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Ausgabe:

1987

Spalte:

138-139

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kelly, James J.

Titel/Untertitel:

Baron Friedrich von Hügel's philosophy of religion 1987

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 2

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in Raum und Zeit gegeben ist" (189). In seinem Buch „Der Gott der
Philosophen und die Wissenschaft der Neuzeit", Stuttgart 1966,
schrieb er wörtlich dasselbe, aber am Schluß seines Aufsatzes
korrigierte er in einer Anmerkung auf S. 67 sich selbst: ,,Die Interpretation
von B 770 auf S. 61 enthält eine unzulässige Verkürzung des
Gedankens. Das ,in uns denkende Subject' ist das transzendentale
Subjekt; Kant nennt es B 429 ,das Wesen selbst'. Das Verhältnis von
Gott und dem Subjekt der Selbsterkenntnis der Vernunft wird B 770
offengelassen. Es ergibt sich aus einem Vergleich des Abschnittes .Von
dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrund des
letzten Zwecks der reinen Vernunft'."

Die Gewißheit des göttlichen Seins ist in der theoretischen
Philosophie noch nicht zu erreichen, sondern sie ist erst in der
praktischen durch das Sittengesetz gegeben. Die praktische Vernunft
ist dabei nicht von der theoretischen getrennt, sondern hat den Primat
über sie. Die Autonomie des sittlichen Subjekts ist der Grund dafür,
daß der Verstand seine Gesetze der Natur vorschreiben kann. Die
regulativen Prinzipien der Erkenntnis werden also den konstitutiven
nicht nachträglich hinzugefügt, sondern gehen ihnen voran. Indem
der Mensch als sittliches Subjekt sich selbst bestimmt, setzt er
Postulate. auf die nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Denken
ausgerichtet ist. „Das Postulat bezeichnet also nicht, im Gegensatz zur
Wirklichkeit, das, was nicht ist, sondern es bezeichnet im Gegenteil
das, was wahrhaft ist, nämlich als Zweck an sich selbst ist, im Gegensatz
zur bloßen Erscheinung. Aus der Erkenntnis, daß der
Kategorische Imperativ die Wesensbestimmung des Willens enthält,
folgt unmittelbar, daß wir die transzendentale Ontologie in Kants
Postulatenlehre zu suchen haben." (526) Die Gewißheit, daß es Gott,
Freiheit und die jenseits der Vergänglichkeit stehende Vernunft des
Menschen gibt, macht eine konkrete Erkenntnis dieser Welt erst
möglich.

Diese transzendentale Ontologie Kants muß streng von der Ontologie
der Alten unterschieden werden. Die transzendentale Ontologie
stellt uns kein unwandelbares, immer gegenwärtiges Sein vor, sondern
ein Ziel. „Der empirische Gebrauch der Vernunft kann sich, wie Kant
B 691 sagt, den Ideen nur gleichsam asymptotisch nähern, ohne sie
jemals zu erreichen . . . Und eben deshalb sind sie bloße Ideen. Die
Wahrheit ist eine unendliche Aufgabe der Vernunft. Sie erlebt niemals
ihre Epiphanie." (601)

Es gibt bei Picht einen doppelten Freiheitsbegriff: Das transzendentale
Ich hat seine Freiheit darin, daß es unabhängig von allen
empirischen Ursachen dem Vernunftgesetz folgt; das empirische Ich
aber hat seine Freiheit darin, daß es jene Freiheit des transzendentalen
Ich erstreben kann. Darum wird einem endlichen Vernunftwesen das
Vernunftgesetz in der Form eines Imperatives vorgestellt. „Die Freiheit
ist die transzendentale Seinsverfassung eines Wesens, dem sein
Sein nicht gegeben sondern aufgegeben ist." (602) Im kategorischen
Imperativ sind wir als endliche Vernunftwesen uns sowohl der
transzendentalen als auch der empirischen Freiheit gewiß. „Die
transzendentale und die empirische Realität des Willens und damit
der Freiheit berechtigt uns dazu, uns als Glieder einer intelligiblcn
Welt zu denken. Dem verdanken wir die Erkenntnis der Unterscheidung
zwischen Erscheinung und Ding an sich. Dem verdanken wir,
daß wir aufgrund unserer Freiheit das Wesen der Wahrheit als eine
unendliche Aufgabe zu denken vermögen. Aber wir vermögen die
intelligible Welt, als deren Glieder wir uns wissen, nicht zu erkennen,
und gerade dadurch, daß wir sie nicht zu erkennen vermögen, sind wir
das, was wir sein sollen, nämlich frei." (6040 Gesetzt den Fall, wir
würden das Ziel jemals erreichen und die Wahrheit haben, so wäre
nach Picht die Offenheit der Existenz und damit ihre Freiheit verlorengegangen
. Wäre jemals die Einheit von Vernunft und Sein wirklich
gegeben und nicht nur aufgegeben, ..so wäre damit die Freiheit
vernichtet" (602). Es wird deutlich, daß Picht an dieser Stelle nicht
mehr Kanl gefolgt ist. Bei Kant eignet dem Urbild der aller-
genugsamsten Intelligenz Heiligkeit und vollkommene Freiheit,
wogegen des Menschen Freiheit durch die Neigungen beeinträchtigt

ist. Bei Kant ist der Mensch wirklich olfen für Höheres, bei Picht
dagegen wird der Mensch als endliches Vernunftwesen festgeschrieben
, dem nur die Offenheit für Höheres als bleibendes Existential
anhängt.

