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Ausgabe:

1988

Spalte:

191-193

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lindeskog, Gösta

Titel/Untertitel:

Das jüdisch-christliche Problem 1988

Rezensent:

Niebuhr, Karl-Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 3

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Gründungsaufenthalt in Korinth mit der Statthalterschaft des Gallio korreliert
und der Statthalterwechsel von Apg 24,27 auf das Jahr 55 datiert werden kann,
während das Konzil im Jahre 53 stattgefunden haben soll (S. 123).

Bei der Beurteilung der Kollekte (2. Die Kollekte für Jerusalem,
S. 124-127) folgt H. der These von Berger (NTS 1976/77), daß in
Entsprechung zum Almosen der Gottesfürchtigen Tür Israel durch
diese Gabe der Heidenchristen „ihre Unabhängigkeit und zugleich
ihre Verbindung mit Jerusalem anerkannt" werde (S. 125)

Ein Problem sei freilich, warum Paulus an dieser Verbindung mit Jerusalem
lag. Die Argumentation mit dem heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden verfange
eigentlich nicht, da es bei Gott kein Ansehen der Person (Gal 2,6) gibt, von
der Erwählung der Juden nach Rom 3,1 ff; 9,4f nichts übrig bleibe und in
Christus alle Unterschiede aufgehoben sind Gal 3,28 (S. 126). H. übernimmt
darum die problematische These, es sei Paulus bei der Übergabe der Kollekte
um eine öffentliche Demonstration gegangen, mit der die ungläubigen'Juden gereizt
werden sollten: „Die Kollekte für Jerusalem hat mit Israel und seinem Unglauben
zu tun" (S. 127), war also nicht nur eine innerkirchliche Angelegenheit.
Diese „heilsgeschichtliche" Bedeutung der Kollekte soll Paulus aber womöglich
erst allmählich deutlich geworden sein. Dabei verwickelt H. sich freilich in
einen gravierenden Selbstwiderspruch, wenn er das damit begründet, es sei vielleicht
ursprünglich nicht einmal die Absicht des Paulus gewesen, selbst mit
nach Jerusalem zu reisen. Dazu kann er nur auf IKor 16,3-4.6 verweisen
(S. 127). Eben dies aber war doch nach H. der veränderte Reiseplan, während
2Kor 1,15-17 Jerusalem eindeutig als Ziel genannt war - in dem angeblich ursprünglichen
Plan! Das aber würde die hier entwickelte These über die erst allmählich
gewonnene Einsicht des Paulus stören und wird darum ignoriert.

Bedauerlich, aber für den Argumentationsstil H.s kennzeichnend
ist es, daß er trotz Kenntnis der Gegengründe unbeirrt an seiner alten
These von 1973 festhält, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen.
Es gibt in der ganzen Arbeit kaum einen Gedanken, gegen den sich aus
der bereits vorhandenen Literatur nicht stichhaltige Gegengründe anfuhren
ließen, und die wenigen richtigen Gedankengänge werden
durch den Kontext, in den H. sie stellt, pervertiert. Ich bedaure sehr,
daß ich das aus Raumgründen hier nur andeuten konnte. Weil H. nur
seinen Faden spinnt und dabei oft zu geradezu abenteuerlichen
Thesen kommt, halte ich seine Untersuchung für einen wenig förderlichen
Beitrag sowohl zu den Fragen der paulinischen Chronologie als
auch zu dem Stil, in dem theologische Argumentation sich vollziehen
sollte.

Münster Alfred Suhl

Lindeskog, Gösta: Das jüdisch-christliche Problem. Randglossen zu
einer Forschungsepoche. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1986.
241 S., ITaf. gr. 8' = Acta Universitatis Upsaliensis, Historia
Religionum,9. SEK 139.-.

Das Buch des 1984 verstorbenen finnischen Neutestamentiers rundet
ein Lebenswerk ab, das mit der Dissertation über „Die Jesusfrage
im neuzeitlichen Judentum" (1938) einsetzte und (lt. Lit.-Verz.) 29
Veröffentlichungen zum Thema in vier Sprachen umfaßt. Im vorliegenden
Werk versucht L., die Summe zu ziehen aus einer Fülle ein-
. schlägiger exegetischer Literatur von jüdischen und christlichen
Autoren unseres Jahrhunderts.

Die Grundzüge seiner eigenen Position werden bereits in den Prole-
gomena deutlich: Christentum und Judentum sind ihrem Wesen nach
getrennt durch die Christologie. Zwar setzt diese sich aus jüdischen
Bausteinen zusammen, aber „die Architektur des Bauwerkes und
seine Gestaltung sind nicht mit dem Judentum vereinbar" (12). Die
Funktion jüdischer und christlicher Forschung im Zeichen des Dialogs
besteht darin, durch geschichtliches Verständnis den aus dieser
Differenz resultierenden Konflikt abzubauen. Dem ältesten Judenchristentum
kommt zentrale Bedeutung zu, während der hellenistische
Jude Paulus als Architekt des christologischen Gedankensystems
die Weichen zur Entfremdung zwischen Kirche und Synagoge
gestellt hat.

