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Ausgabe:

1988

Spalte:

204-205

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Paul Tillich, sein Werk 1988

Rezensent:

Glöckner, Reinhard

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 3

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gesetzter am Gymnasium, den die Vindicatio ebenfalls öfter beipflichtend
zitiert - und Johann Hübner, Rektor der benachbarten Lateinschule
Johanneum, fugten sich in ihrem Amt der orthodoxen Kon-
venienz, während sie durch ihre Schriften der Aufklärung europaweit
die Tore öffneten, Fabricius als international anerkannte Koryphäe
frühaufklärerischer Altphilologie, Hübner als Begründer der Populäraufklärung
im europäischen Maßstab.1 Fabricius und Hübner, die
wie R. beide von der mitteldeutschen Aufklärung herkamen, waren
mit ihrem Kryptorationalismus seine Modelle aus der älteren Generation
.

Wichtigster Anhaltspunkt für die Kontinuität seines verkappten
Rationalismus in Fabricius' und Hübners Spuren ist, daß er bis an
sein Lebensende eine analoge Haltung wie 1731 einnahm. Auf die
Beibehaltung der Linie der Vindicatio über die Wandlungen von
1735/36 hinaus deutet zunächst, daß er dieses Kolleg 1737 nochmals
hielt. Auch seine öffentliche Vorlesung „Hermeneutica sacra" (1736)
und die gleichnamige Übung (1742) weisen auf die Fortdauer seiner
Pseudoorthodoxie nach 1735 hin; denn die orthodoxe Hermeneutica
sacra war die ostentative Methodologie der Vindicatio. Über 2 Jahrzehnte
hat er danach an der ketzerischen Schutzschrift gearbeitet, aber
seine Heterodoxie weiterhin geheimgehalten.

All das macht deutlich, daß zwischen dem Vf. der Vindicatio von
1731 und dem späteren Deisten kein essentieller Unterschied bestand.
Sein Doppelleben war durchaus nicht ungewöhnlich. Selbst das Wöll-
nersche Religionsedikt, das orthodoxe Konformität befahl, schränkte
dieses Verlangen auf die äußere Bekundung konfessioneller Rechtgläubigkeit
ein und konzedierte innere persönliche Gedankenfreiheit.
Sogar ein so kritischer Aufklärungstheologe wie Semler akzeptierte
die Doktrin vom zweierlei Glauben (öffentlichem und privatem) und
suchte sie in einer besonderen Schrift zu rechtfertigen: Man könne
innerlich eine andere Überzeugung haben als die, die man von Kanzel
und Katheder vertrete.

Auf keinen Fall war R. 1731 noch so dogmengläubig, wie es in der
Vindicatio den Anschein hat. Den orthodoxen Buchstabenglauben
hat er in ihr ausdrücklich fallenlassen. Seine methodologische Grundposition
vom allegorisch-mystischen Sinn der Bibel gab den strengen
Literalismus prinzipiell preis. Sie ist das Hauptargument der Vindicatio
gegen die Anzweiflung von Weissagungen, Offenbarungen und
Wundern durch Unitarier, Arminianer, Spinozisten, Deisten, gegen
alle Spielarten des theologischen Rationalismus.

Das Janusgesicht des R., das man nicht als Doppelzüngigkeit
abwerten sollte, war auch im Gesamtzusammenhang von Reformation
und Aufklärung eine typische Erscheinung. Das Cujus regio, ejus
religio zwang Unzählige zum latenten Nonkonformismus. Unter dem
obrigkeitlichen Gewissenszwang wurde Nikodemismus (verdeckter
Nonkonformismus) zur verbreitetsten Daseinsform radikaler Reformation
und radikaler Aufklärung. In ihm berührte sich der verkappte
Rationalist z. B. mit dem erzgebirgischen Pfarrer Valentin Weigel,
dessen mystisch-spiritualistische Ketzereien ebenfalls erst nach
seinem Tod zum Vorschein kamen und ihn berühmt machten." Für
beide gilt Bahrdts Wort (wie auch für ihn selbst), daß man von ihnen
noch nach Jahrhunderten liest, während die meisten „großen und
kleinen Schreier" wider sie längst vergessen sind. Latente Nonkonfor-
misten wie Weigel und R. haben namentlich durch ihre postmortale
Wirkung in derGeschichte des religiösen Denkens Bedeutung erlangt.
Der'Kryptorationalist R. nimmt darin ebenso einen festen Platz ein
wie der Kryptospiritualist Weigel. Wenige Aufklärer haben in der
Zwangslage, ihre wirkliche Meinung ständig verbergen zu müssen, so
viel für Religions- und Wissenschaftsgeschichte geleistet wie dieser
Klassiker des theologischen Rationalismus.

Nikodemit einer Vernunftreligion, bei dem Außenseite und religiöses
Innenleben auseinanderklafften, war R. schon vor 1731. Sein Kolleg
von 1731 ist die konformistische Arbeit eines heimlichen Non-
konformisten. Aus ihr spricht ein Schulmann und Exeget, der für
seine Hörer nach Weissagungen und Zeichen forschte, denen er selbst
nicht mehr recht traute. Die Wahl des Themas zeigt zugleich den nach

Erkenntnis strebenden Denker, dem es auch um eigene Gewißheit
ging, um seinen Glauben. So ist die Hamburger Vorlesung eins von
vielen Dokumenten der orthodoxen Einbindung werdender Aufklärungstheologie
, die zu diesem Zeitpunkt bei R. noch nicht voll ausgereift
war.

