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Ausgabe:

1987

Spalte:

908-909

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Gottfried

Titel/Untertitel:

Lutherische Freikirche in Sachsen 1987

Rezensent:

Grote, Heiner

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Seite 1, Seite 2

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907

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 12

908

irgendein Koordinatensystem einordnen. Man schätzt ihn als Literaten
, als Philologen, aber durchaus auch als Exegeten und Interpreten
der Bibel - nur hat man ihm bisher als Schriftausleger keine eigene
Hermeneutik zugestanden.

Die hier kurz anzuzeigende Erlanger Habil.-Schrift betritt daher insofern
Neuland, als sie versucht, den ,anderen' Erasmus als Ausleger
der Schrift hinter dem Humanisten und Literaten aufzuspüren. Sie ist
ein erster Schritt, ihm seinen Platz in der Geschichte der Hermeneutik
zuzuweisen; den Theologen hinter dem großen Humanisten hervortreten
zu lassen, da man bisher das sehr umfangreiche Werk des
Erasmus zur Schriftauslegung nicht annähernd zur Kenntnis genommen
, geschweige denn einer kritischen Würdigung unterzogen
hat.

Bisherige Urteile basierten auf dem „Enchiridion", allenfalls noch
auf den Einleitungsschriften zum NT. Diese Negierung ist um so erstaunlicher
, als Erasmus gerade die Schrift und ihre Auslegung in das
Zentrum seiner Bemühungen stellte, da er von hier aus eine Unterstützung
der von ihm geforderten Reform der christlichen Gesellschaft
erwartete. Krüger untersucht nun als ersten Schritt die Evangelienauslegung
des Erasmus, besonders auch die von Mt 5-7. Die Paraphrasen
zu den vier Evangelien sind in der relativ kurzen Zeit von
Dezember I 521 bis Dezember i 523 entstanden, als Erasmus in Basel
eine ruhigere Zeit hatte. Sie sind bisher weithin unbeachtet geblieben,
auch und vor allem in den großen Erasmus-Untersuchungen der
letzten zwanzig Jahre. Eine Paraphrase wiederholt den vorgelegten
Text mit eigenen Worten - „Erasmus hat im vollen Bewußtsein dieser
Beschränkung die Paraphrase als Interpretationsform gewählt, um auf
diese Weise möglichst nahe an der philosophia Christi bleiben zu
können und um dem theologischen Streit zu entgehen" (S. 7). Krüger
unternimmt hier einen ersten Schritt und kommt dabei zu ersten Ergebnissen
, die jedoch sicher später nach weiteren zu erwartenden
Untersuchungen zur Hermeneutik des Erasmus geprüft werden
müssen.

Erasmus wußte früh, daß eine Erneuerung der Theologie nur von
der Schrift her möglich war. „Die neuplatonisch-origenistische Onto-
logie liefert ihm den Schlüssel zum Seins- und Wirklichkeitsverständnis
" (S. 239).

Hinzu kommt der vierfache Schriftsinn, der die Hermeneutik des
späten Mittelalters ja weithin bestimmt hat. Erasmus sah hier, daß
eine derartige Interpretation einer lebendigen Auslegung im Wege
steht und knüpfte bewußt an die Vätertradition eines doppelten
Schriftsinnes an, was bedeutet, daß der Literalsinn als das Fundament
eines geistlichen Sinnes wieder seine ursprüngliche Bedeutung erhält.
Es ist der Untersuchung schwer geworden zu unterscheiden, ob Erasmus
„von der allegorischen Struktur des Wortes der Schrift im allgemeinen
oder von der Allegorie im besonderen als einer literarischen
Gattung" (S. 242) spricht, da er keine scharfen Unterscheidungen vornimmt
. Erstaunlich ist. wie sparsam in der Regel Erasmus die Allego-
rese im speziellen Sinn anwendet. So sind z. B. die Reden und Gleichnisse
Jesu fast ganz frei davon, denn „nichts ist einfacher als die Wahrheit
, und weil Christus die Wahrheit ist, ist nichts einfacher als er
selbst" (ib.). Daneben bedient sich Erasmus u. a. noch der Tropo-
logese, die er, weil eng an den Literalsinn gebunden, besonders hoch
einschätzt. Krüger weist eindrucksvoll nach, daß Erasmus die allegorische
Auslegung in erster Linie nutzt, um die ekklesiologische
Dimension herauszufiltern.

Krüger faßt das Ergebnis seiner Untersuchung selbst zusammen:
„Die Interpretation der Evangelien durch Erasmus ist der groß angelegte
Versuch, die christliche Offenbarung in der Geschichte im
Lichte eines philosophischen Seinsverständnisses auszulegen. Indem
er die evangelische Geschichte aufnimmt und nacherzählt, deutet er
sie im Kontext seines ontologischen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses
als den Ort des Transitus des göttlichen Logos auf seinem Weg
über Inkarnation und Inverbation als Akkomodation zur Rückführung
der sensiblen Welt auf ihren Ursprung in der intelligiblen.
Weil für ihn die Geschichte metaphorischen Charakter hat, weist sie

über sich selbst hinaus und will im umfassenden Sinn .allegorisch' verstanden
werden" (S. 246).

