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Ausgabe:

1988

Spalte:

199-204

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reimarus, Hermann Samuel

Titel/Untertitel:

Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1988

Rezensent:

Mühlpfordt, Günter

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199

Theologische Literaturzeitung 1 13. Jahrgang 1988 Nr. 3

200

Kapitel 3 ist überschrieben: die Unterscheidung des Einen - auf
dem Weg zur Trinität. Hier ist hervorzuheben die Bemühung, das
nihil, das intelligere und die Gottheit bei Eckhart zu verstehen. Vf.
geht dabei umsichtig mit der Problemgeschichte um.

Kapitel 4 nimmt das Thema der Studie auf: Trinität und Denken:
Die Unterscheidung Gott-Mensch-Kreatur. Aus der oben erwähnten
These dürfte sich schon ergeben haben, daß Vf. Eckhart am Anfang
der Reflexion der Subjektivität in der Neuzeit sieht. Gott und Mensch
sind Intellekt, also Ursprung, Wort und deren Einheit. Gott und
Mensch sind als Intellekt ein und dieselbe trinitarische Beziehung.
Dieses Ergebnis wird abschließend in die Problemgeschichte eingeordnet
, Eckhart wird in Schutz genommen gegenüber Vorwürfen, er
werde der Freiheit Gottes nicht gerecht, opfere die Personalität des
Menschen, verliere die Wirklichkeit der Welt. Vf. sieht in der Theologie
der Gegenwart einen Funktionsverlust des Trinitätsdogmas und
entdeckt bei Eckhart, dessen Aussagen über Gott seien zugleich Aussagen
über den Menschen und über das Verhältnis von Gott und
Mensch.

Die Studie ist präzis, dem Historiker wie dem Prediger bleibt sie
etwas schuldig: die Betroffenheit, die noch von der schriftlichen Predigtüberlieferung
Eckharts ausgeht. B. Welte nannte sein Eckhartbuch
auch: Gedanken zu seinen Gedanken; aber er vermittelt mehr als
klare Begriffe. Vf. weiß auch, daß Trinität nicht nur Glaubens- oder
Gedankeninhalt ist, sondern Vollzug des Denkens selbst, weiß, daß
Entsprechung von Ethos und Ontologie charakteristisch ist für Eckharts
Theorie, aber die Präzision seines Denkens vermittelt das noch
nicht. Das läßt sich als methodische Beschränkung verstehen, aber im
Gespräch mit dem „Denken" etwa bei Hegel oder in der Mitte unseres
Jahrhunderts wird sich ein Satz wie dieser in Eckharts Art füllen lassen
: „der Glaubende verläßt sich im Denken auf das Für-ihn-Dasein
Gottes" (S. 150).

Rostock Peter Heidrich

Reimarus, Hermann Samuel: Vindicatio dictorum Veteris Testamenti
in Novo allegatorum 1731. Text der Pars I und Conspectus der
Pars II. Hg„ eingel. und mit Anmerkungen versehen von P. Stemmer
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. 236 S. 8° = Hermann
Samuel Reimarus Gesammelte Schriften, geb. DM 56,-.

„Reimarus war einer der größten Köpfe seiner Zeit", urteilte der
Aufklärungstheologe Karl F. Bahrdt. Seine „Schriften werden noch
Jahrhunderte gelesen werden", sagte Barhrdt voraus.1 Diese Erwartung
traf ein. Die Reimarus-Renaissance der Gegenwart ist eine Bestätigung
von Bahrdts Prognose. Am Ende vorliegender Edition sind 17
Bücher von und über R. allein aus den Jahren 1967-83 verzeichnet,
darunter 6 Werkausgaben und eine Reimarus-Bibliographie von
143 S.2 In den letzten 20 Jahren erschienen mehr Reimariana als zuvor
in einem halben Jh.3 Maßgeblichen Anteil daran haben die zwei
Institutionen, die auch Träger dieser Textausgabe sind: die Jungius-
Gesellschaft in Hamburg und die Lessing-Akademie in Wolfenbüttel.
Beide haben wertvolles Erbe der deutschen Aufklärung - gerade auch
ihrer Theologie - wieder lebendig gemacht.

Bahrdt, von Albert Schweitzer wie R. als Begründer der Leben-
Jesu-Forschung gewürdigt, ging allerdings nicht in allem mit dessen
Historisierung und Psychologisierung der Bibel konform. Er rügte
seine Unterstellung, Christus habe König der Juden werden wollen.
Bahrdt fand, daß „Jesus zu weise und zu gut war, um nach einer
jüdischen Krone zu trachten".4 R. habe ihm, dem der Sinn nicht
„nach Königswürde oder Herrschaft" stand , diesen „armseligen
Zweck angedichtet".6

Einen ganz anderen Reimarus zeigt das Vorlesungs-Ms. von 1731,
das nach einem Vierteljahrtausend jetzt als Erstdruck von 1983 greifbar
ist. Diese „Vindicatio" (Verteidigung) des 36jährigen7 läßt den
künftigen Vf. der „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen

Verehrer Gottes"8 - dieses klassischen Werkes des theologischen
Rationalismus, das durch Lessings Fragmente daraus Furore machte -
noch kaum ahnen. „Vindicatio" und „Schutzschrift" haben zwar den
apologetischen Grundzug und eine scharfsinnige Beweisführung gemeinsam
, zielen aber in entgegengesetzte Richtung: Während die
Schutzschrift den Deismus als einzig vernünftige Religion zu erweisen
sucht, will die Vindicatio die Erfüllung der messianischen Verheißungen
des AT im NT evident machen und damit einen fundamentalen
orthodoxen Schriftbeweis führen. Demgemäß ist ihr Ergebnis a
priori festgelegt. Doch verfahrt der Vf. methodisch sauber. Er hält sich
an das vorgegebene dogmatische Argumentationsschema der Herme-
neutica sacra. Darin folgt er den lutherischen Hermeneuten Salomon
Glass (Jena, 1593-1656) und Johann Jakob Rambach (d. Ä„* Halle,
1693-1735). Die zugrunde gelegten Werke beider waren in Jena, seinem
ersten Studienort, erschienen (1633-36 bzw. 1723). Die Vindicatio
packt ein exegetisches Grundproblem an: das Fortleben des AT
im NT, woran alle Versuche, das AT wegen seiner dem Christentum
wesensfremden Bestandteile aus dem christlichen Kanon auszuschei- i
den, gescheitert sind. Dem Einwand von Arminianern wie Grotius
und Deisten wie CoIIins, keine Stelle des AT deute direkt auf Jesus,
begegnet R. damit, daß er neben dem buchstäblichen einen allergo-
risch-mystischen Sinn der Bibel voraussetzt. Rationalistische Bibelkritik
vermeidet er im gedruckten Teil. Seine Rationalität äußert sich
nicht als Inhaltskritik, sondern wird der Konkordanz und Harmoni- ,
sierung von NT und AT dienstbar gemacht. Kritisches ist allenfalls
zwischen den Zeilen zu spüren. Nur keimhart kündigt sich der Radikalaufklärer
der Schutzschrift an, wenn das Bewußtsein biblischer
Widersprüche durchschimmert, die tunlichst ausgeräumt werden
(sowohl innerhalb des NT wie zwischen NT und AT). Dem Interesse
der Zeit für Genealogie entsprechend beginnt Pars II mit dem Herkunftsmythos
, wobei die Differenz zwischen Matthäus und Lukas die
Aufmerksamkeit des Vf. findet. Ein abschließendes Gesamturteil wird
dadurch erschwert, daß vom umfangreicheren 2. Teil, der die konkrete
Exegese enthält, nur die Gliederung abgedruckt ist. Abermals
also ein Reimarus-Bruchstück, jedoch ein von den Wolfcnbütteler
Fragmenten grundverschiedenes.

Peter Stemmer ist mit Akribie und Umsicht zu Werke gegangen.
Um Konsequenz bemüht, wo der Autor sie vermissen läßt, hat er doch
nur behutsam in den Text eingegriffen, so daß dessen Eigenart voll
gewahrt bleibt und eine im ganzen mustergültige Edition entstand.
Der editorische Apparat ist knapp gehalten, da St. eine gesondert
erschienene Untersuchung, seine Bochumer Diss., vorgelegt hat, die
der Benutzer der Textausgabe als Kommentarband zur Hand nehmen
sollte.1" Abgekürzt zitierte Literatur hat er eruiert und neben dem Personen
- ein Bibelstellenregister beigegeben." Schriftproben aus eigenhändigen
Papieren machen glaubhaft, daß entgegen bisheriger Annahme
das Ms. nicht Nachschrift eines Hörers ist, auch nicht Diktat
oder Abschrift von anderer Hand, sondern Autograph, und zwar
Reinschrift, da, andeTS als in den für den Schriftvergleich beigefügten
Stücken (Redekonzept, Aufzeichnung), Korrekturen fehlen. Man hat
also keine hingeworfenen Gedanken eines ersten Entwurfs vor sich,
vielmehr „gesiebte", in ausgefeilter Formulierung, die von möglichen
Verstößen gesäubert wurde. Das ist bei der Beurteilung des Textes zu
beachten. Die Behauptung des Hg., R. habe als erster zwischen Lehre
Jesu und Lehre der Apostel unterschieden, ist dahin zu verstehen, daß
R. der erste war, der beide gegensätzlich interpretierte (18).

Zutreffend St. s Feststellung, daß die Vindicatio „mit den maßgeblichen
Hermeneutiken der lutherischen Orthodoxie . . . übereinstimmt
" (14). Er nimmt daher an, daß ihr Vf. 1731 noch orthodox
gesinnt war. Den „naheliegenden Verdacht, R. habe . . . zwar orthodoxe
Positionen vorgetragen, sei aber heimlich mit den Deisten ... in
der Überzeugung von der Unhaltbarkeit der orthodoxen Theologie
einig gewesen", verneint er (16 A. 23). Nicht ersichtlich wird aus dem
gedruckten Textteil, daß dem Vf. bei seinem Bemühen um orthodoxe
Beweisfindung Zweifel gekommen oder geblieben waren und daß er
gegenteilige eigene Ansichten verdeckte.