Die Größe dieser Kant-Interpretation von Picht liegt darin, daß sie
konsequent den Primat der Vernunft herausgearbeitet hat. Ihre
Grenze liegt darin, daß sie die Vernunft nicht zur Verwirklichung
ihrer selbst kommen lassen will. Ohne Zweifel ist dieses Buch von
Picht ein wichtiger Entwurf, der in allen folgenden Darstellungen der
Philosophie Kants beachtet werden muß.

Neinstedt HansSchleilf

1 Friedrich Paulsen. Immanuel Kant. Berlin 1898.

1 Albert Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kant's von der Kritik der
reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft.
Freiburg i.B., Leipzig. Tübingen 1899

1 Josef Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb
derCirenzen derblossen Vernunft". Hamburg 1938.

' Heinz Heimsoeth, Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen
Idealismus. In: Kantstudien XXIX, Heft 1/2,S. 121 ff.Charlottenburg 1924.

' Martin Heidegger. Kant und das Problem der Metaphysik. Bonn 1929.

Kelly. James J.: Baron Friedrich von IlügtTs Philosophy of Religion.

Leuven: University Press; Leuven: Peeters 1983. 232 S. gr. 8' =
Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, LXII.
Kart, bfr 1.500.-.

Anliegen der Arbeit ist die Rekonstruktion der Religionsphilosophie
Friedrich von Hügels (1852-1925), vornehmlich auf der
Grundlage des Werks "The Mystical Element of Religion as Studied
in Saint Catherine of Genoa and her Friends". 2 Bde. London/New
York 1908. Hervorgegangen ist sie aus einer theologischen Dissertation
von 1978 an der Katholischen Universität Louvain/Leuven.
Sie ist ein weiteres Indiz fürdas kontinuierlich wachsende Interesse an
von Hügel wie am Modernismus, dessen Krise zu Beginn des 20. Jh.
sich zunächst auch nachteilig für die Wirkungsgeschichte des
sogenannten Laienbischofs der Modernisten auswirkte.

Vf. entwickelt die Religionsphilosophie von Hügels aus den Transformationen
, welche die Erfahrungstheorie des Barons durchlaufen
hat. Die biographisch-intellektualgeschichtliche Vorfeldskizze (Teil I)
zeigt die Ablösung des ursprünglichen Neukantianismus durch eine
von James Ward inspirierte, strikt empirische Konzeption von
experience, die schließlich in die Exposition des Transzendenzüberschusses
aller Erfahrung einmündet („mystisches Element"). Vf.
datiert die entscheidende Zäsur, welche in dem Essay "Experience
and Transcendence" (April 1906) ihren Niederschlag fand, auf
Oktober 1905 und macht in diesem Zusammenhang auf die Einflüsse
von William James, Henri Bergson und Henry Jones aufmerksam.

Der Hauptteil der Studie (Teil II) ist mit der Entfaltung der viel-
gcstaltig-integrativcn Erfahrungstheorie Friedrich von Hügels befaßt:
experience als "sensational, emotional, cognitional. volitional in
which reality is immediatly given" (Chapt. 1-3), experience in
religiöser Dimension (Chapt. 4-5). Die Ausführungen über"Personal
Religion" (Chapt. 6) verstehen sich als Sammcl- und Kulminationspunkt
der zuvor entwickelten Aspekte. Der Vf. meint, analog der
komplex-simultanen Wahrnehmung von empirischer Realität gelte
bei von Hügel auch für die Erfahrung der "Divine Reality" der
Gesichtspunkt der Multiplizität (bei gleichzeitigem Festhalten an der
Einheit von Realität). Religion wird zu einem Phänomen, das in
dynamisch-organischer Vielseitigkeit und Ganzheit gesehen wird:
historisch und institutionell, kritisch und spekulativ, mystisch und
ethisch. Grundlegend seien die drei Wahrnehmungsdimensionen von
Religion: mystisch, intellektuell, institutionell. In diesen Bestimmungen
sieht der Vf. eine Beeinflussung durch die Lehre vom dreifachen
Amt Christi in der Fassung John H. Newmans. Die dreidimensionale
Wahrnchmungscbcnc verbindet sich mit einem dreistufigen F^ntwick-