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Ausgabe:

1987

Spalte:

169-172

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Rogge, Joachim u. Schille

Titel/Untertitel:

Gottfried [Hrsg.]: Theologische Versuche XV 1987

Rezensent:

Haufe, Günter

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987Nr. 3

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nen werden ihnen zugänglich gemacht. An die Stelle des hierarchischen
Betreuungssystems tritt langfristig das Prinzip der Selbstverantwortung
in Verbindung mit diakonischem Lastenausgleich. Weitreichende
, die ganze Gemeinde betreffende Entscheidungen werden
unter Beteiligung möglichst vielerGemeindeglieder getroffen.

4. Höhepunkte im Gemeindeleben wirken ermutigend und einladend.
Gerade kleine Gemeinden können Feste feiern und Zusammenkünfte
arrangieren, die sowohl stärkende Gemeinschaft erfahren lassen als
auch über die Gemeindegrenzen ausstrahlen. Zu den Höhepunkten
sollten evangelistische Aktionen gehören.

5. Ubergemeindliche und regionale Angebote ergänzen das örtliche
Gemeindeleben. Besonders Kinder- und Jugendarbeit, die Sammlung
junger Erwachsener und diakonische Aktivitäten geschehen auf regionaler
Ebene. Als Kriterium gilt die Möglichkeit, effektiv arbeitende
Gruppen zu bilden.

6- Das Problem der Erhaltung von Kirchen ist über das innerkirch-
üche Interesse hinaus von gesellschaftlicher Bedeutung und läßt sich
nur in einem guten Klima der Kooperation von Staat und Kirche
bewältigen. Es ist zu bedenken, daß einerseits verfallende Kirchen
eine negative Aussage machen, daß aber andererseits die Gemeinden
ihre Kräfte nicht im Kampf gegen den Gebäudeverfall aufreiben
dürfen.

'• Die Christen üben Kommunikation und Kooperation mit der kommunalen
Gemeinde. Indem sie gemeinsam mit anderen Bürgern Tür
das Wohl des Ortes handeln, bewahren sie sich selber vor der Selbstisolierung
und elitärer Überheblichkeit, die in der Diasporasituation
drohen. Erich Hertzsch hat seit vielen Jahren bewiesen, daß im
Dienst für die Mitmenschen ohne jeden Identitätsverlust die Zusammenarbeit
mit Andersdenkenden möglich und hilfreich ist.

8- Erich Hertzsch schrieb 1956, also vor der sogenannten empirischen
Wende der Praktischen Theologie: „Ehe wir fragen dürfen nach dem,
was in einer Gemeinde sein soll, müssen wir sehr nüchtern, sehr
geduldig, sehr sorgfältig nach dem forschen, was in der Gemeinde da
■st."17 Dabei hat Hertzsch „auch und gerade die klägliche Dorfgemeinde
mit ihrem untüchtigen Pfarrer" und den paar alten Frauen
'm Blick.18 Was da ist und wer da ist - damit beginnt Gemeindeaufbau.
Nur wer die ihm von Gott zugeteilten Menschen liebt und für sie
dankt, kann sinnvoll nach der neuen Gemeinde Ausschau halten.

9- Die Gemeinde wird, wie Erich Hertzsch nachdrücklich sagt, immer

in der „Knechtsgestalt" leben. Zum Lernprozeß der Diasporagemeinde
gehört, daß sie sich in der conformitas mit ihrem Herrn von
dem Selbstmitleid befreien läßt, das immer wieder aus dem heimlichen
Bedürfnis, ecclesia triumphans zu sein, aufbricht.
10. Die kleine, von allen Herrschaftsansprüchen freie Diasporagemeinde
kann ganz neu erfahren, daß Gottes Kraft sich in Schwachheit
vollendet (2Kor 12,9). Daraus entsteht die Gelassenheit, die in
der Perspektive der Hoffnung alle hektische Selbsterhaltung hinter
sich läßt und mit Luther sagen kann: „Wir sind es doch nicht, die da
die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht
gewesen. Unsere Nachkommen Werdens auch nicht sein; sondern der
ists gewesen, ists noch und wirds sein, der da sagt: ,Ich bin bei euch alle
Tage bis an der Welt Ende.'"'9

' In Auszügen veröffentlicht Chi 27,1974,208-212.

2 Schröer, Henning: Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung
. PTh 75,1986,422-437; Zitat S. 431.
' ThLZ 103. 1978,410.

' ZdZ2l, 1967,441-451; vgl. Brunner. Hans Heinrich: Kirche ohne Illusion
,21969.

' A.a.O.,S.444.

1 A.a.O.,S.449.

' A.a.O.,S.447.

' Chi 38, 1985,7-17.
Kirche als l.erngemcinschaft. A. Schönherr zum 70. Geb. Berlin 1981.
S. 195.

" Vgl. meine Arbeit „Die Gemeinde und ihr Amt". Berlin I973.S. 25-27.

