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Ausgabe:

1988

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 3

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das androgyne Modell, den integrierten Menschen schon im Blick gehabt
. Wir lesen, wie in Hildegards Geschichtsdeutung das tempus
muliebris debilitatis zu verstehen ist. Wir werden auf weibliche Züge
in Hildegards Gottesbild aufmerksam gemacht.

Ulrich Köpf (München) gelingt ein anschaulicher Vortrag über die
Mystik im Denken Bernhards von Clairvaux, eine schöne Auswahl
von Canticum-Predigten ist beigegeben. Daß dieser Aufsatz in die
Sammlung aufgenommen wurde, wird mit der Bedeutung der Hohelied
-Predigten begründet, für die Frage nach spezifisch weiblicher
Glaubenserfahrung gewinnt man auch nicht e contrario etwas.

Mit Otto Langers (Bielefeld) Aufsatz über Meister Eckarts Lehre
von der Gottesgeburt und-vom Durchbruch in die Gottheit und seine
Kritik mystischer Erfahrung geht es dem Leser im Blick auf diese
Fragestellung genauso. Der zuverlässig gearbeitete, instruktive Aufsatz
reflektiert nicht einmal, ob Eckharts Predigt in Frauenklöstern für
seine eigene Art der Erfahrung und Rede relevant ist. Den Aufsatz
liest man mit Gewinn. Die Textbeigaben sind übrigens bei allen Aufsätzen
im Original und guter Übersetzung geboten.

Margot Schmidt (Eichstätt) verdanken wir den Beitrag über „die
spilende minneviut", der Eros als Sein und Wirkkraft in der Trinität
bei Mechthild von Magdeburg. Die Bilder in Mechthilds erfahrungsgesättigter
Sprache werden in ihrer Tradition beleuchtet, bei den
Kirchenvätern etwa oder bei Plato. Für uns gelehrte Sammler ist es
wichtig, uns solcher Tradition bewußt sein zu können, Tür Mechthild
selbst ist das mindestens weniger wichtig, wenn sie schreibt, was sie
bewegt. Brauchte sie, hatte sie Kenntnis von der schriftlichen Überlieferung
, in die sie für den Historiker selbstverständlich hineingehört
?

Jörg Jungmayr (Berlin) widmet Caterina von Siena einen hochinteressanten
Aufsatz. Er zieht die Bedingungen der Gesellschaft des
14. Jh. in seine Darstellung und Deutung hinein und macht sichtbar,
wie komplex die Beziehung von Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung
waren und sind.

Der letzte Beitrag stammt von John P. H. Clark (Northumberland,
England) und behandelt die Vorstellung der Mutterschaft Gottes im
Trinitätsglauben der Juliane von Norwich. In Christus offenbart sich
Gottes Mutterschaft als Schöpfung, Erlösung und Heilswirken. Jesus
unsere wahre Mutter: das ist ein Aspekt, der dem Leser anschaulich
vorgeführt wird.

Vier Bildbeigaben und ein ausführliches Personenverzeichnis bereichern
den Band.

Rostock Peter Heidrich

Eberhard, Winfried: Entstehungsbedingungen für öffentliche Toleranz am
Beispiel des FCuttenberger Religionsfriedens von 1485 (CV 29, 1986,
129-154).

Kirchengeschichte: Neuzeit

Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven
. Übers, von M. Wesemann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1987.291 S. kl. 8° = UTB, 1425. Kart. DM 27,80.

Je näher uns eine geschichtliche Epoche ist, desto deutlicher erkennen
wir im Spiegel der Vergangenheit unsere eigenen Probleme. „Wer
Theologe ist, muß überlegen, was das Erbe des 19. Jahrhunderts für
uns bedeutet." So begründet der Vf., warum er, obwohl nicht auf das
19. Jh. spezialisiert, doch ein Buch über diese Periode veröffentlicht.
Es brauchte nicht diese ausdrückliche Rechtfertigung. Die vorgelegte
Arbeit spricht für sich selbst. Sie wagt einen Gesamtüberblick über die
europäische Kirchengeschichte des 19. Jh. Dabei wird die allgemeine
Geschichte, nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische
und die soziale Entwicklung breit mit berücksichtigt. Das 19. Jh. wird
dabei als eigene Epoche erfaßt, die durch die französische Revolution
1789 einerseits, durch den Ausbruch des Weltkriegs 1914 andererseits

begrenzt ist. Hier liegen in der Tat tiefgreifende Einschnitte vor, die
eine derartige Abgrenzung rechtfertigen.

