Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1987

Spalte:

103-105

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bonnard, Pierre

Titel/Untertitel:

Les epîtres Johanniques 1987

Rezensent:

Wolff, Christian

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

103

Theologische Literaturzeitung 1 12. Jahrgang 1987 Nr. 2

104

„den Hymnen" der Kindheitsgeschichte nicht von vornherein
Probleme mit sich bringt, insofern er die traditionsgeschichtüchen
Differenzen zwischen Magnificat (vgl. nur die Bedeutung der Anklänge
an lSam 2,1-10!) und Benedictus und die wieder anders
gelagerte Problematik beim Nunc dimittis nur ungenügend zur Geltung
bringt. Dennoch ist das Buch hilfreich und vermittelt dem Leser
eine ausgewogene Einführung in die mit den Texten verbundenen
Fragen und Probleme.

Erfurt Claus-Peter März

Bonnard, Pierre: Les epitres Johanniques. Geneve: Labor et Fides
1983. 146 S. gr. 8' = Commentaire du Nouveau Testament,
deuxieme serie, XIIIc.

Im «Commentaire du Nouveau Testament» hat P. Bonnard bereits
das Matthäusevangelium, den Galaterbrief und den Philipperbrief
ausgelegt. Mit seinem neuesten Beitrag zu dieser Serie weist er sich als
Kenner auch der vielfaltigen Probleme johanneischer Theologie
aus.

Nach B. stammen alle drei Johannesbriefe von jenem „Alten", der
sich in 2Joh I und 3Joh 1 nennt. Inhaltliche Unterschiede erklären
sich daraus, daß der Vf. an drei verschiedene Gemeinden schreibt, die
aber von derselben Gefahr, nur in jeweils anderem Ausmaß, bedroht
sind. Den Presbyter identifiziert B. mit dem letzten Redaktor des
Vierten Evangeliums. Die bekämpften Häretiker werden mit der
ältesten Stufe johanneischer Theologie, wie sie sich in der Semeia-
Quelle widerspiegeln soll, in Verbindung gebracht; dort gelte Jesus
als „göttlicher Mensch", dessen himmlisches Leben sich der Mensch
durch die „Schau" Jesu in den Wundererzählungen aneignen könne.
Die gnostisierenden Gegner vertraten demnach keine Neuerung -
obwohl der „Alte" es so darstellt (!)-, sondern sie beriefen sich auf die
älteste johanneische Verkündigung, wenn sie zwar nicht die Inkarnation
Jesu, jedoch sein Leiden und Sterben ablehnten. Das zwischen
dem Presbyter und den Gegnern umstrittene Problem war: Wo findet
sich der wahre johanneische Glaube und wer sind seine Garanten?
Der Briefschreiber antwortet darauf mit dem Hinweis auf die den
Adressaten bekannte Lehre - die „Wahrheit" im Unterschied zur
„Lüge" der Häretiker -, die von solchen Menschen vermittelt wird,
die autorisiert sind durch ihren eigenen, anerkannten Gehorsam
gegenüber der Lehre. Die häufige Anrede „meine Kinder" deutet
darauf hin, daß die Adressaten vom Presbyter die christliche Lehre
erhalten haben; als ihr geistlicher Vater ist er unbedingte Autorität. In
seinen brieflichen Ausführungen knüpft er des öfteren an aus der
Unterweisung bekannte Traditionen an (aber auch - abweisend - an
gegnerische Aussagen); hingegen ist weder an eine Quellenbenutzung
noch an spätere Glossen zu denken.

Charakteristikum der Kommentierung ist, daß B. die drei Briefe
durchweg polemisch versteht. Für den 1 Joh geht diese Intention nicht
nur aus 1,1-4 hervor, wo die vom Vf. vertretene Lehre als dem
Ursprung der johanneischen Lehre entsprechend behauptet wird, und
aus offenkundig polemischen Abschnitten wie 2,18-27; 4,1-6;
5,6-12, sondern auch aus allen anderen Passagen. 1,5-10 wendet sich
gegen die sich selbst genügende religiöse Innerlichkeit der Gegner; das
Kreuz Christi wird verteidigt gegen einen häretischen «triomphalisme
hamartologique», durch den Pneuma-Christus gereinigt zu sein.
2,1-6 betont angesichts eines gnostisierenden Individualismus' die
universale Bedeutung des Heilswerks Christi (V. 2) und attackiert ein
falsches Vollkommenheitsbewußtsein der Gegner, wie es sich im
Mißbrauch des Redens von der „Erkenntnis Gottes", der „Liebe
Gottes" und dem „Sein in Gott" zeigt; objektives Kriterium dafür ist
allein der Gehorsam gegenüber Gottes Geboten, d. h. die Praktizierung
der (innergemeindlich verstandenen) Bruderliebe. In 2,7-1 1
stellt der Vf. den häretischen Neuerungen die ursprüngliche johanneische
Unterweisung entgegen. DerSieg über den Bösen und über die
Welt (2,12-17) ist der Sieg des johanneischen Glaubens über die
Häresie. Das gegnerische Verständnis der durch Lehre vermittelten