" Vgl. Hilbert. Gerhard. Ecclesiola in ecclesia. Leipzig-Ertungen 1920. Die
Polemik gegen Sülze dort S. 52-54.

12 Vgl. Drechsel, Joachim: Das Gemeindeverständnis in der Deutschen
Gemeinschaftsbewegung. Gießen/Basel 1984.

" J H. Wichern, Sämtliche Werke, hg. von P. Meinhold, IS. 209.

14 Neubert, Ehrhard: Reproduktion von Religion in der DDR-Gesellschaft
. Ein Beitrag zum Problem der sozialisierenden Gruppen und ihrer
Zuordnung zu den Kirchen, „beitrage A 6" der Theolog. Studienabteilung
, März 1986.

" Vgl. Petzold, Emst: Vom Segen des Teilens. In: Th. Schober [Hg.]: Haushalterschaft
als Bewährung christlichen Glaubens. Stuttgart 1981, S. 41-49.
16 Meinhold, IS. 165.

" Hertzsch, Erich: Die Wirklichkeit der Kirche. Halle 1956, S. 10.

" A.a.O.,S. 14.

" WA 50.476,31-35.

Allgemeines, Festschriften

Ro8ge. Joachim, u. Gottfried Schille [Hg.]: Theologische Versuche,
XV. Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1985. 195S.gr. 8*.Kart. M 15.-.

Der neue Band der „Theologischen Versuche" bringt 13 Beiträge
v°n sehr disparater Thematik, die jedoch - aus dem Blickwinkel der
Hgg. (Vorwort!) - hintergründig dies verbindet, daß sie es alle auf je
eigene Weise mit dem „Problem der Mitte" zu tun haben. Gleich der
erste Beitrag zeigt das sehr deutlich. W. Vogler stellt sich der theologisch
immer wieder aktuellen Frage nach „Dämonen und Exorzismen
'm Neuen Testament" (9-20). Anhand der Gerasener-Erzählung Mk
5.1-20 macht er exemplarisch klar, daß die zeitbedingten mythologischen
Vorstellungen „ein bestimmter weltbildhafter Ausdruck Tür
die existentielle Erfahrung der Macht des Bösen sind, die dort ihr Ende
findet, wo Christus sich ihr in den Weg stellt" (16). Als Interprcta-
''onshilfe für dieses Verständnis verweist er auf Rom 7,15-20.25a;
8.2. - w. Bindemann fragt in seiner anregenden Studie „Das Mahl
des Königs" nach den „sozialen Dimensionen" der Redaktion von Mt
22.1-14 (21-29). In 22,1-10 sieht er ein Dokument judenchristlicher
Gruppen, die „eine Theologie der Mission" entwickelten und selbst
für die Heidenmission offen waren. Die Verse 11-14 interpretiert er
dagegen als ursprüngliche Exkommunikation eines Gemeindegliedes
durch Diakone, da es nicht der kultischen Reinheitsforderung einer

rigoristischen judenchristlichen Gemeindeordnung entsprach. Die
Mt-Redaktion stellt eine derart radikale Ekklesiologie unter den
eschatologischen Vorbehalt, indem sie den „Bösen" nicht kultisch,
sondern ethisch qualifiziert und das Gericht über ihn Sache der Zukunft
und des Weltenrichters sein läßt. - G. Müller verfolgt Herkunft
und Geschichte des Wortes „Handreichung" (31-42). Deutlich wird,
daß es zunächst eine wichtige Funktion in der Diktion spätmittelalterlicher
Ablaßbriefe hat, ehe Luther es in seiner Bibelübersetzung im
allgemeinen Sinn einer materiellen Hilfeleistung verwendet. Zum
Kennwort einer erbaulichen Literaturgattung wird es im 18. Jh., um
schließlich in unserem Jahrhundert im theologischen und kirchlichen
, aber auch im pädagogischen Schrifttum (BRD) eine ausgesprochen
breite Wirksamkeit zu finden. - M. Gabriel dokumentiert und
analysiert die spontane Laien-Union von Halle, in deren Rahmen es
am 28. Febr. 1714 unter dem Einfluß charismatischer Wanderpropheten
aus den Cevennen zur überraschenden Abendmahlsfeier von
31 Lutheranern und Reformierten unter Leitung eines Nichtordinier-
ten kam (43-52). A. H. Francke und die Behördenkirche reagierten
ablehnend. Näher beleuchtet wird die Amtsenthebung des Hallenser
Dompredigers Knauth, der sich für die charismatische Gruppe einsetzte
. - Unter dem Titel „Theologie an der Wende zur Romantik"
untersucht J. Wiebering die Bedeutung der Begegnung Schleiermachers
mit Friedrich Schlegel 1797-1800 (53-64). Greifbar wird
diese Bedeutung vor allem in Schlciermachers Reden „Über die Rcli-