Halle (Saale) Günter Miihlpfordt

' [Karl Friedrich Bahrdt]: Kirchen- und Ketzeralmanach. 1781, [Züllichau
1780], I4l;dass. 1787,[Berlin 1787], 153.

2 Handschriftenverzeichnis u. Bibliographie H. S. Reimarus, Hg. Wilhelm
Schmidt-Biggemann, Göttingen 1979.

3 In der ThLZ behandelte Harald Schultze „Das Hauptwerk des Reimarus"
(103,1978,706-713).

4 A.a.O.[Anm. l]141fbzw. 153.

s Bahrdt, System der moralischen Religion I, Berlin 1787, 54; 4. Aufl.
1797.

6 Bahrdts Geschichte seines Lebens 4, Berlin 1791 u. Neuausgaben Stuttgart
/Leipzig 1987fl", 124.

' Seine Lebensdaten (1695-1768) sind hier nirgends angeführt, bedauerlicherweise
, da sie sonst allgemein inkorrekt angegeben werden (Geburtsjahr
nach altem, Todesjahr nach neuem Kalender, das Todesjahr z. T. falsch).

8 2Bde, Hg. Gerhard Alexander, Frankfurt/M. 1972.

* In Einleitung und Register nicht von Johann Jakob Rambach d. M. und
Johann Jakob Rambach d. J. unterschieden. i

10 Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei
H. S. Reimarus, Göttingen 1983 (= Veröffentlichung der Jungius-Gesellschaft
48); besprochen v. Wolfgang Gericke, ThLZ III, 1986, 53, u. v. Franklin Ko-
pitzsch, in:Zs. f. Hamburgische Gesch. 71, 1985, 298; dort 70, 1984, 301 ders.
über die Ausgabe.

" Der Namenweiser ist allerdings wenig informativ. Daß nur die Anfangsbuchstaben
der Vornamen angegeben sind - ohne Lebensdaten, Fach/Beruf.
Ort oder Richtung - kann zu Verwechslungen zwischen Doppelgängern (Namensvettern
) fuhren, so bei der verbreiteten, aber zwecklosen halben Abkürzung
„Chr." (dem einzigen Fall, wo mehr als der Anlaut angeführt ist) zwischen
den Antipoden Christian WolflD (1679-1754) und Christoph Wolf
(1683-1739). Die erforderliche Unterscheidung Namensgleicher durch
„d. Ä.", „d.M.", „d. J." oder „I", „II", „III", „IV" unterblieb bis auf eine
Ausnahme. So ist bei „Carpzov, J. B." nicht zu ersehen, welcher der 4 lutherischen
Theologen namens Johann Benedikt Carpzov gemeint war. (Es handelt
sich um J. B. Carpzov II.)

12 Vgl. Günter Mühlpfordt: Das Stichjahr 1735. Zur Differenzierung der
Wolffschen Schule, WZ Halle-Wittenberg (G) 30, 1981, Nr. 1; analog ders.,
Jungwolffianer, DZPh 30, 1982, Nr. I u. ders., Radikaler Wolmanismus, in:
Christian WolfT, Hamburg 1983,2. Aufl. 1986.

" Ders., Vorboten der Aufklärung. Frührationalismus, in: Renaissance und
Humanismus in Mittel- und Osteuropa 2, Hg. J. Irmscher, Berlin 1962.

14 Vgl. meine Ausführungen, DLZ 99, 1978, Nr. 12,815.

Vgl. Werner Schneiders: Vernunftlehre, in: Reimarus, Hg. W.Walter/
L. Borinski, Göttingen 1980,75.81.83.

Vgl. zur Leipzig-Wittenberger Schule von Albert Fabricius und Christoph
Wolf am Hamburger Gymnasium: G. Mühlpfordt, WZ Berlin (G) 17, 1968,
Nr. 2.

S. 27 (BrieO- 90 u. Zusammenstellung S. 234. Die in Kopenhagen befindliche
Handschrift ist mit Vorlesungen von Fabricius und Wolf zusammengebunden
.

'* Vgl. meinen Aufsatz: Populäraufklärung als Bildungsmacht. J. Hübner,
Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg 1983/21 (C 28);
über Fabricius s. oben Anm. 16.

" Vgl. meine Weigel-Bespr., DLZ 102,1981, Nr. 2,107.

Albrecht, Renate, u. Werner Schiißler [Hg.]: Paul Tillich. Sein Werk.
Düsseldorf: Patmos 1986. 224 S. 8 Kart. DM 39,80.

1976 erschien bei Harpcr& Row, New York, das Buch Paul Tillich
: His Life and Thought, Vol. I: Life (deutsch in Stuttgart 1978, s.
ThLZ 105, 1980, 173-176). Die Autoren Wilhelm und Marion Pauck
legten damit eine im amerikanischen Stil gut lesbare Biographie vor,
zu deren Einzelheiten manches anzumerken wäre. Zum 2. Band:
Thought/Denken ist es nicht gekommen. An dessen Stelle legen nun