Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1988

Spalte:

180-181

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wagner, Siegfried

Titel/Untertitel:

Die Menschenfreundlichkeit Gottes 1988

Rezensent:

Preuß, Horst Dietrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

179

Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 3

180

bestimmten institutionellen Funktionsbereieh entstammen und ihm
dienen wollen, dem König und seinem Hof, der Wirtschaft und dem
Recht, dem Kultus und der Religion, aber nicht über das betreffende
Volkstum in seiner Gesamtheit reflektieren und seine Geschichte
unter verschiedenen Aspekten wiedergeben. Dagegen hat Dtr zum
ersten Mal eine solche, aus unterschiedlichen Quellen, Dokumenten
und Überlieferungen gewonnene zusammenfassende Darstellung
geliefert, die Königtum, Religion und Recht als komplementäre
Kräfte im Rahmen des Volksganzen begreift und dadurch zu wirklicher
„Geschichtsschreibung" gelangt, mindestens die unmittelbaren
Voraussetzungen dazu schafft. Ein solches Werk konnte nicht vor
dem 6. Jh. entstehen und setzt die gestaltende Kraft eines einzigen
Verfassers voraus. "There is no such historiography in Samuel -
Kings Prior to the work of the Dtr Historian" (S. 291).

J. van Seters geht noch einen Schritt weiter. Er macht sich die
neuere Debatte über die Pentateuchquellen zunutze, beschränkt J und
P auf den Tetrateuch, läßt J ebenfalls nachexilisch sein und betrachtet
den Tetrateuch als Vorbau und Ergänzung zu Dtr, das er, Noth
folgend, mit dem Deuteronomium beginnen läßt. Der Tetrateuch mit
seinen Landnahmeverheißungen wurde auf das fertige Dtr hin gestaltet
, in dem die Erfüllung, der Besitz des Landes, vorgegeben und bereits
beschrieben war. So erklärt van Seters das komplexe Textcorpus, das
uns in den Geschichtsbüchern von Gen l-2Kön 25 vorliegt, als eine
Komposition von innerer Geschlossenheit, die letztlich aus einer einzigen
Wurzel hervorgegangen ist, aus dem historiographisch-theolo-
gischen Impetus, der der Exilszeit zu verdanken ist.

Man wird die "intellectual form", in die van Seters sein Gedankengebäude
gefaßt hat, bewundern, und man wird auch das Korn Wahrheit
, das in seiner Konzeption steckt, nicht übersehen können. Penta-
teuch und Dtr sind in ihrer Endgestalt nachexilische Werke; aber das
ist nicht neu. Was van Seters behauptet, ist, daß Dtr nicht das Produkt
redaktioneller Komposition von quellenhaften Einzelüberlieferungen
und deren Ergänzungen ist, sondern die selbständige Verarbeitung
von Traditionen aus der Feder eines Autors (oder was auch immer
hinter "the Dtr Historian" steckt), der eine einheitliche Idee vertrat.
Er beabsichtigte eine Selbstidentifikation Israels nach Ablauf seiner
Geschichte bis zum Jahre 586 v. Chr. und bezog alle Einzeltraditionen
auf die Vergangenheit des Volksganzen. "Dtr's purpose, above
all, is to communicate through this story of the people's past a sense of
their identity-and that is the sine qua non of history writing" (S. 359).
Im Sinne Huizingas ist somit die Rechenschaftslegung des Volkes "to
itself of its past" erfolgt.

Ob diese Definition von „Geschichtsschreibung" zutreffend ist, sei
dahingestellt. Schwerer wiegt van Seters' Auffassung vom Zustandekommen
von Dtr. Zwar bestätigt er auf seine Weise die Einheitlichkeit
des Gesamtwerkes, kann aber Noth nicht überzeugend widerlegen,
der am Originalcharakter einzelner Quellenstücke festhielt. Doch, so
moniert van Seters, "Noth did not go far enough. He still attributed
too little of the work to the author himself and too much to his sources
and 'traditions'" (S. 359). Der Nothschen Konzeption näher stehen
die neuerdings von R. Smend, T. Veijola und W. Dietrich gemachten
Versuche, in Dtr verschiedene Bearbeitungsschichten aufzudecken.
Mit diesem methodischen Ansatz setzt sich van Seters jedoch nicht
auseinander, obwohl ihm die einschlägigen Untersuchungen bekannt
sind.

Der Verzicht auf den genauen Nachweis quellenhafter Stücke in Dtr verführt
den Vf. allzu oft zu der undifferenzierten Behauptung, daß ganze Kapitel als das
Werk von Dtr anzusehen seien. Das betrifft besonders solche Kapitel, die für
den Aufbau und das Konzept von Dtr wichtig sind. Mit Recht hatte schon Noth
Redestücke von der Art wie Jos 1.23.24.; lSam 12; IKön 8 und den weitaus
größten Teil von 2Kön 17 als deuteronomistische Arbeit angesprochen und
herausgestellt, nicht zuletzt, weil diese Kapitel in das Geschichtswerk eine
gewisse Periodisierung des Geschichtsablaufs einbringen. Auf diesem Weg geht
van Seters entschieden weiter und nennt beispielsweise die Beschreibung des
Tempels 1 Kön 6.7 "completely the work of Dtr", nämlich nach der Zerstörung
des Tempels 586 v. Chr. (S. 310). Die Reichsteilung und die Errichtung der
Goldenen Kälber in 1 Kön 12 "is so thoroughly anachronistic and propagan-