Diese Position wird hauptsächlich in den Kap. III (Der Jude Jesus),
V (Das Judenchristentum), VI (Paulus) und VIII (Messianologie und
Christologie) entwickelt.

Der Jude Jesus erhob mit seiner eschatologischen Botschaft zwar
keinen Messiasanspruch, hatte aber ein einzigartiges Selbst- und
Sendungsbewußtsein. Zu diesem Ergebnis kommt die heutige christliche
Exegese, die sich angesichts der christologischen Krise dem Jesus
der Geschichte und der Verkündigung der ältesten Kirche zuwendet.
L. nennt das „Rejudaisierung" in dem Sinne, „daß dem jüdischen
Glauben Jesu eine kontrollierende Instanz gegenüber der Dominanz
der Christologie eingeräumt wird" (28). Die jüdische Jesusforschung
bemüht sich um eine positive Bewertung Jesu innerhalb der jüdischen
Glaubensgeschichte. Sie ist z. T. bereit, ihm hier einen einzigartigen
Platz (z. B. als charismatischer Chasid) und überzeitliche Bedeutung
(etwa als Erzmärtyrer) einzuräumen.

Das Judenchristentum ist die ursprünglichste Form des Christentums
, das ,jesuanische Judentum" (58) der palästinischen Jesusgemeinde
. Von ihm zeugen im NT die Logienquelle, judenchristliche
Traditionen in Mt und im lk Doppelwerk (Proto-Lk), die Grundschrift
des Joh (nach G-. Richter) sowie Jak, im außerkanonischen
Schrifttum Symmachus, apokryphe Evangelien und die Pseudo-
Klementinen. Seine Kennzeichen sind Monotheismus, radikalisierte
Torafrömmigkeit, Kritik an jüdischen Autoritäten und das Bekenntnis
zum Wirken Jesu und seiner Auferweckung.

Paulus will zwar gesetzestreuer Jude sein, hat aber in Wirklichkeit
„das Wesen und die Struktur des Judentums umgewandelt und das
Gesetz durch eine scheinbar jüdische Schriftdeutung abrogiert" (86).
Alter und neuer Bund stehen bei ihm (anders als Jer 31) im kontradiktorischen
Gegensatz (2Kor 3), das unchristologische AT benutzt er
zur Begründung seiner Christologie. Er polemisiert gegen eine
jüdische Gesetzestheologie, die es weder im AT noch im Judentum
seiner Zeit gibt. Als hellenistischer Diasporajude hat er das Judentum
mißverstanden und radikal unjüdische Ideen in das Christentum eingebracht
.

Am Anfang der mit den Stichworten Messianologie und Christologie
bezeichneten Entwicklung steht die vom Frühjudentum geprägte
palästinische Jesusgemeinde. Der Wandel zur überwiegend hellenistisch
bestimmten Theos-Christologie der Alten Kirche ist erkennbar
an der Aufnahme von Hoheitsprädikaten wie „Sohn" (absolut
), „Kyrios", „Soter", „Logos" oder „Hoherpriester". Eine meta-
basis eis allo genos ist die Gräzisierung „Christos" für „Messias" und
ihre Verwendung als Eigenname. Paulus steht in dieser Entwicklung
nach L. bereits auf der Seite der hellenistisch bestimmten, unjüdischen
Christologie.

Der besondere Wert des Buches besteht darin, daß es die reiche exegetische
Literatur zu Fragen des christlich-jüdischen Dialogs unter
systematisierenden Gesichtspunkten erschließt. Dabei werden standig
Konsequenzen aus exegetischen Ergebnissen für Verlauf und aktuellen
Stand des Dialogs gezogen.

Zweifel kommen mir bei einigen Einschätzungen und Wertungen.
L. greift auf den Begriff „normatives Judentum" zurück und mißt an
ihm christliche Gedankenkomplexe. Dieser Begriff ist gewonnen an
dem Judentum, das sich nach 70 konsolidiert hat. Zwar sind wesentliche
seiner Züge schon für den Pharisäismus vor 70 kennzeichnend,
aber daneben gab es, wie das NT und u. a. Qumran zeigen, durchaus
abweichende jüdische Strömungen. Zumindest für Paulus ist also
dieser Begriff als Norm zu eng.

Eine geradlinige Entwicklung von einer (erst zu rekonstruierenden!)
jüdischen Messianologie der Jesusgemeinde zur hellenistischen
Christologie der Alten Kirche ist schwerlich in der Chronologie und
Geschichte des Urchristentums zu verankern. Die Quellen für das angeblich
ursprüngliche Judenchristentum beruhen fast alle auf z. T.
heftig umstrittenen litcrarkritischen Hypothesen. Und Paulus, der unbestritten
älteste Zeuge, dessen Traditionen z. T. in die früheste Zeit
des Urchristentums hineinreichen, kommt auf der Seite der späteren,
hellenisierten Christologie zu stehen!

Ob schließlich die jüdische „Heimholung" Jesu und die christliche
„Rückfrage" nach ihm in dieselbe Richtung zielen, ist mir zweifelhaft-
Leider ist hier L.s Auswahl aus der gegenwärtigen christlichen Exegese