinweis darauf, daß die individuelle Erfahrung in der Jeremia-
zeit eine Rolle zu spielen begann und selbst zum Gegenstand prophetischer
Reflexion werden konnte, ist gewiß richtig, bestätigt aber die
Zeitbezogenhcit und Zeitgcbundcnheit prophetischer Rede und ebenso
ihres literarischen Niederschlages. So gesehen, kann auf die diachrone
Betrachtungsweise nicht verzichtet werden, die auch Strukturen
als zeitgebundene und wandlungslähige Erscheinungen verstehen
lehrt.

Wolff, Flans Walter: Dodckapropheton 6: llaggai. Neukirchen-
Vluyn: Neukirchener Verlag 1986. IX, 100 S. gr. 8" = BK AT, XIV.
6. Lw. DM 42,-.

Mehr als ein Vierteljahrhundert arbeitet II. W. Wolffan der Kommentierung
des Zwölfprophetenbuches. Er bleibt dabei dem zuerst bei
Hosea erprobten Ansatz treu, der von Auftrittskizzen als den ältesten
und kleinsten Keimzellen ausgeht, aus denen das Buch heranwuchs.
In solchen Skizzen ist auch die ursprüngliche Verkündigung Haggais
festgehalten. W. rechnet mit fünf Auftritten (1,1-14; 1,15a+2,1 5-19;
[,15b-2,9; 2,10-14; 2.20-23). Die literarische Fixierung dieses
Spruchgutes stammt nicht von Haggai selbst, dessen Ich nie erscheint,
sondern schon von einem Schüler, der nicht nur des Meisters Worte,
sondern auch deren Wirkung auf die Hörer und deren Widerspruch
festhielt (1,2; t,12b—13). Von ihm stammt auch das andersartige
Stück 2.1 1-13, das W. als ..Vorgeschichte" zum folgenden Spruch
auffaßt. Die ipsissima verba werden also von vornherein in einer einleitenden
Bearbeitung präsentiert. Von ihr unterscheidet W. nach
dem Vorgang insbesondere von'W. A. M. Beuken (Haggai-Sacha.ja
1-8. Studien zur Uberlieferungsgcschichte der frühnachexilischen
Prophetic, StSN 10, 1967) den Endredaktor, der als Haggai-Chronist
bezeichnet wird. Auf ihn geht die Endgestalt des Buches zurück, das
jetzt eine genau datierte Haggai-Chronik darstellt. Erst deren Autor
hat die - ja auch sonst oft vermutete - Umstellung von 2,15-19 von
dem ursprünglichen Ort hinter 1,15a vorgenommen. Diese Umstellung
ist nicht, wie etwa O. Kaiser vorschlug (Einleitung' 1984. S. 186).
dadurch zu erklären, daß der Bearbeiter das Buch nicht mil einem
negativen Urteil über das Volk, wie es im vorangegangenen Abschnitt
ja ausgesprochen wird, abschließen wollte; ihm war vielmehr daran
gelegen, daß erst nach Abweisung der „unreinen" Sa maritaner als
Mitarbeiter bei den Restaurationsarbeiten der legitime Tempelbau
beginnen konnte.

Zwei Anfragen seien hier formuliert: Die erste betrifft - noch einmal
- die Frage nach dem „unreinen Volk" von 2,10-14. W. dürfte
darin recht haben, daß er entgegen anderen Identifizierungsversuchen
an der alten Ansicht, wie sie J. W. Rothstein 1908 mit guten Argumenten
untermauert hat, festhält und das unreine Volk mit den Samaritern
gleichsetzt. Die Erzählung von Esra 4,1-5 spricht allein schon
für diese Gleichsetzung. Allein, damit zeigt der ganze Abschnitt doch
seine geistige Nähe zum Chronisten; er vertritt genau dessen antisa-
maritanische Haltung, eine Einstellung, die in dieser Schärfe überhaupt
späteren Datums ist. Es ist von daher erstaunlich, daß bei der
langen Debatte über 2,10-14 die Frage nach der Echtheit nie ernsthaft
in Erwägung gezogen wurde (aber vgl. demnächst hierzu Tim Ungcr in
derZAW).

Hiermit hängt eine zweite, grundsätzlichere Frage zusammen:
Sollte nicht, wenn schon richtigerweise eine chronikartige Rahmung
des Buches formaj so deutlich herausgearbeitet wird, wie es W. tut.
noch präziser nach dem Profil dieser Schicht gefragt werden? W. geht
in seiner Einleitung zu seinem Kommentar in § 5 ausschließlich auf
Haggais eigene Botschaft ein. Das ist erstaunlich, da doch überhaupt
gegenwärtig auch die Bedeutung der kanonischen Endgestalt mit
Recht mehr Beachtung findet. Tatsächlich unterscheidet sich die
Haggai-Chronik nicht nur formal von Haggais ursprünglicher Botschaft
, sondern sie liegt inhaltlich auf der Linie des chronistischen
Werkes, kurz gefaßt: Haggais Botschaft lautete: „Jahwe kommt,
darum baut ihm sein Haus!" Die Bearbeitungjedoch ist bestrebt, diese
eschatologischc Botschall umzubiegen in den Aufruf: „Baut den
Tempel, dann wird Jahwe kommen und darin wohnen!"

Diese Anfragen wollen jedoch nur die weitere Forschung an diesem
kleinen, aber theologisch interessanten Büchlein anregen. Sie schmälern
den Wert dieses neuesten Kommentars von W. nicht. Wie
in den vorangegangenen Bänden bietet er auch hier keine bloße Philologie
und Historie, sondern bleibt um die biblische Botschaft bemüht
.

Hoch um

Siegfried Herrmann

lionn

Antonia! H. J. Gunneweg