distic that we must suspect it of being a completc fabrication" (S. 314). Entsprechend
ist auch die Begründung der davidischen Dynastie in der Nathan-
Verheißung 2Sam 7 "a basic ideological construction that is no older than the
Dtr history" (S. 276). Wer nur einigermaßen die literarisch komplexe Gestalt
und die teilweise nachgewiesene bewegte Vorgeschichte solcher Texte kennt,
wird schwerlich bereit sein, die Stoffe und ihre Gestaltung in toto der Einbildungskraft
eines dtr Verfassers in exilisch-nachexilischer Zeit zuzuweisen.
Gänzlich offen bleibt für den Leser die Frage, ob und in welchem Umfang die dtr
Texte ein historisches Urteil überhaupt zulassen öder ob die Feststellung einer
durch und durch dtr Gestaltung auch zur völligen Verwerfung ihres Quellenwertes
fuhren muß. Man fragt, ob ein Text wie 2Kön 22 angemessen beurteilt
ist, wenn van Seters über ihn den Stab bricht mit der Bemerkung: "The episode
of the discovery of the law book is, at any rate, pure liction'" (S. 319).

So ist das große, streckenweise sehr anregende Buch letztlich unbefriedigend
. Der Literarhistoriker wird auf das eine dtr Konzept festgelegt
, das alte Überlieferungen schemalisch beeinllußt und umgestaltet
haben soll, der Historiker wird allein gelassen, weil die Maßstäbe
unerörtert bleiben, nach denen die Stoffe auch geschichtlich verständlich
und auswertbar gemacht werden können. „Dtr" ist die ständig
zitierte, aber nicht definierte Autorschaft, sei das eine Persönlichkeit
oder eine „Schule". So ist das Werk von van Seters, nicht zuletzt
seiner Pauschalurteile wegen, weder zum Verständnis alttestament-
licher Literatur noch zur Erforschung der Geschichte Israels eine
wirkliche Hilfe. Ob der Vergleich mit den griechischen Historiographien
, den van Seters wiederholt empfiehlt, der Interpretation altorientalischer
Quellen wirklich angemessen ist, kann nicht durch
programmatische Behauptungen erwiesen, sondern nur am Einzelfall
gezeigt und entschieden werden.

Bochum Siegfried Herrmann

Wagner, Siegfried, u. Herbert Breit; Die Menschenfreundlichkeit
Gottes. Alttestamentliche Predigten mit hermeneutischen Überlegungen
. Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1987. 128 S. 8". Lw.
M 9,80. (Lizenzausgabe bei Lang, Frankfurt/M.-Bcrn-New York,
1986. 224 S. = Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und
des antiken Judentums, 7)

Nachdem die im Neukirchener Verlag erschienene Reihe „Alttestamentliche
Predigten" schon seit längerer Zeit leider nicht mehr
weitergeführt wird, sind Alttestamentler, Praktische Theologen und
vor allem Pfarrer, die nach helfenden Beispielen für das Predigen alt-
testamentlicher Texte fragen, nur auf wenige Veröffentlichungen aus
diesem Bereich angewiesen. Da aber sowohl die Notwendigkeit wie
die Chance gegeben sind, den Gemeinden den Reichtum des Alten
Testaments auch durch die Predigt nahezubringen, wird man gerne
nach einem neuen Predigtband zu alttestamentlichen Texten greifen.
Um es gleich zu sagen: Man wird nicht enttäuscht.

Der Leipziger Alttestamentler, dessen Engagement vor allem in
Fragen der alttestamentlichen wie der gcsamtbiblischen Theologie
bekannt ist, legt hier eine Sammlung von 16 Predigten vor. Die Texte
sind der Predigttextordnung der EKD entnommen, die auch in den
Ev. Kirchen der DDR seit 1978 gültig ist, und sie entstammen dort
den Reihen 3 bis 6 sowie der Psalmen- und der Marginalreihe. Sie
reichen von der Urgeschichte (Gen 3; 4;.8,15ff) über Gen 22 und
2Kön 5 zu Psalm 90 und 119,172 und zu prophetischen Texten unterschiedlicher
Zeit und Art (Jes 9; 43,1; 49,7ff; 53; 55,1 -5; Jer 1; 9,22f;
Ez 37,1-14; Am 5,1-15). Texte aus der Weisheitsliteratur fehlen, was
kaum ein Zufall sein dürfte. Die Predigten wurden vorwiegend in
Leipziger Gemeinden gehalten, und sie lassen diese ihre Situation
sowie die im Kirchenjahr (Erntedank; Passion; Christvesper usw.) unschwer
erkennen. Die Predigt zu Ps 119,172 wurde vor Studenten zur
Eröffnung eines Studienjahres gehalten. Studenten waren auch die
Hörer der Predigt zu Jer 1,4-19 (Berufung zum Dienst, - wie kann das
aussehen?), und auch die zu Jer 9,22f verweist sprachlich wohl in
diesen Kontext.

Worin bestehen die Haupteigenarten dieser Predigten? Da ist zuerst
die erstaunlich direkte, persönliche wie gemeindenahe Sprache zu