Berlin Hans-Ulrich Delius

Kirchengeschichte: Neuzeit

Herrmann, Gottfried: Lutherische Freikirche in Sachsen. Geschichte
und Gegenwart einer lutherischen Bekenntniskirche. Berlin: Evang.
Verlagsanstalt (Alleinauslieferung: Concordia-Buchhandlung
Zwickau) 1986. 600 S. 8 M 38,-.

Es handelt sich hier um die erste größere Untersuchung zu den
lutherischen Freikirchen in den deutschen Staaten überhaupt. Ja, wer
genau hinsieht, findet einen Abriß zur Geschichte des lutherischen
Freikirchentums insgesamt - natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit
. Der Vf. greift weit aus und umfaßt so zwei Jhh. Die Einzeldarstellung
sodann setzt etwa mit dem Jahre 1869 ein. Sie führt
heran bis ins Jahr der Vorlage dieser Untersuchung als Dissertation A
bei der Fakultät für Theologie der Karl-Marx-Universität Leipzig
1983. Ein Nachtrag gelangt sogar bis zum Mai 1984. Wie schon der
Titel angibt, bildet (das Königreich) Sachsen die engere territoriale
Begrenzung. Aber die Bezüge erstrecken sich auch auf mehrere Provinzen
Preußens, die deutschen Mittelstaaten, auf Bayern, Württemberg
und Baden, die ehemaligen sog. Reichslande Elsaß und Lothringen sowie
die Nachfolgestaaten von 1919 und 1949 allemal. Ferner gibt es
Verbindungen nach Missouri und weiteren Bundesstaaten der USA
sowie nach Indien, Dänemark und Polen.

Was hält diese Fülle beieinander? Genau das, was auch schon die
geschehene Geschichte beisammcnhielt: nämlich vielfältiger persönlicher
Umgang, enge menschliche Beziehungen auch über große Entfernungen
hinweg sowie als A und O ein intensives gemeinsames
Nachdenken über Glaubensfragen, das unter immer wieder sich ändernden
Konstellationen erfolgt und gelegentlich in bloße Rechthaberei
und in ein Fremdeln rundum abgleitet, aber doch in jedem
Fall Erlebnisse des Miteinander erbringt (modisch chiffriert: Kommunikation
). Ein Hauptkennzeichen der Untersuchung Herrmanns ist
ihr Detailreichtum. Vieles würde wohl einem unaufhebbaren Vergessen
anheimfallen, wenn der Vf. es nicht in diese Darstellung eingebaut
hätte. In familiärer Tradition sind ihm etliche Primär- und Sekundär-
qucllen zugekommen. Seine eigene und eigentliche Leistung besteht
darin, daß er all die Details sozusagen bändigt und zu einem anschaulichen
Mosaik zusammenfügt.

Das sächsische Dissidentengesetz vom 20. Juni 1870 war das erste
aller einschlägigen Gesetze in deutschen Staaten. Obwohl es später
mehr als ein Kirchenaustrittsgesetz bekannt wurde und wirkte, war es
die Absicht des Gesetzgebers gewesen, dem tatsächlichen Vorhandensein
von Dissidenten zu entsprechen. Ein Teil jener, die sich Gehör zu
schaffen versuchten, waren die späteren Freilutheraner. 'Das Aufkommen
von religiösen Alternativsozietätcn ist - nach Vorläufern im
18. Jh. - ein im 19. Jh. allenthalben beobachtbares Phänomen. Es
wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen, wenn nicht auch die
Stammlande der lutherischen Reformation freikirchlichc Gruppen
und Gemeinden hervorgebracht hätten. Tatsächlich sind sie - weitgehend
unabhängig voneinander - an mehreren Orten nahezu gleichzeitig
entstanden.

An der Wiege aller Freikirchen stehen zwei Fragen: die nach dem
Wesen des Christentums (in einem vor-Harnack'schen Sinne) und die
nach dem Wesen der Welt. Oft hieß dann die Antwort, daß eine neue
Kirche in einer neuen Welt zu gestalten sei. Dies jedenfalls im Sinne
einer Idee, zuweilen aber auch in der sehr realen Weise eines Wechselspiels
zwischen Europa als der Alten Welt und Amerika als der Neuen
Welt. Die sich separierenden Lutheraner suchten die neue Kirche als
die wahre alte der lutherischen Orthodoxie und erwiesen alter wie
neuer Welt ihre Loyalität, wenn diese ihr nur nicht in den inneren Bereich
von Glaube und Gemeinde hineinredete. Der Nationalismus