Die drei Kapitel der Darstellung sind überschrieben: „Revolution
und Restauration (1789 - 1830/35)", „Liberalismus und Konservatismus
(1830/35 - 1870)", „Positivismus und Sozialismus (1870 -
1914)". Die Kirche ist hier nicht wie in anderen Zeiten des Abendlandes
die Größe, durch die das geschichtliche Geschehen bestimmt
oder doch entscheidend mitbestimmt wird, so daß dann auch die Geschichte
von kirchlichen Entwicklungen her strukturiert werden
kann; vielmehr reagiert die Kirche in dem beschriebenen Zeitraum
auf durch andere Faktoren bestimmte Entwicklungen: Das deutet
diese Einteilung an. Grane versucht dabei eine Gesamtcharakterisik
der Epoche. Kennzeichen des 19. Jh. sei der Zusammenhang zwischen
den Massenbewegungen und der Säkularisierung, und die
Kirchen mußten es lernen, sich in dieser Zeit zurechtzufinden.

In den einzelnen Kapiteln ist jeweils eine Skizze der politischen und
sozialen Veränderungen Ausgangspunkt der Darlegungen. Und den
Abschluß bilden jeweils Untersuchungen zur Theologie des behandelten
Zeitraums. Denn Theologie sei eine Widerspiegelung der fundamentalen
Probleme der Kirche im 19. Jh. Freilich liegt das Schwergewicht
dann doch zu Recht auf den Vorgängen innerhalb der
Kirchen bzw. auf der Auseinandersetzung der sich verändernden Gesellschaft
mit den Kirchen und umgekehrt dem Eingehen der Kirchen
auf diese Veränderungen. Gerade diese Wechselwirkung, die freilich
häufig die Kirche auf der konservativen Seite zeigt, die sich gegen Veränderungen
sperrt und Vergangenes bewahren möchte, wird aufgewiesen
. Dabei nimmt die Darstellung des Katholizismus und die Entwicklung
in den katholischen Ländern einen breiten Raum ein, wie
auch die Entwicklung in Großbritannien verfolgt und dargeboten
wird. Insoweit ist der Untertitel des Buches „Europäische Perspektiven
" zu Recht gewählt. Allenfalls ließe sich fragen, ob in einen
derartigen Überblick nicht auch Ost- und Südosteuropa noch mit einbezogen
werden müßte. Gelegentlich vermißt man diese doch auch
„Europäischen Perspektiven". Doch wäre es vermutlich eine Überforderung
eines einzelnen Autors, wenn man von ihm auch für diesen
Bereich dieselbe profunde Kenntnis verlangte, und ihn dazuhin nötigen
wollte, die komplizierte Aufgabe einer zusammenhängenden Darstellung
noch durch diesen zusätzlichen Stoff zu belasten.

Der Berichterstatter ist durch die Darbietung von Grane an verschiedenen
Stellen herausgefordert worden, eine abweichende Sicht
zu notieren und zu begründen. Das liegt in der Natur der Sache: Eine
derartige Darstellung kann sich nicht einfach mit dem befassen, was
gewesen ist, sondern fragt immer auch danach, wie es weitergehen
soll. Freilich kann eine solche Diskussion im Rahmen einer kurzen
Anzeige nicht geführt werden. So weise ich nur auf eines hin: Die
theologiegeschichtlichen Bemerkungen des letzten Kapitels schließen
mit einer Würdigung von Ernst Troeltsch ab. Dabei liegt das Schwergewicht
auf der Diskussion der Probleme des Historismus durch
Troeltsch. Das Problem „Glaube und Geschichte" in der von
Troeltsch gestellten Form habe die folgende Wende der Theologie
nach dem ersten Weltkrieg, Karl Barth und seine Zeitgenossen, nicht
gelöst. So richtig das ist: Müßte hier nicht die doch gerade durch
Troeltsch so eindringlich gestellte ethische Frage noch stärker mit berücksichtigt
werden? Wie lassen sich die Sachnotwendigkeiten einzelner
Lebensgebiete, etwa Wirtschaft und Politik mit ihrer Eigengesetzlichkeit
, mit der Forderung nach einem gewissensbestimmten
Handeln verbinden? Gerade hier hat Troeltsch doch auf bis heute
offene Fragen hingewiesen, die in gleicher Weise dringlich bleiben wie
das Problem von „Glauben und Geschichte".

Die kurze Anmerkung soll andeuten: Die Darstellung der europäischen
Kirchcngeschichte des 19. Jh. durch Grane ist eine wichtige
Stimme, die nicht nur von dem historisch Interessierten gehört werden
sollte. Wir müssen dem Vf. dankbar sein, daß er in einer Zeit der
Abwendung vom historischen Denken dessen Notwendigkeit und
Fruchtbarkeit so eindrucksvoll herausgestellt hat.

Erlangen Friedrich Mildcnbcrger