Zeugung aus Gott wird widerlegt durch das Argument: Nur wer die
Gerechtigkeit - die Treue zum durch Jesus offenbarten Gesetz Gottes
- übt, ist aus Gott gezeugt, hat also die authentische christliche Lehre
empfangen (2,28-3,10). In 3,11-17 wird der Haß der Welt auf das
Verhalten der Häretiker bezogen (vgl. 4,5; 5,4), die auf Grund ihres
Elitebewußtseins die anderen Christen verachteten. Die wahrhaft
johanneischen Christen aber unterscheiden sich von den Gegnern
durch das beruhigte Herz (3,18-24); sie kennen keine Unsicherheit,
weil sie sich durch die Praktizierung der Bruderliebe mit Gott
verbunden wissen. Dem häretischen, visionär-ekstatischen Verständnis
vollkommener Gottesliebe wird in 4,7-13 die Bruderliebe entgegengestellt
(ähnlich 4,14-21). Sieg über die Welt gibt es nicht durch
gnostische Weltflucht, sonderrf durch den authentischen, Bruderliebe
übenden Glauben an den historischen Menschen-Jesus als den Sohn
Gottes (5,1-5). Schließlich ist auch der vom Vf. stammende Epilog
(5,13-21) stark polemisch: Die Bedeutung des „Namens" (= Jesus)
wird betont, die Fürbitte für die Häretiker wird abgelehnt, und vor den
Häresien wird als „Götzen" gewarnt, weil in ihnen heidnisches Wesen
wirksam ist.

Im 2Joh, der sich nach B. mit derselben Entstellung johanneischer
Theologie - freilich in einer anderen Gemeinde - auseinandersetzt,
soll mit der Charakterisierung der Empfängergemeinde als „Herrin"
(V. 1) vermutlich den Häretikern die Erwählung bestritten werden,
hielten sie sich doch für fortgeschrittene Christen (V. 9). Ihre „bösen
Werke" (V. 11) umfassen ein Lehren und Verhalten, das die ganze
johanneische Wahrheit verneint. Wirkliches Leben gibt es dagegen
nur in der Treue zur Lehre des Presbyters, zu seiner Wahrheit
(V. 2).

Im Hintergrund des im 3Joh verhandelten Konfliktes steht nach B.
ebenfalls der Streit um die authentische johanneische Lehre. Von der
„Wahrheit" ist auch hier stets polemisch die Rede. Der Adressat
Gajus gilt als Führer einer bedrängten Minderheit in der Gemeinde,
während Diotrephes Vertreter jener Häresie ist, die der Presbyter
ebenso wie Gajus und die Seinen bekämpfen. Diese - bereits von
W. Bauer vertretene Sicht ergibt sich, wenn man V. 11 mit V. 9f verbindet
: Gajus soll nicht Diotrephes nachahmen, der die „Brüder"
nicht aufnimmt (V. 10b); durch das Tun des Guten, nämlich die Liebe
zu den „Brüdern", wird das Sein aus Gott erwiesen, nicht aber durch
die Berufung auf Visionen, wie das bei den Häretikern (und bei Diotrephes
) der Fall ist. Die in V. 3-8 erwähnten „Brüder" versteht B.
ausdrücklich nicht als dem Presbyter unterstehende johanneische
Wandermissionare, sondern als aus nicht-johanneischen Gemeinden
kommende „Visitatoren", die die johanneischen Gemeinden in den
Schoß eines orthodoxen Christentums aufnehmen wollen.

Die von B. vorgetragene konsequent polemische Deutung der drei
Johannesbriefe überzeugt; denn sie beruht auf einer den Wortlaut bis
ins Detail erschließenden Exegese, die zugleich innere Zusammenhänge
zwischen den oft unverbunden erscheinenden Aussagen aufzeigt
. Fraglich ist jedoch die vermutete Beziehung der Gegner zur
Christologie der Semeia-Quelle. Ganz abgesehen von dem Problem,
ob diese Quelle tatsächlich existierte, bleibt B. seiner Hypothese doch
wohl selbst nicht treu, wenn er aus 2Joh 9 für die Gegner ein Fortschrittsbewußtsein
ermittelt; wie paßt das zu ihrer Verankerung im
vermeintlichen Anfang der johanneischen Tradition? - Das Verständnis
des im 3Joh erörterten Konfliktes ist m. E. sehr erwägenswert. Die
Charakterisierung der V. 3-8 genannten Brüder überzeugt freilich
nicht. Daß die „Brüder" missionarisch tätig waren, geht aus V. 7b
hervor. Bei B.s Deutung-sie nahmen nichts von den Heiden, weil sie
sich nicht an sie wandten, sondern eine andere Aufgabe zu erfüllen
hatten - wäre diese Notiz überfl üssig.

Neben den bereits vorliegenden Kommentaren zu den Johannesbriefen
wird die Auslegung B.s, die sowohl die ältere Auslegungsgeschichte
(besonders Augustin und Calvin) als auch die neuesten
Forschungen zur johanneischen Theologie intensiv berücksichtigt,
durch ihre eigenständige Konzeption und durch die bewundernswerte
Prägnanz der Darstellung einen wichtigen Platz einnehmen.